In der Geschichte des Volkes Israel sehen wir bei zwei verschiedenen Begebenheiten, wie dem Menschen nach Gottes Befehl zwei Steintafeln übergeben werden. Doch die Art und Weise ist unterschiedlich.
Gesetz ohne Gnade
2. Mose 19 – 20
Beim ersten Mal gab es ein totales Versagen. Als Gott seine Gebote mitteilte und anschliessend niederschrieb, strahlte kein Gesicht. Mose wurde nicht durch die Kraft der Herrlichkeit verklärt. Das Gesetz, schlicht und einfach wie es ist, hat noch nie das Gesicht eines Menschen zum Leuchten gebracht. Das ist weder die Absicht noch das Resultat des Gesetzes. Das Gesetz als solches ist durch Dunkelheit und Sturm, durch Donner und Blitz gekennzeichnet. Es lässt im Umgang mit der Schuld die Stimme Gottes ertönen, die mächtiger und schrecklicher ist als alle Naturgewalten. So war es bei der ersten Begebenheit, als Gott das Gesetz bekannt gab und der empörte Gesetzgeber die Tafeln zerbrach, bevor sie überhaupt bis zu den Leuten kamen (2. Mo 32,19).
Gesetz mit Gnade
2. Mose 34
Wie ganz anders war es bei der zweiten Begebenheit! Der Gesetzgeber Mose wurde in die Gegenwart Gottes gerufen, der nun bereit war, seinem Volk eine Mischung von Barmherzigkeit und Recht zu geben. Es wurde ein Bund geschlossen, der ausdrücklich aus der Vereinigung dieser beiden Charakterzüge bestand. Es war nicht das Gesetz allein und nicht die Gnade allein, sondern eine Mischung von Gnade und Gesetz. Es wäre für Gott ganz und gar unmöglich gewesen, weiter mit dem Volk Israel zu handeln und es ins Land zu bringen, wenn es nicht diese Mischung aus Gnade und Barmherzigkeit mit dem Gesetz gegeben hätte. Bei dieser zweiten Begebenheit wurde das Gesetz zwar dem Menschen übergeben. Aber Mose verschloss es in der Bundeslade, wo es mit all seinem Schrecken nicht vor den Augen des Menschen sichtbar war.
Nun denken viele Kinder Gottes, dass dies genau der Tenor des Handelns Gottes mit uns in der christlichen Zeit sei. Sie meinen, das Gesetz sei mit der Gnade vermischt, so dass die Gnade die Tätigkeit des Gesetzes verhindert. Sie ziehen den Schluss, dass uns das Gesetz schuldig spricht, aber die Gnade dazwischentritt und uns vor dem Schuldspruch schützt – und zwar gemäss dem Wort, das wir im ersten Teil von 2. Mose 34 lesen. Dort verkündet der HERR seine Langmut und Barmherzigkeit: «HERR, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und gross an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt – aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen» (Verse 6 und 7). Das ist weder Gesetz allein noch Gnade allein, sondern beides zusammen. Deshalb musste Mose, wenn er zum Volk sprach, eine Decke auf sein Gesicht legen. Wenn er jedoch in die Gegenwart Gottes trat, konnte er die Decke wegnehmen, denn in der Gegenwart von Herrlichkeit ist alles aufgedeckt. Aber solange der Mensch mit dem Gesetz zu tun hatte, obwohl es mit Gnade und Barmherzigkeit vermischt war, musste Mose eine Decke auflegen, wenn er zum Volk sprach (Verse 29-35).
Gnade ohne Gesetz
2. Korinther 3
Bemerkenswert ist nun, dass unsere Stellung im Gegensatz zu beidem steht. Wir haben weder mit dem Gesetz allein zu tun noch mit einer Mischung von Gesetz und Gnade. Wir befinden uns in der Gegenwart der Gnade und Herrlichkeit ganz ohne das Gesetz. Genau das zeigt uns der Apostel in 2. Korinther 3. Im Kontrast, den er aufzeigt, bezieht er sich nicht auf 2. Mose 19 und 20, sondern nur auf die Begebenheit in 2. Mose 34, wo das Gesetz mit Gnade vermischt war. Paulus zeigt uns, dass der damalige Dienst ein Dienst des Todes und der Verdammnis war. Dafür gibt es folgenden Grund: Sobald das Gesetz zum Zug kommt und ich mich seiner Autorität unterordnen muss, bin ich umso schuldiger, je mehr Gnade mir erwiesen wird.
Vor dem Kommen des Erlösers trat dieser völlig verurteilende Charakter im Handeln Gottes mit den Menschen nicht zutage. Als aber Christus kam, stand Gott mit äusserster Genauigkeit und all seiner Autorität zu seinen Prinzipien. Der Grund dafür lag darin, dass Einer gekommen war, der alle Probleme lösen, allen Bedürfnissen begegnen und von aller Not und Gefahr befreien konnte. Gott war so konsequent, weil sein Sohn Mensch geworden war und sich als Sohn des Menschen bereit erklärt hatte, am Kreuz zu leiden, anstatt die Ihm zustehende Herrlichkeit anzutreten.
Deshalb steht unsere Stellung in einem deutlichen Kontrast zur Situation im Volk Israel: «Wenn der Dienst der Verdammnis Herrlichkeit hat, so ist noch viel mehr der Dienst der Gerechtigkeit überströmend in Herrlichkeit» (Vers 9). Der Dienst, den der Apostel ausübte, bringt uns nicht in die Stellung der Israeliten. Nein, Paulus möchte uns zeigen, dass unsere Position dem Platz entspricht, den Mose einnahm, als er sich ohne Decke in der Gegenwart Gottes befand. Das aufgedeckte Angesicht ist das Kennzeichen unserer christlichen Stellung. Sie entspricht nicht dem verhüllten Menschen, vor dem sich die Israeliten fürchteten, weil sie die Herrlichkeit, die auf seinem Gesicht strahlte, nicht ertragen konnten. Unsere Position kommt vielmehr dem Menschen gleich, der sich mit aufgedecktem Angesicht in der Gegenwart Gottes befindet. Das ist die Stellung aller Christen, wenn sie es nur wüssten! Der letzte Vers macht es deutlich: «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist» (Vers 18).