Wie ein Stummer … (1)

Psalm 38,14

Die Evangelien zeigen uns, wie der Herr Jesus bei verschiedenen Gelegenheiten, als Er von den Menschen befragt wurde, stumm blieb. Manchmal weigerte Er sich ausdrücklich, seinen Gesprächspartnern Antwort zu geben, oder Er antwortete ihnen auf indirekte Weise, bisweilen sogar, indem Er ihnen eine Gegenfrage stellte, die den Fragestellern den Mund verschloss. Umso bemerkenswerter ist es, dass Er den Jüngern, die Ihn in Demut befragen, direkt antwortet. Was auch immer seine Haltung war gegenüber denen, die Ihn befragten, der Herr suchte jedes Mal, ihr Gewissen zu erreichen oder auf die Bedürfnisse ihrer Seele einzugehen. Auch daraus leuchtet die sittliche Vollkommenheit hervor, die Er während seines ganzen Lebens hier auf der Erde in allen Umständen offenbarte.

Dieses «Schweigen» enthält kostbare Belehrungen für uns. Es offenbart seine völlige Abhängigkeit vom Vater, wie auch seine bewunderungswürdige Weisheit und seine unendliche Gnade. Wenn Er sprach, redete Er nicht aus sich selbst: «Was ich nun rede, rede ich so, wie mir der Vater gesagt hat.» (Joh 12,49.50). Der Entschluss zu reden und der Inhalt seiner Botschaft wurden Ihm durch den Vater eingegeben. So war es auch mit seinem Schweigen. «Ich tue nichts von mir selbst, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue» (Joh 8,28.29).

A. Während seines Dienstes

1. Die Syro-Phönizierin

(Matthäus 15,21-28; Markus 7 24-30)

Von seinem Volk verworfen, geht Jesus aus dem Land Israel hinaus und begibt sich in die Gegenden von Tyrus und Sidon. Dort ruft Ihn eine kananäische Frau an: «Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen.» Das scheint den Herrn gleichgültig zu lassen: «Er aber antwortete ihr nicht ein Wort» (Mt 15,23). Wie konnte Er, dessen Herz so oft gegenüber den Leidenden von Erbarmen bewegt wurde, der Not dieser Frau gegenüber scheinbar unempfindlich bleiben? Und da sehen wir die Jünger, die unfähig waren, die Beweggründe dieses Schweigens zu verstehen, und denen das Schreien dieser Fremden lästig war, ihren Meister bitten, sie wegzuschicken. Jesus schweigt, die Jünger weisen sie ab: ihr Fall scheint hoffnungslos. Aber warum bewahrt der Herr Stillschweigen gegenüber dieser Frau? Weil diese Kanaaniterin lernen muss, dass sie keinerlei Anrecht hat auf die Segnungen, die der Messias seinem Volk Israel brachte. Tatsächlich hatte sie seine Hilfe angerufen, indem sie Ihn «Sohn Davids» nannte. Als solcher war Er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt worden (Mt 15,24).

Aber der Glaube und die Beharrlichkeit der armen Mutter überwinden alle Hindernisse. Sie wirft sich zu den Füssen Jesu nieder und fleht Ihn erneut an: «Herr, hilf mir!» Nun bricht Jesus sein Schweigen und antwortet ihr auf eine Weise, die ihren Glauben noch mehr auf die Probe stellt, als das vorangegangene Schweigen: «Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen.» Jetzt scheint jede Hoffnung auf Hilfe für sie verloren zu sein. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu ihrer Tochter zurückzukehren, die «schlimm besessen» ist. Aber nein, weit davon entfernt! Was der «Sohn Davids» ihr nicht geben konnte, erhält sie vom «Heiland der Welt». Dazu muss sie den Platz der «Hunde» einnehmen, «die von den Brotkrumen fressen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen». Der Herr Jesus wollte sie durch das Geständnis ihrer gänzlichen Unwürdigkeit zur Erkenntnis führen, dass sie nichts empfangen konnte, es sei denn aufgrund der Gnade. «Ja, Herr, ich bin nur ein Hund!» Ihr Glaube triumphiert und tut ihr die Schleusen der göttlichen Gnade und Macht in Christus weit auf: «O Frau, dein Glaube ist gross; dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an.»

2. «Wer hat dir dieses Recht gegeben?»

(Mt 21,23-27; Mk 11,27-33; Lk 20,1-8)

Jesus hat soeben die Verkäufer zum Tempel hinausgetrieben und die Tische der Wechsler umgestossen. Da kommen die Obersten des Volkes und fragen ihn: «In welchem Recht tust du diese Dinge? und wer hat dir dieses Recht gegeben?»

Der Herr Jesus war vom Vater gekommen und das Recht, von dem Er Gebrauch machte, war Ihm von Gott verliehen worden. Alles in Ihm bewies, dass Er der Sohn Gottes und der verheissene Messias war. Er war die Wahrheit, das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtete. Aber die Obersten des Volkes hatten Angst, die Autorität zu verlieren, die sie sich selbst angemasst hatten, und wollten die Vollmacht des Herrn nicht anerkennen.

Wären sie aufrichtig gewesen, so wäre die Frage, die sie Ihm stellten, an und für sich berechtigt gewesen. Aber Er, der die Herzen erforscht, unterwirft sie einem Test, der ihren Mangel an Aufrichtigkeit vor allen offenbart. «Siehe, du hast Gefallen an der Wahrheit im Innern» (Ps 51,8). «Gegen den Reinen erzeigst du dich rein, und gegen den Verkehrten erzeigst du dich entgegenstreitend» (2. Sam 22,27). «Jesus aber sprach zu ihnen: Auch ich will euch ein Wort fragen (wörtlich: ein einziges Wort), und antwortet mir, und ich werde euch sagen, in welchem Recht ich diese Dinge tue: Die Taufe des Johannes, war sie vom Himmel oder von Menschen? Antwortet mir» (Mk 11,29.30).

Nun waren sie gezwungen sich zu entlarven. In der Tat, wenn sie antworten: «Vom Himmel», wird Jesus ihnen sagen: «Wenn ihr anerkennt, dass Johannes von Gott gesandt war, warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt, als er mir Zeugnis gab, als dem Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt, als dem Sohn Gottes und als dem, der seine Rute in seinen Händen hat und seine Feinde richten wird?» Sie wagten nicht zu sagen: «Von Menschen» – weil sie das Volk fürchteten, «denn alle dachten von Johannes, dass er wirklich ein Prophet war». Daher zogen sie es vor, sich weder gegenüber Jesus noch gegenüber dem Volk zu verpflichten und sagten: «Wir wissen es nicht.» Nun erklärt ihnen der Herr: «So sage ich auch euch nicht, in welchem Recht ich diese Dinge tue.» Durch ihren Mangel an Aufrichtigkeit machten diese Männer sich selbst unwürdig, eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen. Übrigens welche Wirkung hätte diese Antwort auf solch verhärtete Herzen haben können? Sie hatten sich entschlossen, Jesus nicht zu glauben, und beraubten sich damit freiwillig der Gnade, die Er vonseiten des Vaters brachte. «Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt … Darum hört ihr nicht, weil ihr nicht aus Gott seid» (Joh 5,40; 8,47).

Enthält diese Weigerung des Herrn Jesus, auf die Frage der Juden Antwort zu geben, nicht auch eine Belehrung für uns Gläubige? Die angebliche Unwissenheit dieser Bösen verriet ihre Falschheit. Hüten wir uns vor solchen Verheimlichungen, die die trügerischsten aller Lügen sind. Auch wenn wir den Herrn bitten, uns angesichts einer Wahl oder einer Entscheidung, die wir treffen müssen, seinen Willen zu offenbaren, lasst uns darüber wachen, dass wir dies in voller Aufrichtigkeit tun, bereit, Ihm zu gehorchen, koste es uns, was es wolle. Wenn wir Ihn bitten, uns den Weg zu zeigen, den wir gehen sollen, während wir unsere Wahl bereits getroffen haben, dann wird Er uns keine Antwort geben. «Das Geheimnis des HERRN ist für die, die ihn fürchten» (Ps 25,14). «Der Verkehrte ist dem HERRN ein Gräuel, aber sein Geheimnis ist bei den Aufrichtigen» (Spr 3,32).

3. «Du nun, was sagst du?»

(Johannes 8,3-11)

Wir haben gesehen, wie der Herr Schweigen bewahrte und dann ein Wort der Macht und der Gnade aussprach, als Antwort auf den Glauben der Syro-Phönizierin. Dann hörten wir Ihn sich weigern, den Obersten des Volkes Antwort zu geben, als sie wissen wollten, wer Ihm die Vollmacht gegeben habe. Nun betrachten wir Ihn in einer seltsamen Szene, in der Er, gedrängt, auf eine Frage Antwort zu geben, langes Schweigen bewahrt, gefolgt von einer kurzen Erklärung, die, ohne eine ausdrückliche Antwort darzustellen, seine Gegner in die Flucht schlägt. Es ist die Geschichte der Frau, die im Ehebruch ertappt und von den Schriftgelehrten und Pharisäern zu Jesus gebracht wurde, indem sie zu Ihm sagten: «In dem Gesetz hat uns Mose geboten, solche zu steinigen; du nun, was sagst du?» Das Wort fügt hinzu: «Dies aber sagten sie, ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen.» Die heimtückische Absicht dieser Männer war offenbar, denn sie wollten den Herrn Jesus bei einem Fehler ertappen, was immer seine Antwort sein mochte. In der Tat, hätte Er geantwortet, diese Frau solle nicht gesteinigt werden, so hätte Er die göttliche Autorität des Gesetzes verleugnet; hätte Er dagegen gesagt: steinigt sie, dann hätte Er seiner eigenen Belehrung widersprochen. «Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.» seine Feinde meinten Ihn in Verlegenheit gebracht zu haben. In Wahrheit war Er im Begriff, einen Pfeil auf sie abzuschiessen, der in ihr Gewissen dringen und sie in ihren Machenschaften völlig verwirren sollte.

Sein Schweigen reizt sie; sie drängen Ihn, Antwort zu geben. Da richtet Er sich auf und spricht zu ihnen: «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.» Dann bückt Er sich und schreibt wieder auf die Erde. Es ist, als hätte Er zu ihnen gesagt: «Das Gesetz Mose ist vollkommen. Die Sünde, die diese Frau begangen hat, ist ein Gräuel. Aber wie steht es mit euch? Verdammt dieses Gesetz nicht auch euch?» Aber statt jetzt ihre eigene Schuld anzuerkennen, gehen sie einer nach dem andern weg, «anfangend von den Ältesten», die ohne Zweifel das am meisten belastete Gewissen hatten. In der Gegenwart Dessen, der «das Licht der Welt» war (Johannes 8,12), ging es nicht mehr um Mose, noch um die ehebrecherische Frau, sondern um sie allein. Statt sich von diesem Licht erforschen zu lassen, wichen sie ihm aus und blieben so in ihren Sünden und unter der Verurteilung durch dieses Gesetz, das sie auf andere anwenden wollten. Die Sünderin hingegen, die sie hatten steinigen wollen, darf aus dem Mund des Herrn Jesus diese Erklärung voller Gnade vernehmen: «Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige nicht mehr.»1 Er, der allein ohne Sünde war und sie deshalb verdammen konnte, verurteilt sie nicht.

  • 1Jesus sagt nicht zu ihr: Dein Glaube hat dich errettet, gehe hin in Frieden. Er lässt dem Gesetz seine Kraft. Die Frau war nur der Anlass, den anderen das Gesetz vor Augen zu führen (J. N. Darby)