Das wahre Wesen der Gnade Gottes ist, dass sie frei und bedingungslos ist. Der Weg, sie zu empfangen – über Buße und Glauben – ist uns in der Schrift klar niedergelegt. Wohl mag es Bedingungen geben, um sie aufzunehmen, aber Gnade an sich ist nicht durch solche Dinge gehindert. Gewisse Menschen beherrschen die Kunst, mit einer Hand zu geben und mit der andern wieder zu nehmen, oder Geschenke zu machen, die so mit Beschränkungen und Bedingungen eingezäunt sind, dass sie für den Empfänger völlig nutzlos werden. Aber das ist nicht die Weise Gottes.
«Die freie Gnade Gottes» ist ein allgemein verbreiteter Ausdruck, der richtig ist und dem die meisten von uns zustimmen. Für viele aber ist es verwirrend, wenn sie ihre Bibel aufschlagen und beim Lesen eines Abschnittes unerwartet mit einem «Wenn» konfrontiert werden. Zum Beispiel: «Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf und folge mir nach» (Lk 9,23)
Was bedeutet das? Ist das Heil doch nicht so frei, wie wir angenommen hatten? Müssen wir mit unserem Meister eine Art Abkommen mit gewissen Bedingungen treffen, bevor wir von Ihm aufgenommen werden können?
Wir wollen diese Frage dadurch beantworten, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf Lukas 14,25-35 richten. In diesem Abschnitt finden wir wieder die gleichen Gedanken: «Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein.» Diese fünf Schlussworte werden dreimal wiederholt (Verse 26.27.33). Es heisst aber nicht: er kann nicht gerettet werden, sondern «er kann nicht mein Jünger sein».
Von den vier Schreibern der Evangelien ist es Lukas, der die Gnade besonders hervorhebt. In Lukas 14 enthält gerade der Abschnitt, der dem oben erwähnten vorausgeht, das Gleichnis des grossen Abendmahls, in dem die Gnade Gottes auf wunderbare Weise entfaltet wird. Ist es nicht bemerkenswert, dass der Herr, nachdem Er die göttliche Gnade in dieser Weise enthüllt hat, so dass grosse Volksmengen mit Ihm gehen, sich zu ihnen umwendet und die Wirklichkeit ihrer Entscheidung prüft? Er tut es, indem Er ihnen die Bedingungen der Jüngerschaft vorstellt. Werden wir nicht wohl tun, wenn wir den Unterschied zwischen beiden Dingen wohl beachten, aber sie doch in der Weise beisammen lassen, wie Er sie zusammengestellt hat?
Wir können sie wie folgt unterscheiden:
- Gnade ist eine besondere Form oder ein Charakter der göttlichen Liebe. Diese Gestalt nimmt sie dann an, wenn sie sich herablässt, um den völlig Unwürdigen zuzufliessen, indem sie ihren Nöten entspricht, aber durch den Reichtum ihrer vollen Hilfe die Bedürfnisse weit übersteigt.
- Jüngerschaft ist eine besondere Form der Liebe, die als Reaktion auf die Gnade dem Herzen eines Gläubigen entspringt. Es ist der Rückfluss der göttlichen Liebe zu ihrer Quelle. Ein Jünger zu sein, bedeutet ein Schüler zu sein, und nicht nur das, sondern auch ein Nachfolger. Wenn die Gnade Gottes eine Seele ergriffen hat und ein neues Leben beginnt, sind dessen erste instinktive Reaktionen, vom Heiland zu lernen und Ihm nachzufolgen.
Wenn wir das erfasst haben, ist es leicht einzusehen, dass Gnade die Triebfeder zur Jüngerschaft ist. Diese beiden Dinge sind in Lukas 14 nicht ohne Grund miteinander verbunden.
Im Gleichnis vom grossen Abendmahl finden wir die Tür des Heils weit geöffnet. Der Schlimmste ist eingeladen. Nichts wird von den Geladenen verlangt, keine Bedingungen auferlegt, kein Abkommen getroffen. Die Gnade strahlt hervor, ohne dass sie durch irgendwelche Trübung gedämpft würde. Aber Er, der dieses Gleichnis ausgesprochen hat, war sich zweier Dinge wohl bewusst:
- Dass viele bekennen würden, die Gnade empfangen zu haben, ohne echt zu sein in ihrem Bekenntnis.
- Dass in den Herzen jener, bei denen die Annahme Wirklichkeit war, eine Liebe erzeugt würde, die sie unwiderstehlich zu dem hinzöge, von dem sie kam. Diese Menschen sollten verstehen, was notwendig war, um Ihm nachzufolgen.
Deshalb folgen auf seine Erklärungen der Gnade Belehrungen in Bezug auf Jüngerschaft. Dann werden zwei kurze Gleichnisse angefügt, um die Wichtigkeit der Kostenberechnung aufzuzeigen.
«Es kostet zu viel, ein Christ zu sein», sagte ein traurig dreinschauender Mann eines Tages. Hatte er Recht?
Wenn er meinte: es kostet zu viel, errettet zu werden, dann lag er ganz verkehrt. Der unermessliche Preis der Errettung fiel auf den, der in der Lage war, ihn zu bezahlen. Er, der für uns zur Sünde gemacht wurde, hat alles bezahlt. Uns wird das Heil umsonst angeboten.
Aber der Mann benützte das Wort «Christ» in seinem eigentlichen Sinn; denn es waren die Jünger; die zuerst in Antiochien Christen genannt wurden (Apg 11,26). Er meinte: es kostet zu viel, ein Jünger zu sein. Aber auch darin liegt er falsch. Es kostet etwas, ein Jünger zu sein, aber es kostet nicht zu viel! Tatsache ist, dass unser traurig dreinblickender Freund nicht errettet war. Er hatte nie die Gnade kennen gelernt und hatte darum auch nichts zu geben. Wenn ein Mann ohne Geld in der Tasche auf den Markt geht, ist alles zu teuer! Er stellte Jüngerschaft vor die Gnade, was gleichbedeutend ist, wie wenn man die Nachfrage vor die Beschaffung, oder Verantwortlichkeit vor die Fähigkeit, ihr zu begegnen, stellt. In der Umgangssprache würde man sagen: den Wagen vor das Pferd spannen.
Was kostet Jüngerschaft? Sie bedeutet Opfer in jeder Hinsicht. Darum wird hier das kurze Gleichnis angefügt. Es kostet ein rechtes Stück Arbeit, um seine Stellung zu verstärken und eine Menge Energie, um gegen seine Feinde zu kämpfen.
«Wer unter euch, der einen Turm bauen will …» (Vers 28). Hast du solche Absicht? Gewiss hast du das, wenn du dir vorgenommen hast, wirklich dem Herrn nachzufolgen. Ein Turm redet von Schutz, und den haben wir nötig. Das zeigt uns die Schrift mit aller Deutlichkeit. Aber obwohl wir durch Gottes Macht bewahrt werden, geschieht es «durch Glauben» (1. Pet 1,5). Die Verantwortung, uns auf unseren allerheiligsten Glauben zu erbauen, liegt auf uns. Deshalb ist «betend im Heiligen Geist» die einzige Haltung, die sich für uns geziemt, und die Folge ist, dass wir uns selbst «in der Liebe Gottes» erhalten (siehe Judas 20.21). Wenn die Liebe Gottes uns wie ein Verteidigungsturm umgibt, dann sind wir wirklich gut gewappnet!
«Glaube» ist die Hand, die baut. «Der Glaube» – und wir finden ihn im Wort Gottes – ist das starke Fundament, worauf wir bauen. Gebet ist die Haltung, die dieser Bautätigkeit am besten angemessen ist. Die Liebe Gottes bewusst zu kennen, das ist unser Verteidigungsturm.
Aber das ist nicht das Endziel. Wir sind verteidigungsmässig gut ausgerüstet, so dass wir jetzt offensiv gegen den Feind vorgehen können. Tatsächlich kommt die Maurerkelle zuerst, aber nachher kommt das Schwert.
«Oder welcher König, der auszieht, um sich mit einem anderen König in Krieg einzulassen …» (Vers 31). Erwägst du in Gedanken ein derart angreifendes Handeln? Als Jünger solltest du es. Beachte, dass der König mit Zehntausend die Offensive gegen den König mit Zwanzigtausend zu ergreifen beabsichtigt. Das ist ein kühnes Unternehmen! Aber hinter seinem Rücken steht eine gutbefestigte Operationsbasis: sein Turm war gebaut. Das ist immer der Weg Gottes. Davids Turm wurde durch die Erfahrungen in der Wüste – die Begegnung mit dem Löwen und dem Bären – gebaut. Und so war Goliath kein Schrecken für ihn. Luther, der Mönch, der die Welt erschütterte, rückte in die Brutstätte der Feindseligkeit in Worms vor. Ja, aber sein Kriegsruf war:
- «Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.»
Mit Jüngerschaft ist alles das gemeint. Sie bedeutet Gebet und das Studium des Wortes Gottes. Sie bedeutet aber auch Übungen, die sonst unbekannt blieben: Der Schrecken des Kampfes mit der Welt und dem Teufel; das Fleisch für gekreuzigt zu halten. Setz dich nieder und überschlage die Kosten! Zitterst du? Dann berechne die Kosten noch einmal im vollen Licht der Macht Gottes und der reichen Vorräte der Gnade, und du wirst anfangen, dich «Christi Jesu zu rühmen» und dazu immer weniger «auf Fleisch Vertrauen haben»
So gehen also Gnade und Jüngerschaft Hand in Hand, wie es uns im Fall von Bartimäus so schön gezeigt wird (Mk 10,46-52). Auf sein Schreien stand die Gnade still und schenkte alles, um was er bat, umsonst. «Jesus sprach zu ihm: Geh hin.» Bartimäus, es werden keine Bedingungen an dich gestellt, du kannst nach Norden, Süden, Osten oder Westen gehen, ganz wie du wünschest. Du bist frei! Welchen Weg ging er? «Sogleich wurde er wieder sehend und folgte ihm nach auf dem Weg.» Gedrängt von der Gnade, trat er auf den Weg der Jüngerschaft. Er folgte dem Herrn Jesus nach.