Dieses Kapitel beschreibt und kennzeichnet zwei ganz verschiedene Dinge: Die Religion, die nach dem Menschen ist und das gottgemässe Christentum.
Vergessen wir nicht, dass der Mensch zu einer Religion neigt. Er hat den Grundsatz, dass er sein Bestes tun müsse, um die Gunst Gottes zu verdienen, sein Wohlgefallen zu erwerben und die eigenen Sünden auszutilgen. Mit einem Wort: Er will etwas tun, das ihm in den eigenen Augen und in denen der anderen Wichtigkeit gibt und ihm erlaubt, Gott zu nahen. Der Mensch meint, dies sei der gottgewollte Weg, den er zu beschreiten habe. Hat Gott nicht ein Gesetz gegeben, das ihm sagt: «Tu dies, und du wirst leben»? (Lk 10,28). Saulus von Tarsus, der in der strikten Beachtung des Gesetzes erzogen worden war, befand sich auf diesem Weg.
Er wurde «beschnitten am achten Tag.» Man hat es nicht am siebten und auch nicht am neunten Tag getan, weder zu früh noch zu spät, sondern genau an dem Tag, den Gott im Gesetz vorgeschrieben hatte (1. Mo 17,12; 3. Mose 12,3).
Er war ein «Hebräer von Hebräern»: Soweit er in seinem Geschlechtsregister zurückblicken konnte, sah er nur Nachkommen Abrahams. Man rühmt sich eines unbefleckten Geschlechtsregisters und sagt gerne: «Ich komme aus einer guten und ehrbaren Familie.» Der Apostel besass dieses Vorrecht in hohem Mass.
«Aus dem Stamm Benjamin»: Das Gericht Gottes hatte diesen Stamm einst beinahe ausgelöscht; er wurde dann aber wiederhergestellt und es wurden ihm sogar besondere Verheissungen gegeben. Er hatte neben dem Stamm Juda einen Ehrenplatz und blieb dem Haus Davids treu.
Er war «Pharisäer», nicht ein ungläubiger Sadduzäer, der die göttlichen Wahrheiten leugnete, sondern Glied einer Sekte, die sich durch striktes Anhangen an dem Gesetz und den Propheten auszeichnete. Auch wurde er zu den Füssen des grossen Lehrers Gamaliel auferzogen.
Wenn er sich hier «ein Verfolger der Versammlung» nennt, so spricht er nicht als von einer demütigenden Sache, sondern als von einem Beweis seines grossen Eifers für Gott. Er hing dermassen am Gesetz und am Dienst Gottes, dass sein Gewissen ihn sogar zwang, Menschen zu verfolgen, die sich ausserhalb des vom Gesetz vorgezeichneten Weges versammelten und so die göttliche Ordnung zu zerstören schienen. Er war, wie der reiche Jüngling im Markus 10 unbefleckt und untadelig bezüglich der äusseren Beachtung des Gesetzes.1
Was hat uns der Apostel nach dieser ganzen Beschreibung seines früheren Lebens vom Resultat aller seiner Anstrengungen zur Erlangung der Gerechtigkeit zu sagen? Dass ihn das Gesetz getötet hat! Tatsächlich, das Gesetz vermag den Menschen nicht in die Segnung einzuführen; es kann nur ein unbedingtes Gericht über ihn aussprechen. Es gibt ihm nicht das Leben. Unter Androhung der Verdammnis fordert es Gehorsam und stellt ihn unter den Fluch, da er diesen Gehorsam nicht erfüllen kann. Es ist dem Menschen unmöglich, zu wollen, was Gott will, und Ihm wohlzugefallen. Sein ganzes Leben der Eigengerechtigkeit endigt mit einem vollständigen Zusammenbruch. Wenn es ihn in die Gegenwart Gottes führt, so nur, damit er dort die unbedingte Verurteilung seines ganzen Lebens vernehme. Die gesetzliche Religion hat das Volk Israel nur unter den Fluch gebracht,2 und es ist eine verhängnisvolle Illusion zu meinen, dieser Weg sei der Weg der Glückseligkeit.
Wie kann man von dieser falschen Religion zum wahren Christentum gelangen? Die weitere Geschichte von Paulus sagt es uns.
Seine Religion hatte ihn zum offenen Hass gegen Christus und somit zum Hass gegen Gott geführt. Dieser Hass trieb ihn zum Angriff. Natürlich konnte er nicht in den Himmel steigen, um Christus anzugreifen; er glaubte ja nicht einmal, dass Er in der Herrlichkeit sei. Aber, ohne es zu wissen, verfolgte er Ihn in der Person seiner Heiligen.
Doch dann wurde er durch Christus aufgehalten. Zweimal in der Apostelgeschichte schildert er seine Bekehrung und auch in den Briefen spricht er oft davon, weil die Sache für seine Seele und für uns alle wichtig ist.
Die Stimme, die sich aus der Herrlichkeit an ihn richtete, war nicht eine schreckliche Stimme des Gerichts, sondern der Gnade. Sie redete zu ihm persönlich, so dass nur er sie verstehen konnte. «Saul, Saul!» Wenn ich jemanden bei seinem Namen rufe, so ist dies eine Bezeugung der Zuneigung und der Vertrautheit. Christus sagte gleichsam: «Was hast du für eine Ursache, mir Böses zu tun? Was habe Ich dir getan? Nenne mir die Gründe! Nimm dich wohl in Acht, wenn du meinem Ruf widerstehst, so wird mein Stachel in dein Fleisch eindringen!»
Wie übte doch dieses Zwiegespräch, das dort vor Damaskus stattfand, eine so mächtige Wirkung auf ihn aus! Dass die Gnade sich sogar ihm, dem Feind, dem Lästerer gegenüber offenbarte, demütigte ihn tief, und jedes Mal, wenn er daran dachte. Auf diese Weise wurde er in die Gegenwart Christi gebracht. – Wenn das göttliche Licht in die Seele eingedrungen ist, bringt es Erkenntnis seiner Person hervor. Ich lerne dann, dass der, der ein Recht hätte, mich zu verdammen, nur Gedanken der Liebe für mich hat.
Das Herz Sauls schmolz angesichts einer solchen Gnade. Später kam er immer wieder darauf zurück und wurde nie müde, seine Geschichte zu erzählen. Nun hatte er einen Anziehungspunkt für sein Herz gefunden, in dem er alles besass: Gerechtigkeit, Frieden, Freude und Heil. Fortan war alles, was nicht Christus ist, Verlust für ihn. Er machte kurzen Prozess mit allen seinen bisherigen Vorrechten und Vorteilen, und er wollte vom alten Saulus nichts mehr behalten. Alles was man ihm neben Christus anbieten konnte, war für ihn nichts anderes mehr als «Dreck». Der Gedanke beherrschte ihn: «Er hat mich geliebt, als ich Ihn hasste!» Wer sollte sich da nicht völlig von Ihm angezogen fühlen?
Paulus hatte nicht nur am Anfang seiner christlichen Laufbahn alles für Verlust geachtet, sondern fuhr fort, allem zu entsagen, weil Christus seine ganze Seele erfüllte. «Ich achte auch alles für Verlust» Er hatte immer noch zu lernen, und in der Erkenntnis Christi zu wachsen. Christus ist unerschöpflich und wird immer der Gegenstand unserer Zuneigungen bleiben. «Die Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu» steht allezeit vor uns.
Wenn Christus für meine Seele nicht grösseren Wert hat, als die Dinge hier auf der Erde, werde ich zu diesen zurückkehren. Das ist der Weg, der zum Zustand der Bekenner ohne Wirklichkeit führt, der am Ende des Kapitels beschrieben wird. «Sie wandeln», das heisst sie bekennen, auf dem christlichen Wege zu sein, aber wie schrecklich ist ihr sittlicher Zustand! Sie sind dahin gekommen, weil ihr Herz nicht seine Freude und seinen Gegenstand in Christus allein findet.3
Wenn ein Kind einen gefährlichen Gegenstand in seiner Hand hält, den ihm seine Mutter wegnehmen möchte, so wird es nicht das Beste sein, ihm diesen zu entreissen, sondern ihm einen besseren zu geben. Das ist es, was Paulus gefunden hatte: Einen weit vortrefflicheren Gegenstand für sein Herz. Daher wollte er nicht, dass man von seiner menschlichen Gerechtigkeit sprach, noch auch von seinen Vorrechten unter Gesetz, oder von ihm, als dem grossen Apostel der Nationen. Christus allein war es, der für seine Seele alles bedeutete; Er war seine Gerechtigkeit, sein Lebensinhalt, sein Ziel und sein Zweck. Es ging ihm nur noch darum, «in ihm gefunden zu werden». Er sah sich schon am Ende seiner Laufbahn als in Ihm vor Gott dargestellt, in Christus verborgen, so dass absolut nichts mehr von Paulus übrig blieb.
Der Besitz und Genuss dieses Gegenstandes verwandelt das Leben völlig und verleiht dem Gläubigen den Charakter eines auferstandenen Menschen. Paulus wollte Ihn unter diesen beiden Wesenszügen kennen:
- in der Kraft seiner Auferstehung und seines Lebens,
- in der Gemeinschaft seiner Leiden.
Ein solcher Weg setzt Selbstverzicht und Absonderung von der Welt voraus; er führt zu Schmach, zu Verachtung und zu Verfolgung seitens der Welt. Dieses Leben, das sich in Christus im Himmel findet, entfaltet sich in den Gläubigen inmitten der Menschen auf der Erde und führt hier auf der Erde himmlische Grundsätze ein, die den Grundsätzen, die das Herz der Menschen regieren, ganz entgegengesetzt sind und ihren Hass gegen Gott entfacht.
Bezüglich seiner Seele war Paulus schon im Himmel, mit Christus auferweckt. Im Blick auf seinen Leib aber befand er sich unter den Menschen als ein zerbrochenes Gefäss. Alle seine Interessen und sein Bürgertum waren anderswo. So ist es auch mit allen Gläubigen hinsichtlich ihrer Stellung in Christus.
Aber verwirklichen wir diese Stellung? Wenn man uns aufforderte, auf einem Blatt Papier zu notieren, was sich in unserem Zimmer befindet, wären da so viele Dinge, dass das Blatt nicht gross genug wäre. Gäbe man uns aber ein anderes Blatt, um die Dinge aufzuschreiben, die sich im Himmel finden, was hätten wir da zu sagen? Vielleicht nicht viel. Weshalb? Weil wir nicht gewohnheitsmässig dort leben. Wir verwirklichen unsere himmlische Berufung zu wenig. Wir richten uns hier auf der Erde ein und vergessen, dass wir vom Himmel sind. Was hat Christus in dieser Welt gefunden? Nicht einmal das, was ein Tier des Waldes oder ein Vogel des Himmels besitzt: Er hatte keinen Ort, wo Er sein Haupt hinlegen konnte. Dem Apostel machte es wenig aus, wo der Weg hindurchführte, der ihn zur Herrlichkeit brachte. Sollte es selbst durch den Tod gehen, so nahm er es mit Freuden an.
Das Ende des Kapitels ist feierlich ernst. Es handelt sich dort nicht, sagen wir es noch einmal, um Personen, die dem Evangelium feindlich sind, sondern um Personen, die die Kraft der Wahrheit verleugnen. Sie sind Feinde des Kreuzes, weil sie das Urteil über den Zustand des Menschen nicht annehmen und das Fleisch mit allen seinen Begierden befriedigen wollen. Wenn von ihnen gesagt wird: «deren Gott der Bauch ist», so heisst dies nicht nur, dass sie das Essen und Trinken lieben, sondern dass sie ihre Ehre im alten Menschen suchen, den Gott gekreuzigt hat, und all das, was ihn befriedigen kann. Wo endet dieser Weg der Religion des Fleisches und der Welt? Im Verderben und in der Verdammnis!
Die letzten Verse zeigen uns das Ende der Religion nach Gott: den Himmel. Welch ein Gegensatz! Wir haben nur eines noch zu erwarten: die Umgestaltung unseres Leibes der Niedrigkeit zur Gleichförmigkeit mit dem Leib der Herrlichkeit Christi.
Da wir eine solche Hoffnung besitzen, so lasst uns in der Atmosphäre des Himmels leben, um in unserem Wandel hier auf der Erde deren Kraft zu offenbaren!
- 1Allerdings hatte der Herr jenem gegenüber weder das erste noch das letzte Gebot angeführt, die ihn zweifellos verdammt hätten
- 2Dabei müssen wir uns allerdings vor Augen halten, dass Gott es war, der seinem Volk – zu dessen Erprobung – das Gesetz gab. Das Gesetz war ihr Erzieher «auf Christus hin» (Gal 3,24). Nun aber ist Christus gekommen, und Er ist «des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit» (Röm 10,4).
- 3Diese Bekenner haben Ihn ja nie wirklich als ihren Heiland erkannt. ihr Wandel beweist es.