Gedanken zur Prophetie im Buch Ruth (1)

Ruth 1

Einleitung

Drei Frauen

Es gibt drei Bücher im Alten Testament, in denen eine Frau im Vordergrund steht. Es sind die Bücher Ruth, Esther und das Lied der Lieder. In diesen Büchern geht es jeweils um das Entstehen einer Beziehung zwischen einem hochgestellten, vermögenden Mann aus der königlichen Linie und einer unbedeutenden Frau geringer Herkunft, die ohne jedes Anrecht dasteht.

Diese Geschichten haben eine prophetische Bedeutung. Sie illustrieren uns aus verschiedenen Blickwinkeln die Art und Weise, wie der Herr Jesus sich in Zukunft mit seiner irdischen Braut verbinden wird. Der Herr Jesus wird tatsächlich noch einmal eine Beziehung mit seinem irdischen Volk Israel eingehen, das Er für eine Zeit beiseitegesetzt und das durch eigene Untreue alles verloren hat, was es einmal als Gottes Volk besessen hat.

In der Zeit der Richter

Die Ereignisse im Buch Ruth spielen sich in einer sehr dunklen Zeitepoche ab. Es war die Zeit, als die Richter in Israel richteten (Rt 1,1). Sie war dadurch gekennzeichnet, dass jeder tat, was recht war in seinen Augen (Ri 21,25). Nachdem die Ältesten aus der Zeit Josuas gestorben waren, fiel Israel sehr bald von seinem Gott ab: «Sie verliessen den HERRN, den Gott ihrer Väter», und verfielen dem Götzendienst der Kanaaniter. Deshalb musste Gott immer wieder feststellen, dass sie taten, was böse war in seinen Augen (Ri 2,11; 3,7.12; 4,1; 6,1; 10,6; 13,1).

Das Buch der Richter liefert daher eine Reihe sehr trauriger Geschichten, die das Versagen des Menschen und den Niedergang im Volk Gottes deutlich machen. Das ganze Buch zeigt eine Linie, die abwärts führt und immer dunkler wird.

In leuchtendem Gegensatz dazu steht das Buch Ruth. Es zeigt uns vor diesem düsteren Hintergrund die göttliche Gnade. Wir sehen den Gott aller Gnade, der da zu wirken beginnt, wo der Mensch völlig versagt und alles verloren hat. Er erfüllt Verheissungen, obwohl der Mensch alle Anrechte darauf verspielt hat.

Aus der Geschichte von Boas und Ruth lernen wir, wie der Herr Jesus in der Zukunft die Verbindung mit seinem irdischen Volk Israel wieder aufnehmen wird. Aus reiner Gnade wird Er mit dem treuen Überrest anknüpfen. Er wird aufs Neue mit diesem Volk anknüpfen, das sich in der Vergangenheit so treulos von seinem Gott abgewandt und dadurch alles verloren hat, was es einmal besass: seine Stellung als Volk Gottes und jedes Anrecht auf Segen.

In kurzen, prägnanten Bildern illustriert uns der Heilige Geist in diesem Buch Israels Vergangenheit und seinen gegenwärtigen Zustand, um dann in einer sehr schönen Weise seine zukünftige «Rückkehr» und Annahme darzustellen, wenn der vermögende Mann aus der Familie Elimelechs in freier Gnade als Löser für Israel eintreten wird. Als der «wahre Boas» wird Christus sich wieder mit seinem Volk «vermählen» (Jes 54,5-8; 62,5) und das verloren gegangene Erbteil zurückkaufen (5. Mo 25,5-10; 3. Mo 25,25-28).

Vergangenheit und Gegenwart des Volkes Israel

Elimelech und Noomi

Das Buch Ruth beginnt mit der Geschichte einer Familie, die Israel in seinen alten Vorrechten trefflich darstellt: Elimelech und Noomi. Ihre Namen bringen zum Ausdruck, was Israel als Gottes Volk kennzeichnete. Dabei zeigt der Name des Mannes – Elimelech –, was Gott für Israel war, und der Name der Frau – Noomi –, was Israel für Gott bedeutete.

Elimelech bedeutet «Mein Gott ist König». Gott hatte sich tatsächlich mit den Israeliten in einer besonderen Weise verbunden. Er bezeichnet sich als ihr Gott (2. Mo 6,7; 3. Mo 26,12), der auch ihr König sein wollte (2. Mo 15,18; 4. Mo 23,21; 1. Sam 8,7). Darin unterschied sich Israel von allen anderen Völkern.

Noomi bedeutet «Liebliche». Gott hatte tatsächlich Gefallen an diesem Volk. Er hatte Israel geliebt, hatte es für sich erwählt und es bildhaft als seine Frau bezeichnet, mit der Er den «Ehebund» eingegangen war (5. Mo 7,6-8; 10,15; Jer 3,14; 31,32; Hes 16,8).

Hungersnot

Leider blieb von diesen Merkmalen schon zu Beginn der Geschichte nicht viel übrig. Das erste Ereignis im Buch Ruth ist eine Hungersnot während der Richterzeit. Das ist bemerkenswert, denn Israel im Bild der Familie Elimelechs wohnte in «Bethlehem» (= Brothaus), d.h. in einem Land, wo Gott seinem Volk den Segen verheissen hatte. Wenn die Israeliten fleissig auf seine Stimme hören und auf seinen Wegen wandeln würden, wollte Er ihnen den Früh- und den Spätregen geben, und sie würden essen und satt werden (5. Mo 11,13-15).

Als jeder in Israel tat, was recht war in seinen Augen, entstand jedoch eine Hungersnot im Land. Das war kein zufälliges Ereignis. Vielmehr benutzte Gott in seinen Regierungswegen Hungersnöte, um sein Volk zu züchtigen, wenn es gesündigt und sich von Ihm abgewandt hatte (1. Kön 8,35-40; 2. Chr 6,26-31). Gott wollte die Menschen dadurch aufrütteln und an ihre Gewissen appellieren, um sie zur Umkehr zu bewegen. Wie oft hat Gott sich um sein Volk bemüht, nicht nur in der Zeit der Richter, sondern auch später in der Zeit der Könige! Wie oft hat Er seine Propheten gesandt, «früh sich aufmachend und sendend», um sein Volk zur Einsicht zu bringen (Jer 7,25; 25,4)!

Aber so wie Elimelech nahmen sie Gottes ernste Appelle nicht zu Herzen. Obwohl der HERR sie wiederholt gezüchtigt hat, haben sich die Israeliten immer wieder in ihren Herzen von Ihm abgewandt und den Weg nach «Moab» gewählt. Das heisst, sie haben ihren Gott verlassen und sich dem Götzendienst der umliegenden Völker zugewandt. Als Folge davon hat Gott sie in die Hände der Nationen gegeben. Wie Elimelech stehen sie gewissermassen als Folge ihrer selbst gewählten, eigenwilligen Wege ausserhalb des Landes, ausserhalb aller Vorrechte und Segnungen, die sie einmal besassen.

Tod in Moab

Das erste Ereignis, das uns aus Moab berichtet wird, ist Elimelechs Tod. Damit starb sozusagen das Zeugnis, dass Gott ihr König war. In der Geschichte Israels hat sich dies bewahrheitet: Weil das Volk sich von seinem Gott abgewandt hat, weil es den HERRN, der sein König sein wollte, verlassen hat, hat auch Gott die Beziehung zu seinem Volk aufgegeben. Seit dem babylonischen Exil hat Gott seinen Thron der Herrschaft in Israel aufgegeben und die Herrschaft den Nationen übergegeben (Dan 2,37.38). Die Herrlichkeit des HERRN, die sich in Hesekiels Vision aus dem Tempel und der Stadt Jerusalem erhob und in den Himmel zurückzog, liefert dazu eine eindrückliche Illustration (Hes 9,3; 10,3.18; 11,23). Seither ist Gott nicht mehr der Gott Israels, und Israel ist nicht mehr das Volk Gottes. «Lo-Ammi» (= Nicht-mein-Volk) lässt Gott durch den Propheten Hosea ausrufen, «denn ihr seid nicht mein Volk, und ich will nicht euer sein» (Hos 1,9).

Das ist Israels Zustand seit der babylonischen Gefangenschaft bis heute. Zwar bewirkte Gott noch einmal ein Aufleben, als Er den Juden eine Rückkehr aus dem Exil schenkte. Es war allerdings nur ein kleiner Überrest aus dem Zwei-Stämme-Reich, der unter dem Perserkönig Kores und seinen Nachfolgern zurückkehrte. Ihnen hat Gott in seiner Gnade den Messias gesandt. Doch sie haben Ihn abgelehnt und gekreuzigt. Deshalb hat Gott sein Urteil «Lo-Ammi» über sein Volk noch einmal bestätigt: Er hat jede Beziehung zu Israel, auch zu dem damaligen Überrest, vollständig abgebrochen und sein Volk beiseitegesetzt. Der Tod der beiden Söhne Machlon und Kiljon ist wohl ein Hinweis darauf.

Aus Noomi wird Mara

Von der Familie Elimelechs ist eine vereinsamte und verarmte Witwe übrig geblieben, die alles verloren hat (Jes 47,9). Das ist Israels Zustand bis heute. Aus Noomi, der Lieblichen, die Gott als sein Volk und als seine Frau bezeichnete (Jer 3,14; 31,32), ist Mara – eine Bittere und Betrübte – geworden. Denn der Allmächtige hat es ihr sehr bitter gemacht (Klgl 1,2.12). Die Menschen aus Israel haben die Wahrheit der Worte Jeremias erfahren: «So erkenne und sieh, dass es schlimm und bitter ist, dass du den HERRN, deinen Gott, verlässt» (Jer 2,19). In Zukunft wird Gott es ihnen sogar noch bitterer machen, wenn Er eine grosse Drangsal – die «Drangsal für Jakob» – über sie bringen wird (Jer 30,4-7).

In dieser dunklen und hoffnungslosen Zeit wird Gott in seiner Gnade ein Werk der Wiederherstellung an seinem Volk beginnen. «Wie eine verlassene und im Geist betrübte Frau» wird Gott sie rufen (Jes 54,6). Er wird «sie locken und sie in die Wüste führen und zu ihrem Herzen reden» (Hos 2,16; vgl. Rt 2,13). So wird Er Buße und Umkehr im Herzen der Menschen des Überrests bewirken. Dann werden sie wieder anfangen, nach ihrem Gott zu fragen, von dem sie sich so treulos abgewandt haben, und werden zu Ihm umkehren (Hos 6,1; Mich 5,2). Diese Umkehr wird durch Noomi dargestellt, die sich aufmachte und nach Bethlehem zurückkehrte, nachdem sie gehört hatte, dass Gott sein Volk mit Brot versorgte.