Das Kreuz (1)

Lukas 22,53

Im ganzen Universum gibt es nichts, was mit dem Kreuz vergleichbar wäre. Es offenbart die grössten Gegensätze:

Während alles Sichtbare vergehen wird, bleiben das Werk unseres Herrn am Kreuz und dessen herrliche Ergebnisse in Ewigkeit bestehen.

In seiner unvergleichbaren Grösse ist das Kreuz der Mittelpunkt der Gedanken Gottes. Es verkündet allen denkenden Wesen die Verdorbenheit des natürlichen Menschen und seine Feindschaft gegen Gott, anderseits aber auch die Liebe Gottes und unseres Herrn.

Im Licht des Kreuzes werden die Gottlosigkeit des Menschen, seine Bosheit und sein Hass gegen das Licht völlig offenbar. Gleichzeitig werden dort aber auch die Gerechtigkeit Gottes, seine Barmherzigkeit, sein Mitgefühl, seine Liebe, seine Heiligkeit und seine Gnade kund.

Am Kreuz wurde die verabscheuungswürdigste Sünde begangen, deren der Mensch fähig ist, aber es ist auch die höchste Kundgebung des Erbarmens Gottes, wie es noch nie offenbart worden war. Dort wurden die Tiefen des moralischen Elends des Menschen blossgelegt; dort wurden aber auch die Reichtümer der Gnade Gottes aufgedeckt. Dort erhob das gefallene, Gott feindliche Geschöpf seine verbrecherische Hand, um seinen Schöpfer ins Angesicht zu schlagen – und der Schöpfer-Gott antwortete mit unendlicher Liebe. Das Kreuz zeugt von der unbeschreiblichen Ungerechtigkeit des Menschen und ist zugleich auch der Beweis der unvergleichlichen Gunst Gottes ihm gegenüber. Unsere Sinne reichen nicht hin, um die Schrecken des göttlichen Zorns, des Fluchs und des Gerichts zu ergründen, die auf die Person des grossen Erlösers auf Golgatha herabkamen, und die Himmel sind nicht gross genug, um die Liebe und die Gnade zu fassen, die am Kreuz zum Ausdruck kamen.

Am Kreuz wurde die ganze Frage von Gut und Böse aufgeworfen und ein für alle Mal göttlich gelöst. Diese beiden Mächte standen dort einander gegenüber. Das aufrührerische Böse erhob sich mit aller Gewalt gegen Gott. Bis dahin hatte sich der Mensch in seiner Auflehnung gegen Ihn noch nie zu einem solchen Ausmass der Verwegenheit verführen lassen. Noch nie hatte sich die Sünde in solcher Abscheulichkeit gezeigt. Das Böse kam erst zu seiner vollen Entfaltung, als der Sohn Gottes in die Hände sündiger Menschen überliefert wurde. Die ganze Macht des Feindes war in Bewegung. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo der Mensch jede Hemmung, die ihm der Gedanke an Gott auferlegte, abschüttelte. Die Juden in ihrem Ratschluss, die Heiden in ihrer grausamen Gehilfenschaft, ja, die ganze Welt verband sich dort gegen den Christus Gottes. Sie sagten: «Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche.» Dort rotteten sich auch alle Mächte der Bosheit mit ihren Fürstentümern und Gewalten zum Endkampf zusammen, in dem entweder das Gute oder das Böse siegen musste.

Die Stunde des Menschen

In Gethsemane sagte Jesus zu den Juden: «Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis» (Lk 22,53). Vom Sündenfall an bis zu jener Stunde war Gott bemüht gewesen, beim Menschen das Böse zurückzudämmen. Seine Barmherzigkeit hatte den Menschen bis dahin daran gehindert, die ganze Bosheit der Gedanken seines Herzens auszuführen. Wohl hatte der Mensch die Erde verdorben und sie mit Gewalt erfüllt. Wohl hatte er das Gesetz gebrochen, die Dämonen angebetet, die Propheten Gottes getötet und Christus gehasst, der voller Gnade und Liebe auf diese Erde gekommen war. Aber die Hand Gottes hatte den Menschen bis zu diesem Tag gehindert, seine bösen Absichten in ihrer ganzen teuflischen Abgründigkeit auszuführen. Mehrmals hatte der verblendete Hass der Führer der Juden versucht, den Herrn umzubringen, aber sie wurden in ihrem Vorhaben immer wieder zurückgehalten.

Jetzt jedoch war die Stunde des Menschen gekommen. Seiner Empörung und seinem Hass wurde freie Bahn gegeben, um sich bis zu den letzten Konsequenzen durchzusetzen. Die Zügel, die bis jetzt den verdorbenen Willen des Menschen in gewissen Schranken gehalten hatten, wurden gelöst, und zum ersten Mal fühlte er sich von der aufhaltenden Hand Gottes befreit. Gott liess die Schranken fallen, damit vor aller Welt sichtbar werde, wie der Mensch seine Freiheit gebrauchen würde.

Aber wie unglücklich ist der Mensch, wenn er sich selbst überlassen ist! Die ihm eingeräumte Freiheit führt ihn ins Verderben. Gleich der Herde Schweine im Land der Gadarener, stürzte sich das menschliche Geschlecht in die Gewalt der Mächte der Finsternis, zu seinem eigenen Verderben.

Die Stunde des Menschen war durch «die Gewalt der Finsternis» gekennzeichnet. Wenn Gottes Macht den Menschen nicht bewahrt, so wird ihn der Teufel ins Verderben ziehen. Frei von jeder Einschränkung wurde der Mensch zum Werkzeug des Feindes und verlor dabei jedes Vertrauen zu Gott, der doch seinen eingeborenen Sohn gesandt hatte, um ihn zu erretten. Er widersetzte sich der Sorge des Heiland-Gottes um ihn. Er wollte lieber seinen eigenen Weg gehen, und selbst, in Un­ab­hän­gig­keit von Gott, sein Glück schmieden. Welche Torheit! Wohl schien er jetzt eine Hand­lungs­frei­heit zu haben, wie nie zuvor, aber diese führte ihn im Grund genommen nur tiefer in die Versklavung Satans hinein.

Der heidnische Statthalter wunderte sich über den Hass der Juden, und anderseits staunte die Welt über das Zögern und die Feigheit des Pilatus. In Judas, der seinen Herrn verriet, kam die Falschheit und Widerwärtigkeit der menschlichen Natur so erschreckend zum Ausdruck, dass jeder recht Denkende seine Tat verabscheuen muss. Sie war derart ruchlos und beschämend, dass Judas selbst urteilte, sein weiteres Dasein auf dieser Erde sei untragbar geworden, und in seiner Verzweiflung hinging, um sich zu erhängen.

Bevor die Stunde des Menschen völlig angebrochen war, hatte Petrus den Mut, den verwegenen Häschern, die mit Fackeln, Waffen und Stöcken gekommen waren, zu widerstehen. Mitten in jener «Stunde» aber genügte eine einfache Frage der Magd des Hohenpriesters, um ihm Angst einzuflössen. Der Sohn des Jonas, der seinen Herrn wirklich liebte und sich im Herzen seines früheren Mutes gerühmt haben mochte, fing an, sich zu verwünschen, und mit einem Eid zu leugnen: «Ich kenne den Menschen nicht!» (Mt 26,72). Ja, selbst die Jünger, die dem Herrn am nächsten standen, flüchteten von diesem Schauplatz. Auch der Jünger, den Jesus liebte, war nur im Hof, weil er dem Hohenpriester bekannt war (Joh 18,15), und es wird uns nicht gesagt, wie lange er dort blieb. Es war die Stunde des Menschen und der Gewalt der Finsternis, und niemand ausser dem Herrn vermochte standzuhalten. Er allein konnte in der Kraft Gottes darin bestehen. Welch eine Stunde!

Da waren Menschen aller Klassen zugegen, und ihre Herzen alle wurden mit Feindschaft und Hass gegen den sanftmütig Leidenden erfüllt: Pilatus lässt den geisseln, von dem er doch soeben bezeugt hat, dass er keinerlei Schuld an Ihm finde. Herodes behandelt Ihn geringschätzig und wirft Ihm zum Spott ein glänzendes Gewand um. Die Schar der Soldaten des Prätoriums krönt Ihn mit Dornen und wirft sich spottend vor Ihm nieder. Die Priester, deren Aufgabe die Fürbitte für das Volk war, verurteilten Ihn, der doch das Gesetz gross und herrlich gemacht hatte. Dem gegenüber, der so viele Menschen mit noch nie dagewesenen Wohltaten überschüttet hatte, ziehen sie einen Räuber vor! Sie wollen die Freilassung eines Mörders und verlangen mit grossem Geschrei, dass Jesus, der Fürst des Lebens, gekreuzigt werde! Als Vergeltung für die Brote, mit denen Jesus sie gesättigt hatte, schlugen sie Ihm ins Angesicht! Die Heilung der Kranken belohnen sie damit, dass sie Ihn zum Kreuzestod verurteilen! Als Dank für die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorkamen, häufen sie Schmähungen über sein dornengekröntes Haupt!

In jener Stunde war das Haus des Hohenpriesters mit bösen Geistern erfüllt; nicht nur das Synedrium, sondern auch der Rat der Dämonen war dort versammelt. Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, standen die Menschen jetzt völlig in der Gewalt der Finsternis. Gott, der sie bis dahin zu ihrem besten zurückgehalten hatte, haben sie verworfen. Nun stehen sie unter der Herrschaft jener bösen Mächte und stürzen sich in kühner Sorglosigkeit in den Abgrund des Verderbens. Ihr Hochmut hat sie verblendet und ihr Hass sie mitfortgerissen. Ihre Herzen und Gewissen sind durch die Sünde verhärtet. So sehr verleugnen sie alles Gute und Heilige, dass einzig noch die Schmähung, die Folterung und die Kreuzigung des Herrn das Verlangen ihres Herzens stillen kann. Und Er war doch in ihrer Mitte von Ort zu Ort gezogen, wohltuend und alle heilend, die vom Teufel überwältigt waren! In der Tat, es war ihre Stunde, eine Stunde hemmungslosen Ausbruchs aller menschlichen Sünd­haf­tig­keit und Bosheit.