Die wahre Gnade Gottes

1. Petrus 5,12

«Ich habe euch mit wenigem geschrieben, euch ermahnend und bezeugend, dass dies die wahre Gnade Gottes ist, in der ihr stehen sollt» (1. Pet 5,12).

Petrus schreibt in seinem ersten Brief verschiedentlich von Gottes Gnade. In Kapitel 4,10 redet er von der «mannigfaltigen Gnade Gottes», in Kapitel 5,10 vom «Gott aller Gnade» und in der oben angeführten Stelle von der «wahren Gnade Gottes». Nie verwendet der Heilige Geist einen Ausdruck ohne eine bestimmte Absicht, und darum ist es gut zu beachten, wie die Schrift uns die Gnade vorstellt.

Gott offenbarte seine Gnade zum ersten Mal nach dem Fall des Menschen. Er hatte Adam verboten, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen und hatte gesagt: «An dem Tag, da du davon isst, musst du sterben.» Gleichwohl ass der Mensch von diesem Baum, trotz des Verbots – und die Gnade liess ihn weiterleben, bis er ein Alter von neunhundertdreissig Jahren erreicht hatte.

Jahrhunderte später beschäftigte sich Gott mit einem Volk, das Er abgesondert hatte. Er erlöste es aus Ägypten, um es in ein Land zu führen, das von Milch und Honig floss. Diesem Volk gab Er sein Gesetz, aber schon bevor es dieses Gesetz in den Händen hatte, übertrat es bereits das erste Gebot. Es hatte ein goldenes Kalb gemacht und sich vor ihm niedergebeugt. Da sprach Gott zu Mose: «Lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte!» (2. Mo 32,10). Aber Mose trat fürbittend für das schuldige Israel ein und wandte den Zorn ab. Zweifellos eine wunderbare Gnade Gottes, in der Er Schuldige zu ertragen vermag, doch zeigt Er auch an, dass, wer fortan Böses tut, die Folgen tragen müsse, sogar bis zum vierten Geschlecht (2. Mo 33,19; 34,7).

Dann erwies sich Gottes Gnade auch gegenüber dem Priestertum unter dem abgesonderten Volk! Am Tag selbst oder auf jeden Fall kurz nach der Weihe der Priester, wurde das Priestertum durch sie selbst verdorben: Zwei Söhne Aarons, Nadab und Abihu, brachten fremdes Feuer vor das Angesicht des Herrn und starben wegen ihres Ungehorsams. Durch Gottes Gnade jedoch wurde das Priestertum aufrecht erhalten.

Viele Jahrhunderte später, in Davids Tagen, strahlte die Gnade Gottes aufs Neue in Herrlichkeit hervor. Dieser Mann nach Gottes Herzen hatte sich an Urija und Bathseba versündigt. Urija liess er töten und Bathseba raubte er sich. Zwei Sünden, auf die die Todesstrafe hätte folgen müssen. Der Prophet kam zu dem schuldigen König und brachte den Mann auf dem Richterstuhl durch das Gleichnis vom Lamm des armen Mannes dazu, über sich selbst das Todesurteil auszusprechen. David erkannte und bekannte seine Sünde (2. Sam 12,13), und Nathan durfte ihm im Auftrag Gottes sagen: «So hat auch der HERR deine Sünde weggetan, du wirst nicht sterben.» Doch Gottes Regierungswege gegenüber David zeigten sich darin, dass fortan das Schwert nicht mehr von seinem Haus wich, weil David den Herrn, seinen Gott, «verachtet» hatte.

Und wiederum einige hundert Jahre später bewies Gott seine Gnade gegenüber dem schuldigen Israel, das in die Gefangenschaft nach Babel geführt worden war. Nach siebzig Jahren durfte ein Überrest in das Land der Väter zurückkehren. Aber unter welchen Umständen? Der Tempel war verwüstet und der HERR hatte seinen Thron in Jerusalem verlassen (Hes 10), um die Regierung für eine Zeit in die Hände der Nationen zu geben.

Wir könnten noch weitere Beispiele von Gottes Gnadenerweisungen nennen, im Leben eines Salomo, eines Hiskia und eines Josia, bei denen Gott das angekündigte Gericht nicht während ihres Lebens kommen liess. Aber wir wollen nach den angeführten Fällen lieber zum Neuen Testament übergehen, wo die wahre Gnade Gottes völlig entfaltet wird.

Lasst uns aber zunächst auf die Frage, was die Gnade in unserem Zeitabschnitt dem Gläubigen schenkt, eine Antwort geben.

  • Zuallererst bringt sie ihm das Heil (Tit 2,11);
  • sie gibt ihm das Leben, denn sie macht lebendig (Eph 2,5);
  • sie bringt ihm den Frieden (Röm 5,1; Joh 14,27);
  • sie gibt ihm die Ruhe (Mt 11,28.29);
  • sie macht ihn zu einem Kind Gottes (Röm 8) und verbindet ihn mit Christus, denn die Gläubigen sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und seinen Gebeinen (Eph 5,30);
  • sie gibt ihm Anteil an der Herrlichkeit, die der Vater dem Sohn gibt (Joh 17,22).

Und dies alles, ohne dass der Gläubige etwas dafür zu leisten hatte; Christus allein hat ihm diese Vorrechte und Segnungen erworben.

Und was folgt daraus? Wir brauchen uns nicht, wie Adam, mit dem Tod zu beschäftigen und müssen ihn nicht mehr fürchten, weil wir aus dem Tod in das Leben übergegangen sind. Auch müssen wir nicht – wie Israel – vor dem Gericht bangen, wenn wir auf dem Weg fallen. «Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit» (1. Joh 1,9) Denn Christus hat für alle unsere Sünden das volle Gewicht der Strafe getragen, und Er, unser verherrlichter Herr im Himmel, ist die Quelle unserer Kraft, die wir für unseren Wandel benötigen. Zudem hat uns dieselbe Gnade («die wahre Gnade Gottes») zu einer heiligen und königlichen Priesterschaft gemacht (1. Pet 2,5.9) und uns volle Freimütigkeit gegeben, um in das innerste Heiligtum hineinzugehen (Heb 10,19). Wir tun es nicht wie Aaron, der in der einen Hand ein Becken voll Blut hielt, und mit der anderen Hand das Blut vor und auf den Sühndeckel sprengte. Nein, wir stehen in der Gegenwart Gottes als solche, die durch das Blut Jesu Christi vollkommen gereinigt sind, die seine Gemeinschaft und Gegenwart geniessen, die aufgrund der Vollkommenheit und des unschätzbaren Wertes des Blutes des Sohnes Gottes im Heiligtum stehen!

Ferner gibt uns dieselbe Gnade auch Verheissungen für unser ganzes Haus. «Du und dein Haus!» wurde dem Kerkermeister in Philippi zugerufen (Apg 16,31). Welcher Gegensatz zu dem gezückten Schwert über David und seinem Haus!

Schliesslich sind wir auch vollkommen erlöst von der Knechtschaft, unter der das Volk Israel stand. Wir haben die Sohnschaft empfangen. Und weil wir Söhne sind, «hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!» Also sind wir nicht mehr Knechte, sondern Söhne (Gal 4,5-7). Doch sind wir glücklich, dass wir Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus als freie Knechte dienen dürfen.

Die zurückgekehrten Juden konnten den Ertrag des Landes nur teilweise geniessen, weil ein grosser Teil davon für die heidnischen Könige bestimmt war, die Gott über sie gesetzt hatte (siehe Neh 9,36.37). Wir aber – auch wieder nur aufgrund der wahren Gnade Gottes – sind gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus (Eph 1,3).

Dieselbe Gnade, die uns mit so vielen Segnungen überschüttet, macht mich auch auf meine Verantwortung aufmerksam und befähigt mich, ihr zu entsprechen.

Sie unterweist mich, die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden zu verleugnen, besonnen, gerecht und gottselig zu leben in dem jetzigen Zeitlauf (Tit 2,12):

  • Der Gläubige ist zu aller Zeit aufgerufen, Mässigkeit zu beachten, aber nicht nur im Blick auf Speise und Trank; er soll «in allem» enthaltsam sein, damit er in der Kraft des Heiligen Geistes auf der «Rennbahn» des Glaubens laufen und am Ende eine «unvergängliche Krone» empfangen kann (1. Kor 9,24.25).
  • Der Gläubige soll inmitten seiner Mitgeschwister und in der Welt, die ihn umgibt, in praktischer Gerechtigkeit leben.
  • Der Gläubige ist berufen, in der Furcht Gottes, vor seinem Angesicht zu wandeln in wahrer Gottseligkeit.
  • Und schliesslich, und auch das ist eine herrliche Frucht, ja, die Krone der wahren Gnade Gottes: Der Gläubige darf in der Erwartung der glückseligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres grossen Gottes und Heilandes Jesus Christus leben! (Tit 2,13).