Ein zerschlagener Geist

Eine wenig motivierende Überschrift? Auf den ersten Blick vielleicht ja. Doch die Bibel spricht tatsächlich – und das in einem positiven Sinn – über Menschen, die einen zerschlagenen Geist haben. Für solche hat Gott ein besonderes Wort der Ermunterung und des Trostes.

Was nicht gemeint ist

Natürlich ist hier nicht gemeint, dass wir unseren von Gott gegebenen Geist in irgendeiner Weise zerschlagen oder malträtieren sollen. Der Mensch besteht aus Geist, Seele und Körper und soll untadelig bewahrt werden bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus (1. Thes 5,23). Es gibt Lehren, die diese Wahrheit antasten. Davon spricht – wenn auch in einem etwas anderen Sinn – der Apostel Paulus im Brief an die Kolosser. Er schreibt dort von Geboten und Lehren der Menschen, «die zwar einen Schein von Weisheit haben, in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut und im Nichtverschonen des Leibes, und nicht in einer gewissen Ehre, zur Befriedigung des Fleisches» (Kol 2,23). Darum geht es hier nicht. Wir sollten weder den menschlichen Körper noch die Seele noch den Geist gering achten. Gott hat uns Menschen in dieser «Dreiteilung» geschaffen, und damit haben wir eine Verantwortung, die wir nicht ausser Acht lassen dürfen.

Beispiele aus dem Alten Testament

Zwei Beispiele aus dem Alten Testament machen klar, was hier mit einem «zerschlagenen Geist» gemeint ist.

  1. König Josia lebte in einer schweren Zeit. Das Wort Gottes war völlig in Vergessenheit geraten und im Volk Gottes geradezu unbekannt. Beim Ausbessern des Tempels wurde die Buchrolle des Gesetzes gefunden und dem jungen König vorgelegt. Wie war seine Reaktion? Es heisst: «Es geschah, als der König die Worte des Gesetzes hörte, da zerriss er seine Kleider» (2. Chr 34,19). Was dies bedeutete, finden wir in den Worten der Prophetin Hulda erklärt, zu der Josia seine Boten sandte. Im Auftrag Gottes liess sie ihm sagen: «Weil dein Herz weich geworden ist und du dich vor Gott gedemütigt hast, als du seine Worte über diesen Ort und über seine Bewohner hörtest, und du dich vor mir gedemütigt und deine Kleider zerrissen und vor mir geweint hast, so habe ich es auch gehört, spricht der HERR» (2. Chr 34,27). Genau darin drückt sich ein zerschlagener Geist aus. Es geht darum, dass wir Gottes Wort zu Herzen nehmen, dass es uns trifft, dass wir uns im Gebet vor dem Herrn demütigen und traurig darüber sind, dass wir so weit von seinem Wort abgewichen sind.
  2. Auch Esra lebte in einer schweren Zeit. Ein Überrest des Volkes war zwar aus Babel nach Jerusalem zurückgekehrt, aber der praktische Zustand dieser Juden war so, dass sie sich – entgegen dem ausdrücklichen Willen ihres Gottes – mit den umliegenden Völkern vermischt hatten. Doch nicht alle im Volk Gottes nahmen das einfach hin. Esra, der Schriftgelehrte, äusserte sich in seinem Buch wie folgt: «Als ich diese Sache hörte, zerriss ich mein Gewand und mein Oberkleid und raufte mir Haare meines Hauptes und meines Bartes aus und sass betäubt da. Und zu mir versammelten sich alle, die vor den Worten des Gottes Israels zitterten wegen der Treulosigkeit der Weggeführten; und ich sass betäubt da bis zum Abend-Speisopfer. Und beim Abend-Speisopfer stand ich auf von meiner Demütigung, nachdem ich mein Gewand und mein Oberkleid zerrissen hatte, und ich beugte mich auf meine Knie nieder und breitete meine Hände aus zu dem HERRN, meinem Gott» (Esra 9,3-5). Hier finden wir die gleichen Kennzeichen eines zerschlagenen Geistes wie bei Josia, nämlich die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes, die Trauer über das eigene Fehlverhalten und das Rufen zu Gott.

In beiden Beispielen lag kein persönliches Fehlverhalten vor. Nicht sie, sondern das Volk, zu dem die beiden Männer gehörten, hatte sich schuldig gemacht. Das spricht uns an. Es geht nicht nur darum, dass wir unsere eigenen Fehler zu beklagen haben (obwohl es dazu manche Ursache gibt), sondern wir beugen uns auch wegen der Schuld des Volkes Gottes, zu dem wir gehören.

Ein zerschlagener Geist ist eine innere Herzenshaltung der Trauer und Niedergeschlagenheit des Gläubigen. Diese kann ihre Ursache im eigenen Fehlverhalten (persönlich, in der Familie, im eigenen Umfeld) haben, aber auch im Fehlverhalten des Volkes Gottes insgesamt. Dabei können wir an die örtliche Versammlung denken, aber wir können den Gesichtskreis auch erweitern und an das Zeugnis von der Versammlung insgesamt denken. Darüber hinaus gehören wir zur Christenheit, die nur noch einen «Schein der Gottseligkeit» hat, sonst aber weitgehend ohne Christus lebt. Wenn wir diesen Blickwinkel vor uns haben, erkennen wir schnell, dass wir alle Grund finden, einen zerschlagenen Geist zu haben und uns vor Gott zu demütigen.

Göttliche Zusagen

Wenn der Herr eine solche innere Herzenshaltung bei uns findet, dann wird Er uns nicht ohne Antwort lassen. Im Alten Testament gibt Gott solch trauernden und demütigen Menschen eine dreifache Zusage, die auch uns anspricht und Mut macht:

  1. Der Herr sieht Menschen, die einen zerschlagenen Geist haben: «Aber auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Wort» (Jes 66,2). Die Augen unseres Herrn durchlaufen die ganze Erde. Doch sie tun es nicht nur, um sich an uns mächtig zu erweisen, sondern auch um zu trösten. Er sieht alles und nimmt alles zur Kenntnis. Menschen mögen nichts davon wahrnehmen, wenn wir traurig sind und uns im Gebet an unseren Gott wenden. Aber Er nimmt es wahr. Er sieht unsere Haltung gegenüber seinem Wort. Er weiss, ob wir seine Gedanken ernst nehmen, oder ob wir leichtfertig über den Willen Gottes hinweggehen. Er sieht, ob die Not in seinem Volk uns noch innerlich tangiert, oder ob wir damit zufrieden sind, unser eigenes Glaubensleben zu führen.
  2. Der Herr ist Menschen nah, die einen zerschlagenen Geist haben: «Nahe ist der HERR denen, die zerbrochenen Herzens sind, und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er» (Ps 34,19). Kinder Gottes, die einen zerschlagenen Geist und ein zerbrochenes Herz haben, sind oft einsam und unverstanden. Doch gerade dann kommt unser Herr mit der Zusage, dass Er uns nicht nur sieht, sondern sich uns auch nähert. Er kommt in unsere Umstände hinein. Wir haben nicht nur einen Herrn, der im Himmel über alle Umstände erhaben ist und dessen Thron nichts erschüttern kann, sondern auch einen, der in der Not zu uns kommt. Er will uns in Situationen, wo wir Einsamkeit und Distanz von unseren Geschwistern spüren mögen, persönlich nahe sein. Und nicht nur das. Der Psalmdichter David fügt hinzu, dass Er uns auch retten wird. Fühlen wir uns manchmal auf verlorenem Posten? Wir sind es nicht! Der Herr kommt und will uns retten. Spüren wir die Gefahr? Wir sind nicht ohne Ausweg. Der Retter und Helfer ist nahe.
  3. Der Herr wohnt bei Menschen, die einen zerschlagenen Geist haben: «Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt, und dessen Name der Heilige ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen» (Jes 57,15). Das geht über das Sehen und Nahesein des Herrn hinaus. Hier sagt Er, dass Er sogar bei uns wohnen will, wenn wir in einer Herzenshaltung der Demut und Trauer sind. Es ist wahr, dass Er der Hohe und Erhabene ist und in der Höhe und im Heiligtum wohnt. Er bleibt in Ewigkeit. Gleichzeitig aber macht Er Wohnung bei denen, die zerschlagenen und gebeugten Geistes sind. Ist das nicht ein gewaltiger Herr? Er sieht uns nicht nur in der Not; Er ist uns nicht nur nahe, sondern Er will in unserer Traurigkeit Gemeinschaft mit uns haben. Unsere Not ist seine Not, unsere Trauer die seine. Warum tut Er das? Um uns zu beleben. Er möchte einfach nicht, dass wir unseren Weg mutlos und niedergeschlagen gehen. Er möchte uns Kraft und Freude schenken.

Alles zu seiner Zeit

Die Beispiele von Josia und Esra zeigen, dass nach der Zeit der Trauer, der Demütigung und des Gebets eine Zeit des Handelns kam. So ist es auch bei uns. Wir sollen nicht am Boden liegen bleiben, sonst besteht die Gefahr einer inneren Depression. Die innere Haltung des zerschlagenen Geistes sollte uns zwar dauernd prägen, aber sie darf keine bleibende Entschuldigung dafür sein, nichts mehr für den Herrn zu tun. Auch in schwerer Zeit gibt es im Volk Gottes viel Arbeit, die wir mit seiner Hilfe tun dürfen. Josia erneuerte die Beziehung des Volkes zu seinem Gott und brachte den Menschen das Wort. Esra wurde gesagt: «Steh auf, denn dir obliegt die Sache … Sei stark und handle!» (Esra 10,4).

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Christenheit zu reformieren. Den Niedergang im Volk Gottes werden wir nicht aufhalten können. Aber dennoch gilt der Auftrag, für unseren Herrn zu handeln und jederzeit «überströmend in dem Werk des Herrn zu sein» (1. Kor 15,58).

Bald kommt der Zeitpunkt, wo wir beim Herrn sein werden. Dann brauchen wir seine Zusagen für einen zerschlagenen Geist nicht mehr, weil es kein Fehlverhalten mehr geben wird. Dann werden wir ewiges Glück und dauerhafte Freude geniessen.