Der Geliebte des Vaters

Wir tun wohl, über den Sohn Gottes nachzusinnen, über den, der den Vater offenbart hat. In dieser Wirksamkeit steht Er allein vor unseren anbetenden Herzen, denn Ihm allein steht es zu, den Vater kundzumachen. Seine eigenen Worte sagen dies aus: «Die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt» (Joh 17,25 und auch Joh 8,55). Diese dem Sohn bewusste Erkenntnis des Vaters besass nur Er allein, und von einer solchen Vertrautheit mit dem Vater ist die Welt der geschaffenen Geister naturgemäss ausgeschlossen. Und wenn des Sohnes Allwissenheit alle den Vater betreffenden Dinge umfasst, wie völlig und vollkommen kennt Er dann des Vaters Liebe! Wie vermögend ist Er auch, diese Liebe zu verkündigen!

Wenn der Name «Jesus Christus» in der Schrift mit dem «Sohne Gottes» verbunden ist (wie in Röm 1,13), so besagt gerade der Name «Sohn», dass die Liebe des Vaters Ihm gegenüber in tätiger Ausübung ist. Mehr noch, wenn der Sohn, der geliebt ist, sich hier befindet, so ist auch der Vater da, dessen Liebe ohne Unterlass zu seinem Sohn fliesst. Könnte das Herz eines Vaters oder das Haus eines Vaters ohne den Sohn der Liebe des Vaters sein?

Der Sohn mochte in der Fülle der Zeit den Dienst eines Knechtes erfüllen und dabei seinen Dienst mit der Ihm eigenen Würde, mit unbedingter Treue und Hingabe adeln. Aber vor allem Dienst und in allem Dienst war Er in der Beziehung des Sohnes Gegenstand tiefster Zuneigung des Vaters. Sogar in den unvollkommenen Beispielen der Sohnesbeziehung, die wir in dieser sündenbeladenen Welt finden, ist es so. Als David die Kunde vom Tod seines gottlosen und aufrührerischen Sohnes Absalom vernahm, wurde er «sehr bewegt». Die väterliche Liebe seines blutenden Herzens zeigte sich in der rührenden Wiederholung der beiden Worte «mein Sohn». Mit bitteren Tränen klagte er: «Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wäre ich doch an deiner statt gestorben! Absalom, mein Sohn, mein Sohn!» (2. Sam 19,1). Wenn auch ohne jede fürstliche Tugend, war dem Absalom doch die Kindesbeziehung zu David geblieben. «Mein Sohn», sagte der König. Der Tod hatte in der Liebe des Vaters eine Saite berührt, mochte ihr Gegenstand noch so unwürdig und mochte dem Vater durch diesen Sohn noch so viel Leid angetan worden sein.

Der geliebte Sohn

Der Gegenstand unserer Betrachtung ist der höchste und heiligste, und wir können gewiss auch sagen der lieblichste aller Gegenstände: Gottes geliebter Sohn. Wir lassen uns selber und die ganze Welt als Subjekte, die der göttlichen Liebe unwürdig sind, ausser Betracht und wünschen, uns mit der unaussprechlichen Liebe zu beschäftigen, die den Vater mit dem Sohn verbindet. Das ist keine unbestimmte Liebe, kein Produkt unserer Einbildung, sondern sie ist Gegenstand einer bestimmten Offenbarung. Die Schrift enthält wirkliche Ausdrücke gegenseitiger Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn. Solche Äusserungen berühren die höchste Ordnung der Gemeinschaft in der Gottheit und sind durch den Heiligen Geist zu unserer ehrfürchtigen Betrachtung aufbewahrt worden. Nichts könnte auserlesener sein als diese göttlichen Zeugnisse der Zärtlichkeit, ausgedrückt in menschlichen Worten für irdische Ohren.

Oh, was für himmlische Schätze enthält doch das Wort Gottes! Sind wir uns ihres wahren Wertes bewusst? Welch überströmende Gnade, dass wir über das, was der Vater zum Sohn und was der Sohn zum Vater sagte, eine inspirierte Mitteilung besitzen dürfen! Es ist in der Tat höchst beachtenswert, dass wir den Ausruf des Vaters besitzen: «Du bist mein geliebter Sohn» (Mk 1,11) und auch die Worte des Sohnes zum Vater zu haben: «die Liebe, womit du mich geliebt hast» (Joh 17,26). Daraus vernehmen wir Menschen, dass einerseits der Vater seinen geliebten Sohn und anderseits der Sohn die Liebe seines Vaters zu Ihm völlig erkannte. Das ist wahrlich die Enthüllung eines heiligen Geheimnisses. Es ist nützlich für uns, dies zu wissen; dadurch erhalten wir ein besseres Verständnis für die offenbarte Wahrheit bezüglich der Personen des Vaters und des Sohnes, um so den Vater «in Wahrheit» anzubeten, wie Er es wünscht (Joh 4,23).

Die Liebe des Vaters zum Sohn

Mit aller Ehrfurcht und Demut des Geistes lauschen wir jedem Wort des Fleisch gewordenen Sohnes, wenn Er im Lauf seines Dienstes den Vater offenbart. Aber wenn Er von der Liebe des Vaters zu Ihm, dem Sohn spricht, wird unser Interesse aufs Höchste gesteigert. Das ist ein Geheimnis des Himmels der Himmel, der «himmlischen Dinge», des Wohnortes Gottes, und es betrifft den geliebten Sohn des Vaters, der auch unser Geliebter ist.

«Der Vater liebt den Sohn.» Dieses Thema ist gewaltig. Aber die Worte sind einfach, leicht auszusprechen und leicht zu bewahren und sind den «kleinen Kindern» im Haushalt Gottes angepasst, denen der Heilige Geist «die Tiefen Gottes» offenbart. Der Sohn verkündet aus der innigen Vertrautheit mit dem Vater heraus, die Er allein besass und genoss, unseren erstaunten Ohren: «der Vater hat den Sohn lieb» (Joh 5,20; Joh 3,35; Joh 10,17).

Beachten wir, die Tätigkeit der Liebe ist in die Gegenwartsform gesetzt: «der Vater liebt» und nicht «hat geliebt». Am Tag, als diese Worte in Jerusalem geäussert wurden, war dies zutreffend, und gewiss auch in allen Tagen seiner Erniedrigung. Aber dieser Ausspruch enthält noch viel mehr als das. Diese Liebe bestand durch das ganze Zusammenleben des Vaters mit dem Sohn hindurch. Ob wir vorwärts oder rückwärts blicken: immer ist ein Vater da, der liebte, und ein Sohn, der geliebt wird. Solche Liebe kennt keine Schranken eines Anfangs und eines Endes und ist der Ausfluss einer ewigen Beziehung.

Wie überwältigend sind diese kostbaren Worte. Sie strahlen die unaussprechliche Freude der Sohnschaft aus dem Herzen dessen aus, der sie aussprach. Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn ist unermesslich und unbegrenzt. Wir verlieren uns in ihrer ungeheuren Ausdehnung. Unsere Gedanken sind in der menschlichen Liebe besser zu Hause. Wir können verstehen, dass die Liebe Davids die des Jonathan übertraf, dass Jakob Rahel lieber hatte als Lea, und dass die Versammlung in Ephesus eine «erste Liebe» hatte, die verloren ging; denn diese, von denen hier die Rede ist, hatten gleiche Empfindungen wie wir. Aber die Mitteilung «der Vater liebt den Sohn» können wir nicht mit unserem natürlichen Verstand ergründen. Ohne göttliche Offenbarung kennen wir weder den Vater noch den Sohn in Ihrem eigentlichen Wesen. Und so vermögen wir auch Ihre gegenseitige Liebe nicht mit unseren menschlichen Begriffen zu messen.

Nahrung für das Herz

Warum denn tat sich uns der Herr als der Geliebte des Vaters kund? Nicht, damit unser Geist versuchen soll zu verstehen, was unbegreiflich ist, sondern damit unsere Herzen seinen Worten glauben und wir uns so in die Tiefen einer Liebe versenken, die die Grenzen der Zeit und des Raumes übersteigt.

«Der Vater liebt!» Welche unendlichen Regungen, welch unergründliche Tiefen der Zuneigung sind im Herzen des Vaters, der in seinem Wesen Liebe ist: «Gott ist Liebe!» Es ist wahr, «nur Gott kennt die Liebe Gottes». Und wir können auch sagen: nur das unermessliche und unendliche Herz des Sohnes kann die Entfaltung des unermesslichen und unendlichen Herzens des Vaters in ihrer Fülle aufnehmen und in gleicher Fülle erwidern. «Der Vater liebt den Sohn!» Solcher Art ist die Gemeinschaft in den höchsten Örtern; sie ist denen offenbart, die im Allerheiligsten anbeten. Welche Liebe auch immer das Herz des Vaters erfüllen mag; sie findet eine vollkommene Aufnahme und eine völlige Antwort im Herzen des Sohnes. Sollte diese Liebe nicht der Grundton unseres erhabensten Lobpreises sein?

Hat diese Offenbarung der heiligen Liebe kein Interesse für unsere Herzen? Der Vater! Er ist es, der seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden. Der Sohn! Er ist es, der uns den Vater offenbarte. Unsere Herzen sind bewegt beim Gedanken, dass der Vater uns liebt und dass der Sohn Gottes uns liebt und sich selbst für uns hingegeben hat. Es darf unsere Herzen mit tiefster Freude erfüllen, dass die Liebe des Vaters und des Sohnes auf uns ruht. Aber sollten wir uns nicht zu noch grösseren Tiefen führen lassen durch die Erkenntnis, dass – abgesehen von uns selbst – die Liebe ein ewiges Band zwischen dem Vater und dem Sohn bildet? Soll die Braut gleichgültig bleiben gegenüber den Herrlichkeiten ihres Geliebten, der jeden anderen Geliebten übertrifft, da Er der Geliebte des Vaters war, ehe die Zeit begann?