Welches ist meine spontane, aufrichtige Antwort auf diese Frage?
Glückselig die Christen, aus deren Leben diese Antwort zu lesen ist: Ja, ich rechne damit, dass mein Herr «heute» kommt! Das ist der Grundton meines Herzens, meine lebendige Hoffnung, die mich mit beglückender Freude erfüllt. Sie übertönt alles andere. Sie beherrscht alle meine Stunden und regelt all mein Tun und Lassen!
Andere Gläubige – wir reden jetzt nicht von den Christen, die sich erlauben, zu dieser biblischen Wahrheit ein Fragezeichen zu setzen – stützen sich ebenso sehr auf die bezüglichen Aussprüche und Verheissungen der Schrift. Sie können dir die darin enthaltene Lehre von der Wiederkunft Christi geläufig auseinandersetzen. Sie werden dir auch sagen können, dass vor diesem Geschehnis kein prophetisches Ereignis mehr stattfinden muss. Sie sind auch überzeugt, dass die sittlichen Zustände in den christianisierten Ländern um uns her genau der tiefernsten Beschreibung des Apostels entsprechen, womit er in 2. Timotheus 3,1-9 und anderen Stellen die «letzten Tage der Christenheit» vor den Gerichten charakterisiert. Sie können dir in der Schrift deutlich nachweisen, dass der Herr Jesus seine Versammlung, die Erlösten, vor diesen Gerichten zu sich entrücken wird. Aber vor unserer Frage werden diese Gläubigen dennoch ehrlich bekennen müssen: Nein, ich habe den Herrn nicht «heute» erwartet. Theoretisch wohl, aber nicht praktisch. Mein Herz hat sich daran gewöhnt, zwischen dem jetzigen Augenblick und seinem Kommen unbewusst eine unbestimmte Zeitspanne einzuschalten!
Die Gläubigen der zweiten Gruppe unterscheiden sich also von den ersten dadurch, dass sie vor ihre Hoffnung einen gewissen Zeitraum einfügen, während dem sie den Herrn praktisch nicht erwarten. Sie erschrecken vielleicht, wenn sie das, was sie bis jetzt nicht so deutlich formulierten, hier nun schwarz auf weiss geschrieben finden. Aber gerade dieser «Zeitraum», wir fühlen es – ist der entscheidende Punkt. Er verändert den Charakter der Hoffnung. Er macht aus einer alles beherrschenden heutigen Erwartung ein späteres Ereignis, dem noch eine mehr oder weniger lange irdische Lebenszeit vorgelagert ist. Vielleicht nimmt dann diese Lebenszeit auf der Erde unser ganzes Sinnen und Denken gefangen, das doch auf die glückselige Hoffnung gerichtet sein sollte! Ihre belebende und reinigende Kraft (1. Joh 3,3) geht uns verloren, wenn wir den Herrn nicht «heute» erwarten.
Bei den jungbekehrten Thessalonichern war es nicht so. Beim Lesen der beiden Briefe, die der Apostel an sie richtete, merken wir deutlich, dass die Hoffnung auf das Kommen des Herrn sie erfüllte und nicht durch einen auf das Irdische gerichteten Sinn vermengt war. Sie hatten sich «den Götzenbildern zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten, den er aus den Toten auferweckt hat – Jesus, der uns errettet von dem kommenden Zorn» (1. Thes 1,9.10). Gott dienen und Jesus erwarten, das war nun ihr Lebensprogramm. Da sie in der Erwartung des «Tages» lebten, an dem jede Mühe für den Herrn belohnt wird, waren sie auch voller Eifer, dem lebendigen Gott zu dienen, den sie nun kennen durften (vgl. auch 1. Kor 15,51-58.)
Als sie sahen, dass einzelne ihrer Mitgeschwister entschliefen, wurden sie betrübt. Da sie darüber nicht belehrt waren, meinten sie, die Entschlafenen würden nun nicht dabei sein, wenn sie, die Lebenden, vom Herrn heimgeholt würden. (Sie setzten keineswegs voraus, dass auch sie alle entschlafen könnten: ihre Hoffnung war lebendig.) Welche Ermunterung musste es für sie gewesen sein, als der Apostel ihnen durch den Heiligen Geist schrieb, dass die entschlafenen Heiligen zugleich mit den dann noch lebenden Gläubigen entrückt werden! (1. Thes 4,13-18).
Die Thessalonicher wussten genau, dass der Herr uns den Zeitpunkt seiner Wiederkehr nicht mitgeteilt hat. Sie wussten, dass «sein Tag», seine Erscheinung für die Welt plötzlich da sein würde, wie ein unerwünschter Dieb. Sie aber erwarteten zuvor sein Kommen für die Seinen als ein Freudenereignis ohnegleichen (1. Thes 5,1-3).
Die tägliche Erwartung des Herrn schliesst allerdings nicht aus, dass wir im Blick auf kommende Tage oder Zeiten Massnahmen treffen müssen, für den Fall, dass wir noch eine Weile auf der Erde leben werden. Das ist selbstverständlich. Der Landwirt z.B. wird seine Felder bestellen, der junge Mensch sich auf einen Beruf vorbereiten usw. Der Gedanke an das Kommen des Herrn soll uns nicht abhalten, fleissig zu arbeiten, damit wir «unser eigenes Brot essen» können und in Bezug auf unsere irdischen Bedürfnisse «niemandem beschwerlich fallen.»
In Thessalonich waren einzelne Brüder, die «unordentlich wandelten», indem sie nicht mehr arbeiteten und daher anderen zur Last fielen (2. Thes 3,6-15). Die ständige Erwartung der Wiederkunft Christi soll ja unsere Herzen mit dem Himmel verbinden und sie von den Dingen hier auf der Erde lösen. Diese Brüder blieben aber hierin nicht nüchtern und hörten vielleicht auch auf die trügerischen Stimmen, die behaupteten, der Tag des Herrn sei schon da (2. Thes 2,2). Sie folgerten daraus, es habe daher keinen Zweck mehr, für den eigenen Lebensunterhalt hier auf der Erde zu sorgen. Gegen eine solche Haltung nahm der Apostel ganz entschieden Stellung. Solche Brüder mussten in der Versammlung öffentlich bezeichnet werden und man durfte keinen Umgang mit ihnen pflegen, damit sie so zurechtgewiesen würden.
Wie schlimm können die Folgen sein, wenn wir den Herrn nicht täglich, nicht «heute» erwarten.
Was tat jener Knecht, der da sagte: «Mein Herr bleibt noch aus»? Er fing an, seine Mitknechte zu schlagen und zu essen und zu trinken mit den Betrunkenen (Mt 24,48-51). Jener Knecht machte eine falsche Rechnung. Er sagte sich: Weil der Herr nun solange nicht gekommen ist, so wird es auch noch lange dauern bis zu seiner Rückkehr, wo ich mich dann vor Ihm verantworten muss.
Nach unserer Aufnahme in den Himmel kommt ja auch für uns der Augenblick, wo wir vor dem Richterstuhl Christi erscheinen müssen, nicht um gerichtet, aber um offenbart zu werden (2. Kor 5,10). Wenn wir nun aber in unserem Herzen sagen: «Mein Herr bleibt noch aus», wenn wir also zwischen dem jetzigen Augenblick und seiner Wiederkunft einen Zwischenraum setzen, so hat das zur Folge, dass wir nicht mehr an den Richterstuhl denken. Wir werden uns in der Welt heimisch machen und vielleicht gar an ihren Vergnügungen teilnehmen («essen und trinken mit den Betrunkenen»).
In Matthäus 25,1-13 sehen wir noch eine andere Folge: Konnten die klugen Jungfrauen den törichten eine Hilfe sein, während sie schliefen? Als sie beim Mitternachtsruf: «Siehe, der Bräutigam! Geht aus, ihm entgegen!» endlich aufwachten, und die törichten Jungfrauen entdeckten, dass sie kein Öl hatten – welchen Rat gaben sie ihnen da? «Geht lieber hin zu den Verkäufern und kauft für euch selbst.» Als diese aber hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam, und die Törichten fanden eine verschlossene Tür vor! Wie gut wäre es doch gewesen, wenn sie ihnen diesen Rat vorher gegeben hätten! – Immer, wenn wir das Kommen des Herrn vor Augen haben, denken wir auch an das Los derer, die noch nicht erlöst sind, und wir bemühen uns eifrig, sie «heute» zum Herrn Jesus zu führen, weil sie ja auch aufgerufen sind, «heute» Buße zu tun und an Ihn zu glauben.
Junge Christen sind versucht zu denken: Ich will später einmal mit Entschiedenheit den Pfad der Treue gehen; aber wir Jungen müssen doch zuerst noch unsere Erfahrungen machen in der Welt. Ich möchte später auch eine gute Kenntnis des Wortes Gottes haben, zu meinem eigenen Wachstum und zu einem nützlichen Dienst unter den Menschen; aber zuvor möchte ich noch dieses und jenes lesen und studieren.
Ältere Christen neigen dazu, es sich bequem zu machen und das, was im Dienst des Herrn Kraft, Entschiedenheit und Selbstaufopferung erfordert, auf morgen oder auf später zu verschieben. Und so betrügen wir uns selbst und verfehlen die uns von Gott auf den Weg gelegten Werke, Aufgaben und Gelegenheiten.
Wir entgehen dieser Gefahr, wenn wir «heute» unseren geliebten Herrn aus den Himmeln erwarten. Wir werden dann «heute» daran erinnert, dass der Zorn Gottes über diese Welt kommen wird. Wir werden dann «heute» die Zeit auskaufen und «heute» dem lebendigen Gott dienen.
Möchte es doch jeden Morgen unser erster Gedanke sein: Vielleicht kommt der Herr «heute»!