Zwischen unserem Herrn als Priester nach der Ordnung Melchisedeks und der Ausübung seines Priestertums, vorgebildet durch Aaron, besteht eine Verbindung, wie dies im Hebräerbrief dargestellt wird.
An der Person Melchisedeks ist schon viel herumgerätselt worden. Einige meinten, er sei Christus selbst gewesen; aber das kann nicht sein, denn er wird ja «dem Sohn Gottes verglichen». Andere dachten, er sei eine besondere Schöpfung Gottes gewesen; aber das ist unmöglich, denn als eine besondere Schöpfung Gottes müsste er einen Anfang der Tage gehabt haben. Andere schliessen aus den obigen Bibelstellen, dass Melchisedek ein Mensch war, der geboren wurde, lebte und starb, von dessen Geburt und Tod aber nichts berichtet wird, und damit können wir uns einverstanden erklären.
Am besten ist es, die in der Schrift enthaltenen Hinweise auf diese Persönlichkeit selbst zu prüfen und sie für sich reden zu lassen.
In 1. Mose 14 lesen wir, dass in der Nähe des Toten Meeres vier Könige gegen andere fünf Könige in den Krieg zogen. Die vier Könige trugen den Sieg davon und führten alle Habe von Sodom und Gomorra weg; auch Lot, Abrahams Neffen, nahmen sie mitsamt seiner Habe gefangen und zogen davon; denn er wohnte in Sodom. Diese Nachricht wurde Abram überbracht, der sofort handelte. Er liess seine kampffähigen Hausgeborenen ausrücken, jagte den Königen nach bis nach Dan, im äussersten Norden des Landes, und überfiel sie in der Nacht. So befreite er Lot, seinen Bruder, und brachte ihn mit seiner Familie und seinem Besitz zurück wie auch das Volk und die Habe Sodoms.
Auf seiner Rückkehr brachte Melchisedek Brot und Wein heraus und segnete ihn mit den Worten: «Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt! Und gepriesen sei Gott, der Höchste, der deine Feinde in deine Hand geliefert hat!» (1. Mo 14,19.20). Auf diese plötzliche und geheimnisvolle Weise erschien Melchisedek auf der Bildfläche.
In Hebräer 7 werden drei Dinge über ihn ausgesagt:
- Sein Name bedeutet «König der Gerechtigkeit»;
- er war König von Salem, was «König des Friedens» bedeutet;
- ferner war er auch «Priester Gottes, des Höchsten». Er war also König und Priester. Beachte diese doppelte Würde.
Abraham gab ihm den Zehnten. Das war sozusagen die Huldigung eines Untertanen gegenüber seinem König. Wer den Zehnten empfängt, hat Anrecht auf das Ganze, so wie Gott ein Recht hat auf alles, was wir besitzen, und doch gnädig annimmt, was wir Ihm darbringen. König David rief in seinen Tagen in Dankbarkeit aus: «Denn von dir kommt alles, und aus deiner Hand haben wir dir gegeben» (1. Chr 29,14). Alles kommt von Ihm, wenn wir Ihm auch nur einen Teil davon zurückgeben.
Dadurch, dass ihm Abraham sogleich eine solche Huldigung darbrachte, wurde Melchisedek als eine erhabene Person ausgezeichnet. Er seinerseits gab Abraham Brot und Wein. In seinem Vorbild wird gezeigt, wie der Herr in den letzten Tagen Israel wieder aufnehmen wird. Der Krieg zwischen den vier Königen gegen die fünf redet von der Schlacht der Nationen in den letzten Tagen, in der unser Herr, wie einst Abraham, dazwischentreten, sein altes Volk von den Feinden befreien und sowohl ihm als auch der Welt Brot und Wein austeilen wird. Mögen auch die Menschen eine «neue Weltordnung» erstreben – sie kann erst kommen, wenn der Fürst des Friedens, der wahre König von Salem, regieren wird. Brot redet von Erhaltung, Wein aber von Freude. Erhaltung und Freude unter einem solchen König ist das Wesen des Tausendjährigen Reiches.
Das jüdische Volk nahm seinen Messias nicht auf. Sie wollten in dem einen, den sie verwarfen, nicht ihren König erkennen. Nun ist Er für die jüdische Nation in das Allerheiligste eingegangen, und bis Er – wie Melchisedek – «herauskommt», muss Israel auf seine Zeit der Segnung warten. Wenn Er ihnen dann erscheint, wird Er im Melchisedek-Charakter kommen. Welch ein Tag wird dies für die arme, sündenbefleckte, von Tränen durchnässte und blutgetränkte Welt sein!
In Hebräer 7 (siehe auch 8,4) wird uns gesagt, dass Christus auf der Erde nicht ein Priester nach der Ordnung Aarons sein kann, denn diese Ordnung kam aus dem Stamm Levi hervor, unser Herr aber ist aus dem Stamm Juda gekommen. Wird Er denn nicht auch auf der Erde Priester sein? Doch, aber ein Priester nach der Ordnung Melchisedeks. Als König kam Er aus dem Geschlecht Davids, und als König wird Er dem Volk gegenüber Gott darstellen. Als Priester aber wird Er das Volk Gott gegenüber vertreten. Er wird auf seinem Thron sowohl König auch Priester sein.
Der Apostel Paulus beweist, dass Melchisedek grösser war als Levi; denn als ihm Abraham den Zehnten gab, war Levi noch in seinen Lenden, wie die Schrift sich ausdrückt. Wenn Melchisedek von Abraham eine solche Huldigung empfing, erkannte der Patriarch damit seine Grösse an, und so wird Levi, sein Nachkomme, ihm dieselbe Ehre zu erweisen haben.
Mehr noch, unter dem levitischen Priestertum gab es keine Vollkommenheit; ihr Hoherpriester war «nach dem Gesetz eines fleischlichen Gebots» zu diesem Amt gelangt. So war denn ein Wechsel im Priestertum nötig; es muss einer in der Gleichheit Melchisedeks aufstehen, der «nach der Kraft eines unauflöslichen Lebens» Priester ist (Heb 7,16). Beachte, es hat noch keinen Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks gegeben, denn erst Melchisedek selbst ist dagewesen. Diese geheimnisvolle Gestalt, die in 1. Mose 14 auftrat, hat den Schauplatz verlassen, ohne dass etwas von seinem Tod oder von Nachkommen berichtet wird.
Zunächst war er Priester Gottes des Höchsten. Dies ist ein Titel, den auch unser Herr im kommenden Reich tragen wird. Er weist auf die Zeit hin, in der Er in Israel seinen rechtmässigen Platz als König und Priester auf seinem Thron einnehmen wird, eine Herrschaft und ein Priestertum, die sich auf die ganze Welt erstrecken werden. «Denn wenn ihre (Israels) Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anders sein, als Leben aus den Toten?» (Röm 11,15). «Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er die Grenzen der Völker fest nach der Zahl der Kinder Israel» (5. Mo 32,8). «Lass sie … erkennen, dass du allein, dessen Name HERR ist, der Höchste bist über die ganze Erde» (Ps 83,19).
Dies ist die Tragweite des Namens Melchisedek, des «Königs der Gerechtigkeit» und des «Königs des Friedens». Die bedeutsame Verbindung dieser beiden Eigenschaften wird in einer kommenden Zeit im Gegenbild, unserem gesegneten Herrn, in ihrem vollen Ergebnis gesehen werden. Diese Welt hat ein dringendes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Frieden. Wenn einst alle Probleme in Gerechtigkeit gelöst werden und überall der Friede regiert, was für eine Welt wird dies sein, eine Welt, von der die Dichter geträumt und gesungen, und wofür die Politiker gekämpft haben! Aber sie ist noch nie Wirklichkeit geworden.
Das ist durchaus nicht verwunderlich, denn sie haben es ohne Christus, die Hauptperson des Friedensreiches, zustande bringen wollen. Was nützen Felge und Speichen eines Rades, wenn die Nabe fehlt? Ohne Nabe gibt es kein Rad, und ohne Christus kann es keine «neue Weltordnung» geben. Dieser Segenskreis muss Ihn zum Mittelpunkt haben.
Wie könnte Frieden bestehen ohne Gerechtigkeit? Aber Gott sei Dank! In Christus, der die beiden Titel Melchisedeks trägt, haben sich «Gerechtigkeit und Frieden geküsst» (Ps 85,11). Er hat die ganze Frage der Sünde am Kreuz auf Golgatha in gerechter Weise gelöst, indem Er sie dort gesühnt hat. Nun kann Friede verkündigt werden. Die Gläubigen der Jetztzeit haben heute schon Anteil an dieser Gerechtigkeit und diesem Frieden, aber eines Tages werden diese Zustände auch auf der Erde sein, und Freude und Glückseligkeit werden sie dann erfüllen.
Nun folgt eine sehr wichtige Feststellung. Von Melchisedek wird gesagt: «Ohne Vater, ohne Mutter, ohne Geschlechtsregister, weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens habend, aber dem Sohn Gottes verglichen, bleibt Priester auf immerdar» (Heb 7,3). Adam war wohl ohne Vater, ohne Mutter und ohne Geschlechtsregister, aber er hatte einen Anfang der Tage und ein Ende des Lebens. Die Priester ihrerseits konnten keinen Anspruch auf das aaronitische Priestertum erheben, wenn sie ihr Geschlechtsregister nicht bis auf Aaron zurück nachweisen konnten und wenn nicht beide, Vater und Mutter, von aaronitischer Abstammung waren (vgl. Neh 7,63-65). Wenn wir diesen Ausspruch wörtlich nehmen, so lässt er sich auch nicht auf den Herrn in seiner Menschheit anwenden; denn als Mensch hatte er eine Mutter, einen Anfang der Tage und ein Ende des Lebens. So muss sich diese Aussage also auf unseren Herrn als dem Sohn Gottes beziehen, also auf den ewigen Sohn. Nur von diesem konnte gesagt werden, dass Er weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens habe. Dies setzt nichts weniger als Gottheit voraus. Wir zweifeln nicht, dass Melchisedek geboren wurde, dass er lebte und starb. Aber es ist auffallend, dass in jenen Tagen der Weltgeschichte, in denen doch Verwandtschaft, Geburt und Tod eines Menschen sorgfältig registriert wurden, hier ein Mann war, von dem niemand wusste, wann er geboren worden war, noch wann er starb. Mit anderen Worten: Melchisedek schien weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens zu haben. Das ihm gegebene Zeugnis beschränkte sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass er lebte.
Er wird «dem Sohn Gottes verglichen». Der Sohn Gottes bestand, bevor Melchisedek mit Ihm verglichen wurde. Welch ein Beweis, dass der Sohn in der Einheit der Gottheit – Vater, Sohn und Heiliger Geist – ewig war. Unerforschliches aber gesegnetes Geheimnis, das das Herz des Gläubigen mit Anbetung erfüllt!
Gegenwärtig ist unser Herr für sein Volk mit aaronitischen Aufgaben beschäftigt, und in dieser Hinsicht ist Aaron ein Vorbild auf Christus hin. Aber für Israel und die Welt kommt ein Tag, an dem Er nach der Ordnung Melchisedeks erscheinen wird, um Israel und die Welt als Ganzes zu segnen. Dieser Tag steht nun nahe bevor.
Sacharja gibt uns darüber eine deutliche Weissagung. Wir lesen: «Siehe, ein Mann, sein Name ist Spross; und er wird von seiner Stelle aufsprossen und den Tempel des HERRN bauen. Ja, er wird den Tempel des HERRN bauen; und er wird Herrlichkeit tragen; und er wird auf seinem Thron sitzen und herrschen, und er wird Priester sein auf seinem Thron; und der Rat des Friedens wird zwischen ihnen beiden sein» (Sach 6,12.13).
Beachte also, Er wird König auf seinem Thron, aber auch Priester auf seinem Thron sein. Königtum und Priestertum sind dann in seiner gesegneten Person vereinigt. Es war nötig, dass unser Herr Mensch wurde, um für uns den Sühnungstod auf dem Kreuz von Golgatha erleiden zu können. Aber am Ende der Tage wird die Welt sich freuen über das Kommen des ewigen Sohnes Gottes, der im Charakter des wahren Melchisedek, als Priester und König erscheinen wird, um Frieden, Segen und Freude, Brot und Wein zu bringen, Brot zur Erhaltung und Wein zur Freude. Dann wird endlich die wahre neue Weltordnung Wirklichkeit werden.