Die Leiden des Herrn Jesus
Wie gross waren doch deine Leiden, o Jesus, unser geliebter Herr!
«Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz!» (Klgl 1,12). Je höher ein Mensch in sittlicher Beziehung steht, desto empfindsamer wird er für die Schmerzen, die er ertragen muss. Was nun muss der Schmerz für den gewesen sein, der alles in vollkommener Weise empfand! Verhärtung und Gefühllosigkeit waren seiner vollkommenen Natur fremd; dementsprechend litt Er daher unter all der Verachtung und Demütigung, die Er vonseiten der Menschen erfuhr, bis zum äussersten. Er wurde zum «Saitenspiel der Zecher» (Ps 69,13), zur Zielscheibe des Spotts; die Menschen, die in ihren Nöten und Bedürfnissen die Gegenstände seiner grenzenlosen Liebe gewesen waren, verlachten, verhöhnten und verwarfen Ihn.
Nach Jesaja 53,7 war Er «wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern.» Er sagte: «Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel» (Jes 50,6). In Psalm 22 hören wir, wie Er die ganze Last seiner Schmerzen und Qualen seinem Vater beschreibt, und wie Er Ihm seine vielen Feinde aufzählt: Viele Stiere, gewaltige Stiere von Basan umringten Ihn, Hunde waren um Ihn her und eine Rotte von Übeltätern umzingelte Ihn. Dort öffnete sich der Rachen des Löwen gegen Ihn und die Büffel rannten mit ihren Hörnern gegen Ihn an.
Satan bot die ganze Macht der Finsternis gegen Christus auf, und auch in den Menschen fand er willige Werkzeuge für seine teuflischen Absichten. Ruchlose Menschenhände hefteten den heiligen Dulder ans Kreuz und erhöhten Ihn zwischen Himmel und Erde.
Aber auch Gott war in den drei Stunden der Finsternis gegen Ihn, als Jesus für uns zur Sünde gemacht und mit unseren Sünden beladen war. Da behandelte Ihn Gott so, wie die Sünde es verdiente. Alle Quellen der Tiefe brachen auf zum göttlichen Gericht, die Fenster des Himmels öffneten sich und der Kelch des Zorns Gottes über die Sünde entleerte sich über Ihn. Da versank Er in tiefen Schlamm, und kein Grund war da. Gleich dem Propheten Jona – jedoch im übertragenen, tiefen, geistlichen Sinn – fuhr Er hinab zu den Gründen der Berge, und die Riegel der Erde waren hinter Ihm. Tiefe rief der Tiefe beim Brausen der Wassergüsse Gottes; alle seine Wogen und Wellen gingen über Ihn hin; die Wasser kamen Ihm bis an die Seele (vgl. Jona 2,7; Ps 42,8; 69,2.3). «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» – dieser Aufschrei seines Herzens am Ende der drei Stunden der Finsternis jedoch machte offenbar, was das Allerschwerste und Bitterste seiner Leiden gewesen war.
Ergebnisse des Kreuzes
Durch das Kreuz wurden alle Mächte des Bösen zerschlagen, der Teufel als Fürst und Gott dieser Welt entlarvt und seine Gewalt auf ewig vernichtet. Hier am Kreuz hatte sich die Weisheit dieser Welt als Torheit erwiesen, denn sie vermochte Ihn nicht zu erkennen, als Er sich ihr offenbarte. Der Mensch erwies sich da in seinem gefallenen Zustand als durch und durch unverbesserlich, und sein hasserfülltes Herz gegen Gott wurde dort blossgelegt.
Trotz der Feindschaft, die die Menschen Jesus am Kreuz entgegenbrachten, offenbarte sich Gott gerade dort in der ganzen Vollkommenheit seiner Güte und Liebe. Und Christus blieb der gehorsame Mensch, der Gott verherrlichte, auch als Gott Ihn verlassen hatte; denn Er war gekommen, um den Willen Gottes zu tun (Heb 10,7). Wie gross der Preis auch war – Er wich nicht zurück, sondern nahm bis zum Ende in vollkommenem Gehorsam die Stellung eines Knechtes und Dieners ein. Dafür gebühren Ihm Lob und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Die Verherrlichung des Herrn Jesus
Durch das Kreuz wurde der Sohn des Menschen verherrlicht (Joh 13,31). Dort offenbarten sich alle Vollkommenheiten seiner sittlichen Natur. Jeder Herzschlag in Ihm bekundete seine Treue dem gegenüber, der Ihn gesandt hatte. In Ihm fanden sich keine selbstsüchtigen Beweggründe; auch liess Er sich nicht durch den Gedanken vom Weg ablenken: Was tragen mir diese Dinge ein? Er brachte alles in Beziehung zu Gott. Er vollbrachte das Werk, das Gott Ihm aufgetragen hatte, ohne jede Widerrede, ohne die geringste innere Auflehnung, «damit die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und so tue, wie mir der Vater geboten hat» (Joh 14,31).
Unser hochgelobter Herr wusste alles, was über Ihn kommen würde. In vollkommener Weise erfasste Er das ganze Gewicht des schrecklichen Gerichts Gottes, das ihn erwartete. Er war sich völlig bewusst, dass, wenn Er Knechtsgestalt annahm, Er zu gehorchen und den ganzen Willen Gottes zu erfüllen hatte. Aber nichts vermochte Ihn in seinem Entschluss zu erschüttern. Als Er in Gestalt Gottes war, hat Er es nicht für einen Raub geachtet, Gott gleich zu sein, sondern hat sich selbst zu nichts gemacht und Knechtsgestalt angenommen, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, hat Er sich selbst erniedrigt, indem Er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-8).
Welch wunderbare sittliche Herrlichkeit strahlt uns doch mitten aus der Finsternis von Golgatha in der Person unseres Herrn entgegen!
Und Gott wurde verherrlicht in Ihm
Am Kreuz wurde die Gerechtigkeit Gottes erprobt, seine Heiligkeit in ihrer ganzen Unnachgiebigkeit dargestellt und aufrecht gehalten, seine Herrschaft anerkannt, seine Wahrheit gerechtfertigt und seine Liebe offenbart.
Der unerhörte Kampf zwischen der Macht des Guten und der Macht des Bösen wurde am Kreuz durch die Person des demütigen und gehorsamen Erlösers ausgefochten, der sich selbst hingab, damit alles zur Verherrlichung und Ehre Gottes entschieden werde.
Gott hat in Christus den Feind besiegt, die Gerechtigkeit erfüllt, dem Tod den Stachel genommen (1. Kor 15,54-57). Durch Ihn hat Gott die Sünde zunichtegemacht und unsere Sünden von uns entfernt. Unser alter Mensch wurde mit Christus gekreuzigt (Röm 6,6). Die Reinigung der Himmel und der Erde von der Gegenwart des Bösen ist jetzt nur noch eine untergeordnete Frage, die von den Engeln Gottes ausgeführt werden kann (siehe Off 12,7-9; Mt 13,49.50).
Durch das Kreuz sind die Natur und das Wesen Gottes in Bezug auf das Böse gerechtfertigt und öffentlich kundgemacht worden. Es steht nun fest, dass das sündige Geschöpf die Veranlassung dazu war und dass als Endergebnis von Gottes Seite nur Segen daraus hervorkam. Dass das Gute allein in Gott ist, und dass seine Gesinnung gegenüber dem Menschen nur Güte, Gnade und Liebe ist, kam da in vollkommener Weise an den Tag. Dort wurde aber auch bewiesen, dass der Mensch im Fleisch, ja, das ganze Geschlecht Adams, von Gott nichts wissen wollte, in welchem Charakter Er sich ihm auch offenbaren mochte. Aber nun hat das Kreuz vor Gott mit dem Menschen richterlich Schluss gemacht. Dessen Erprobung hat dort ihr Ende gefunden. Der Mensch hat bewiesen, dass er in seinem ganzen Wesen Feindschaft gegen Gott ist. Darum steht der natürliche Mensch in keiner Wesensbeziehung zu Gott mehr.
Das Kreuz ist aber auch der Schmelztiegel, worin die sittliche Herrlichkeit und die Vollkommenheiten des zweiten Menschen, des letzten Adam, bis zum Äussersten erprobt wurde und worin die erhabene Tatsache ihre Bestätigung fand, dass bei Ihm nicht die geringste Schlacke oder irgendetwas vorhanden war, das für Gott anstössig gewesen wäre. Von seinem Kreuz stieg statt des üblen Geruchs, den eine verdorbene Welt ausbreitete, ein duftender Wohlgeruch zu Gott empor. Gott ist gerade auf dem Schauplatz verherrlicht worden, wo die Welt Ihn verunehrt hatte. Der Gewinn, den das Kreuz seines Sohnes für Gott eintrug, war unendlich grösser als der Verlust, den Er durch die Verirrung des ersten Menschen und seines ganzen Geschlechtes erleiden musste.
Dieses alles wurde am Kreuz Christi ausgetragen, und der Gläubige ist jetzt im Leben, in der Natur, in der Gunst und in den Beziehungen zu Gott mit dem Einen einsgemacht worden, der in den Stunden des Gerichts seinen Gott verherrlichte. Der Gläubige ist jetzt fähig gemacht, zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht, indem am Kreuz das Urteil über den alten Menschen vollzogen und er vor Gott gerichtlich weggetan ist.
Die Gnade und die Ehre, die Jesus Christus als dem zweiten Menschen, dem Menschen vom Himmel, gehören, sind auch unser Teil, denn Er gibt uns Anteil an seiner Herrlichkeit: «Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt» (1. Joh 4,17), und: «Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen» (1. Kor 15,49), und: «Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind» (Joh 17,22).
Lasst uns den Apostel Paulus zum Vorbild nehmen, der sagen konnte: «Aber was irgend mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet; ja wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz ist, sondern die, die durch den Glauben an Christus ist – die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben» (Phil 3,7-9), und: «Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt» (Gal 6,14). Die Person und das Kreuz Christi bedeuteten «alles» für diesen Apostel. Dass es auch für uns so wäre!