Die Gebote des Herrn

«Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade» (Röm 6,14). Dieser Satz wird oft falsch verstanden. Viele lesen ihn so: «Wir sind jetzt vom Gesetz losgemacht und können – innerhalb gewisser Grenzen – das tun, was wir wollen.»

Solche Christen könnte man mit einem Pferd vergleichen, das soeben losgelassen wurde und sich nun im Freien tummelt. Es galoppiert davon, macht Sprünge, oder steht still und frisst Gras, gerade so, wie es ihm beliebt. «Mein Herr ist ja gnädig und wird mich nicht mehr, wie früher, ins Geschirr legen und an den Wagen spannen.»

Gewiss, Gottes Wort sagt: «Ihr seid zur Freiheit berufen worden», aber es fügt hinzu: «nur gebraucht nicht die Freiheit zu einem Anlass für das Fleisch» (Gal 5,13). Auch stellt es die Frage: «Sollten wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind?» (Röm 6,15). Wir sind frei vom alten Dienst des Gesetzesbuchstabens, um Gott in dem neuen des Geistes zu dienen. Wir sind nicht mehr unter dem Joch des Gesetzes, das kein Mensch zu tragen vermochte; dafür aber legt der Herr sein sanftes Joch auf uns. Wir sind nicht mehr den Geboten des Gesetzes Mose unterworfen; dafür aber erwartet der Herr von uns, dass wir seine Gebote halten.

Die Gebote des Herrn setzen jedoch voraus, dass in den Menschen, an die sie sich richten, eine tiefgreifende Veränderung stattgefunden hat:

Der Mensch, so wie er geboren wird, besitzt nichts anderes als seine eigene, durch die Sünde verdorbene Natur, in der Schrift «das Fleisch» genannt. Es wohnt nichts Gutes darin. Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht (Röm 8,7). Wird ein solcher Mensch dennoch unter die Gebote des Gesetzes gestellt, so erweist sich seine Natur, das Fleisch, als völlig kraftlos, sie zu tun (Röm 8,3). Die in ihm wohnende Sünde nimmt vielmehr durch das Gebot Anlass und bewirkt jede Begierde in ihm (Röm 7,8). Darum sind die Werke des Fleisches so unverbesserlich schlecht. (Siehe Gal 5,19-21; Röm 3,10-18).

Gelangt aber der Mensch durch den Glauben an Jesus Christus zur Neugeburt, so gehört er zu den Erlösten, von denen das Wort sagt: «Die aber des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und den Begierden» (Gal 5,24), und: «Wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden» (2. Kor 5,17). Er hat nicht nur neues Leben empfangen, sondern auch den Heiligen Geist als die Kraft dieses Lebens.

Wie sich die alte Natur nach bestimmten, unabänderlichen Gesetzen, nach «dem Gesetz der Sünde und des Todes» kundtat, so hat auch dieses neue Leben in Christus, seine arteigenen Regungen, seinen ganz bestimmten Charakter. Seiner Natur nach entspricht es dem Leben Christi selbst, so, wie Er es hier auf der Erde, inmitten einer gefallenen Welt, in allen Wechselfällen der Umstände und angesichts des Widerstandes der Sünder offenbarte. Wer daher sagt, «dass er in ihm bleibe» – also von neuem geboren sei und in Christus neues Leben habe – «ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat» (1. Joh 2,6). Nach dem Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus (im Sinn von Naturgesetz) muss sich das Leben im Gläubigen in derselben Weise zeigen, wie es sich beim Herrn Jesus selbst geäussert hat.

Da dem so ist, was braucht der Wiedergeborene noch Gebote? Tut sich denn bei ihm das Leben nicht von selbst in der göttlichen Weise kund? So mag man fragen.

Ist der Gläubige auch nicht mehr «im Fleisch», sondern «im Geist» (Röm 8,9), und verwirklicht er es auch, dass «das Fleisch» im Tod Christi gekreuzigt worden ist, so ist es doch noch in ihm, begehrt gegen den Geist Gottes in ihm und ist dem Geist entgegengesetzt (Gal 5,16-21). Der Gläubige hat also fortwährend zu wachen und zwischen den Regungen des Fleisches und den Äusserungen des Lebens im Geist zu unterscheiden, damit er nicht fleischlich, sondern geistlich lebt. Dazu hat er die Leitung des Heiligen Geistes und die Gebote des Herrn nötig, um zu wissen, wie sich das Leben aus Gott in jedem Lebensumstand fortwährend offenbaren soll.

Zu diesem Zweck führt ihm der Heilige Geist immer und immer wieder die Person des Herrn vor Herz und Gewissen. Sein göttliches, vollkommenes Leben und seine Worte sind es, die für uns den Ausdruck des Willens Gottes und die Gebote des Herrn darstellen. Sie sind uns nicht in einer langen Liste von Forderungen gegeben.

Der Welt zugewandte, fleischlich gesinnte Christen, von denen man Besseres erwarten dürfte, fragen oft herausfordernd, ob es denn in diesem und jenem Fall ein klar umschriebenes Gebot oder Verbot gebe! – Gewiss, auch im Neuen Testament sind Vorschriften zu finden, doch handelt es sich dabei mehr um Grundsätze und nicht so sehr um vorgeschriebene einzelne Schritte im Christenleben mit der Aufforderung: «Du sollst!» Wenn aber die Liebe Christi mich erfüllt, wenn Er mein Anziehungspunkt ist, wenn ich also «in Ihm» bin und bleibe, so sind mir sein Leben und seine Worte Anweisung genug. Ich suche dann in allen Dingen seinen Gedanken und seine Wünsche für meinen Weg daraus zu erkennen. Und in dem Mass, wie ich sie erkenne, werde ich mich durch kein Hindernis aufhalten lassen, sie zu erfüllen. Trotz Abwesenheit von ins Einzelne gehenden Geboten werde ich so zu seinem Wohlgefallen dienen und «durch die Erbarmungen Gottes» seinen guten, wohlgefälligen und vollkommenen Willen erfüllen können.

Das «neue Gebot» (Joh. 13,34) oder «mein Gebot» (Joh 15,12), das der Herr uns im Besonderen gab, besteht darin, dass wir einander lieben; «damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet». (Siehe auch 1. Joh 4,21 und 2. Joh 5.6). Wenn Johannes vom «alten Gebot, das ihr von Anfang hattet» (1. Joh 2,7), schreibt, so meint er damit die Gebote des Herrn, die sie von Anfang an hatten, im Gegensatz zu dem Neuen, Falschen, das der Menschengeist damals schon als «fortschreitende Entwicklung der Lehre» ausgab.

Die Gebote Christi sind also der Ausdruck des Weges seines eigenen göttlichen und vollkommenen Lebens. Sie wurden nicht mit der Verheissung gegeben: «tue dies und lebe», sondern unter der Voraussetzung, dass die an Ihn Glaubenden Leben besitzen. Wenn wir in seinen Geboten wandeln, werden wir alles, was aufgrund unserer Vereinigung mit Ihm droben unser Teil ist, ungehindert geniessen. Dieser Weg des göttlichen Lebens auf der Erde, auf dem Er selbst gewandelt hat und dabei in der Liebe des Vaters geblieben ist, ist auch für uns der Weg, auf dem wir in seiner Liebe bleiben können.

Ist das Wort des Herrn: «Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote» (Joh 14,15) für uns nicht ein mächtiger Ansporn? Wer im Geist wandelt und unter den wärmenden Strahlen der Liebe seines Herrn lebt, wird sagen: «Seine Gebote sind nicht schwer!»