Die Frage: «Welches ist die Lebensregel für den Gläubigen?» hat schon viel zu reden gegeben. Meistens antwortet man: «das Gesetz». Aber kann das, was Gott von Israel, dem Volk «nach dem Fleisch», verlangte, auch gegenüber denen, die «nicht im Fleisch, sondern im Geist sind», Geltung haben? Eine solche Behauptung würde der Lehre des Wortes Gottes widersprechen.
Wer das Gesetz nicht als Lebensregel annehmen will, wird gerne den «Antinomisten» zur Zeit Luthers gleichgestellt, die das Gesetz und seine Verpflichtungen und Zaum und Zügel verwarfen. Im Gegensatz zu ihnen möchte ich hier vielmehr deutlich machen, dass das Gesetz nur ein unvollkommener Ausdruck dessen ist, was Gott jetzt von den Gläubigen erwartet. Er hat sie ja in viel innigere Beziehungen zu sich gebracht als die, in die das Gesetz sie je hätte einführen können. Damit hat Er sie aber auch unter viel höhere, tiefere und weitere Verpflichtungen gestellt. In der Tat, das Gesetz hat seinen Bereich auf der Erde. Es hat keinen Zutritt zu den himmlischen Örtern, wohin wir in Christus versetzt worden sind. Wenn wir auf unser Thema nun näher eingehen, so wollen wir uns daran erinnern, dass wir unsere Antworten nicht in den Meinungen und Lehren der Menschen zu suchen haben, sondern allein im Wort Gottes.
Warum das Gesetz nicht unsere Lebensregel sein kann
Die Heilige Schrift führt verschiedene Gründe an. Drei davon mögen uns hier genügen.
1. Dem Gesetz getötet
Der Apostel Paulus belehrt uns, dass wir nicht mehr unter Gesetz sind: «Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten» (Röm 7,4). Beim Lesen dieses ganzen Schriftabschnittes erkennen wir, dass die Sache sehr einfach ist: Ist das Gesetz unser Ehemann, oder Christus? Diese Gegenüberstellung macht es deutlich, dass der angeführte Vers durchaus nicht sagen will, wir seien dem durch das Gesetz ausgesprochenen Fluch gestorben; denn es geht ja hier ums Fruchtbringen. Die Wahrheit, auf der der Apostel beharrt, ist vielmehr die: Da wir in Christus, unserem Stellvertreter, gestorben sind, sind wir auch dem Gesetz völlig gestorben und stehen nicht mehr unter seiner Herrschaft. Wir sind aus dem Bereich des Fleisches, in dem das Gesetz seine Gültigkeit hat, herausgenommen und in der Auferstehung mit Christus vereinigt worden. Wir befinden uns da, wo Er ist, unser alleiniger Herr.
Einige werden vielleicht sagen: «Aber lehrt uns denn das Ende von Römer 7 nicht etwas anderes?» – Lest nur weiter; geht zum 8. Kapitel über, wo ihr dieselbe Wahrheit des Wortes bestätigt finden werdet, die ich soeben vor euch hingestellt habe. Aber wir wollen zuvor Römer 7 noch näher untersuchen:
Niemand wird der obigen Anwendung des ersten Teiles der Beweisführung von Paulus widersprechen. Im folgenden Abschnitt (Verse 7-12) beschreibt er dann die Anwendung des Gesetzes auf den Menschen im Fleisch. Der Apostel beginnt mit der Frage: «Ist das Gesetz Sünde?» und zeigt, dass, wenn durch das Gesetz die Erkenntnis der Sünde kommt, «das Gesetz heilig und das Gebot heilig ist und gut» (Vers 12). Dann stellt er eine andere Frage: «Gereichte nun das Gute mir zum Tod?» (Vers 13). Als Antwort darauf redet er von der Wirkung der Anwendung des Gesetzes auf einen wiedergeborenen Menschen, der die volle Erlösung in Christus noch nicht kennt: Es entsteht in einem solchen ein dauernder Streit, durch den offenbar wird:
- dass im wiedergeborenen Menschen noch die Sünde ist (Vers 17),
- dass das Fleisch durch und durch verdorben ist (Vers 18) und
- dass ein solcher Mensch in sich selbst wegen der beiden gegensätzlichen Naturen, die sich in seinem Innern dauernd bekämpfen, ganz und gar unvermögend ist (Verse 18-20).
Wo kann er Befreiung aus diesem Zustand finden? Denn das Elend, das ihn umschliesst, zwingt ihn, auszurufen: «Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?» (Vers 24). Dann kommt die befreiende und vollkommene Antwort: «Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!» (Vers 25).
Im 8. Kapitel folgt dann die Beschreibung dieser glückseligen Befreiung und der Freiheit, die wir in Christus besitzen. Im Verlauf dieser Belehrung sagt der Apostel: «Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn nämlich Gottes Geist in euch wohnt» (Vers 9). Die Befreiung ist dermassen vollständig, dass Gott in dem, der in Christus ist, das Fleisch als abgeschafft betrachtet, und zwar aufgrund der Tatsache – wie wir anderswo belehrt werden – dass der Gläubige mit Christus gekreuzigt worden ist (Gal 2,20 und Röm 6,6).
Das 7. Kapitel des Römerbriefes, richtig verstanden, lehrt uns also, dass wir nicht mehr unter Gesetz sind. Ich weiss, dass viele Leute meinen, dieses Kapitel enthalte die eigentliche Erfahrung des Christen. Aber darf man annehmen, dass Aussprüche wie: «Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft, ich elender Mensch!» die wahre Sprache eines Menschen sein kann, der weiss, dass er in Christus ein volles, vollkommenes und ewiges Heil besitzt? Wie könnten solche Worte mit dem Triumphruf des Apostels übereinstimmen: «Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus?» (Röm 8,35). Eine solche Vermutung wäre ungeheuerlich und könnte nur aus völliger Unwissenheit der Natur der Erlösung und der wahren Stellung des Gläubigen durch seinen Tod und seine Auferstehung in Christus herrühren.
Noch eine Stelle will ich anführen, um die Schlussfolgerung zu befestigen, zu der wir nun angelangt sind. Als der Apostel beschrieb, wie er «allen alles geworden» sei, sagt er: «Ich bin geworden … denen, die unter Gesetz sind, wie unter Gesetz», fügt aber bei: «obwohl ich selbst nicht unter Gesetz bin.» Diese Aussage wird im nächsten Vers bekräftigt indem Paulus fortfährt: «denen, die ohne Gesetz sind, wie ohne Gesetz, (obwohl ich nicht ohne Gesetz vor Gott bin, sondern Christus gesetzmässig unterworfen)». Solche Worte haben eine ganz andere Bedeutung, als der Ausdruck: «unter Gesetz» (1. Kor 9,20.21). Der Apostel beharrt offensichtlich auf seiner völligen Freiheit gegenüber dem Gesetz. Wäre er unter dem Gesetz als seiner Lebensregel gestanden, hätte er nicht eine solche Sprache führen können.
2. Eine höhere Regel
Das Gesetz kann auch nicht die Lebensregel des Gläubigen sein, weil die Verpflichtungen, denen er unterstellt ist die Forderungen des Gesetzes weit übersteigen. Der Apostel Johannes sagt: «Hieran haben wir die Liebe erkannt» – die Liebe in ihrer Natur oder ihrem Charakter – «dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben» (1. Joh 3,16). Die höchste Forderung des Gesetzes geht aber nur dahin, dass wir den Nächsten lieben sollen wie uns selbst und verlangt nicht, dass wir unser Leben für ihn hingeben sollen. Das Gesetz ist also kein vollkommener Massstab für uns und kann auch aus diesem Grund nicht unsere Lebensregel sein.
3. Eine neue Schöpfung
Schliesslich sollten wir auch die Natur des Gesetzes beachten. Es ist der Massstab für die Gerechtigkeit des Menschen und wurde Israel nach dem Fleisch, das heisst, dem natürlichen Menschen gegeben. Aber «wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung»; er ist vor Gott nicht mehr «im Fleisch», sondern «im Geist» (2. Kor 5,17; Röm 8,9). Er ist nun verantwortlich, entsprechend der Stellung, in die er versetzt worden ist, vor Gott zu wandeln, als ein mit Christus, in der Kraft des Heiligen Geistes auferstandener Mensch (Röm 8,14; Gal 5,25). So ist also das Gesetz der vollkommene Massstab für das, was Gott vom Menschen im Fleisch verlangt. Aber gerade aus diesem Grund ist es unanwendbar auf die, die wiedergeboren sind und in denen der Geist Gottes wohnt. Wie alle Worte und Werke Gottes ist es «heilig und gerecht und gut». Wenn man es aber auf Menschen anwendet, für die es Gott nicht bestimmt hat, stiftet man Verwirrung und verdunkelt seine Vollkommenheit.
Welches ist denn die Lebensregel für den Gläubigen?
Wir können dies folgenden Stellen entnehmen:
- «Wer sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt ist» (1. Joh 2,6).
- «Denn hierzu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten, euch ein Beispiel hinterlassend, damit ihr seinen Fussstapfen nachfolgt» (1. Pet 2,21).
- «Lasst … uns, indem wir jede Bürde und die leicht umstrickende Sünde ablegen, mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens» (Heb 12,1.2).
Wir sollen also auf den schauen, der von Anfang an bis zu seiner Vollendung das vollkommene Beispiel des Lebens des Glaubens war.
Diese Stellen genügen, obwohl es ein Leichtes wäre, noch viele andere anzuführen, um zu zeigen, dass Christus – und nicht das Gesetz – unsere Lebensregel ist. Und wenn wir dieses feststellen, so erkennt jeder, dass dadurch vom Gläubigen weit mehr verlangt wird, als wenn er noch unter Gesetz wäre. Denn Christus hat das sittliche Gesetz bis auf den letzten Strich und i-Punkt des Buchstabens erfüllt – und ist in seinem Tod am Kreuz noch unendlich weit darüber hinausgegangen. Darum ist es uns unmöglich, auch nur eine sittliche Vorschrift geringzuachten, handle es sich dabei um die 10 Gebote oder um andere Satzungen. Denn wir sehen, dass jeder Ausdruck des Willens Gottes im Leben des Herrn Jesus völlig und vollkommen verkörpert worden ist. Aus diesem Grund wird das Gesetz in den Briefen so häufig angeführt, um irgendeine Seite der Verpflichtungen des Christen zu erhellen. Aber es geschieht immer in Verbindung mit Christus (siehe Röm 13,7-14).
Ich könnte mich noch lange darüber verbreiten, wie es für uns von überaus grossem Vorteil ist, Christus anstelle des Gesetzes als Lebensregel zu haben. In der Tat, auf diese Weise werden unsere Augen immer auf Ihn gerichtet, so dass wir in der Kraft des Heiligen Geistes seinem Beispiel nachfolgen können und zu wandeln vermögen, wie Er gewandelt ist. Unsere Seele hat dann nur einen Anziehungspunkt: Christus in der Herrlichkeit, dem wir jetzt in immer zunehmendem Mass moralisch (2. Kor 3,18), und bald auch dem Leib nach und vollkommen gleichgestaltet werden sollen, wenn Er kommen wird, um uns zu sich zu nehmen (Phil 3,20.21; 1. Joh 3,2). Weit entfernt davon, die Verpflichtungen des Gläubigen abschwächen zu wollen, erhöhen und verstärken wir sie, indem wir ihm zeigen, dass er sich unaufhörlich in der Gegenwart Christi aufhalten soll, um so fortwährend unter dem Einfluss und dem Drängen seiner Liebe zu stehen (2. Kor 5,14.15).
Wer da sagt, das Gesetz sei unsere Lebensregel, begibt sich in sonderbare Schwierigkeiten. Beachten wir zum Beispiel den Sabbat? Finden wir im Neuen Testament eine bezügliche Vorschrift? In den Evangelien wird zwar wohl erwähnt, dass der Sabbat gehalten wurde; seit Pfingsten aber beachten die Gläubigen den ersten Tag der Woche. Wenn man aber das Gesetz zur Lebensregel machen will, mit welchem Recht darf man sich dann einer einzigen Verpflichtung entbinden, die Gott in diesem Gesetz auferlegte? Man könnte es nur mit schlechtem Gewissen tun und dabei würde die Gemeinschaft mit Gott und jede geistliche Kraft zerstört.
Die Seele des Gläubigen soll nur durch die Liebe Christi gedrängt werden, nicht durch den Zwang des Gesetzes. Und die Kraft dieser Liebe erfüllt uns gerade in dem Verhältnis, wie das Herz mit Christus beschäftigt ist. Lasst uns daher Gnade suchen, um mit dem Apostel sagen zu können: «Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat» (Gal 2,20).