Was Jotham, der Sohn Jerub-Baals, auf dem Berg Gerisim aussprach, war weise und ein Wort zu seiner Zeit: Fruchtbarkeit sei besser als Ehre, und dem Herrn gefallen besser, als hochgeehrt zu sein unter den Menschen.
Jotham hätte ebenso gut wie Abimelech Anspruch darauf erheben können, nach dem Tod des Vaters das Volk zu regieren. Aber er hatte gelernt, dass es viel gesegneter ist, demütig mit Gott an dem Platz zu verharren, den Er uns anweist, als nach einer Stellung der Würde vor Menschen zu trachten. Gott gibt wohl Ehre, aber nicht denen, die sie für sich selbst suchen. Er bringt den einen oder anderen in eine geachtete Stellung, aber gerade, weil nicht die eigene Ehre, sondern das Fruchttragen zur Ehre des Herrn und zum Nutzen der Seinen sein Ziel war.
So mag also Abimelech seine Würde für sich behalten. Jotham weiss von einem kostbareren Teil und überdies erkennt er, in welch einem niedrigen, unbefriedigenden Zustand das Volk sich befindet, und welches das traurige Ende von allem sein muss. Er nimmt seine Stellung abgesondert, «auf dem Gipfel des Berges» ein, von wo aus er die Dinge im Licht Gottes erblickt. Durchgehen wir sein Gleichnis.
Die Bäume bieten dem Ölbaum die Herrscherehre an. Die Menschen fühlen, wie notwendig es für sie wäre, regiert zu werden, obwohl anderseits nichts so widersetzlich dagegen ist, als das menschliche Herz. Aber der Ölbaum fühlt sich gar nicht versucht, diese Ehre anzunehmen. Er gibt die schöne Antwort: «Sollte ich meine Fettigkeit aufgeben, die Götter und Menschen an mir preisen, und sollte hingehen, um über den Bäumen zu schweben?» Er ist das Bild eines Menschen, der keine selbstsüchtigen Rücksichten kennt, dem es genug ist, dass Gott und Menschen durch seine Frucht geehrt werden, und der deshalb gerne im Hintergrund bleibt. Es mag uns dies wohl an Philipper 2 erinnern, dieses Kapitel der wahren Selbstvergessenheit. Oh, möchte doch «diese Gesinnung», die wir dort sehen, von unserem teuren Herrn an bis hinunter zu seinem demütigen Knecht Epaphroditus, mehr in uns allen wohnen!
Dann gehen sie mit ihrem: «Komm du, sei König über uns!» zum Feigenbaum. Aber er antwortet: «Sollte ich meine Süssigkeit aufgeben und meine gute Frucht, und sollte hingehen, um über den Bäumen zu schweben?» Es ist genug, dass andere durch seine Frucht erfreut und gestärkt worden sind, der Baum, der sie getragen hat, mag vergessen sein.
Dann wird der Weinstock aufgesucht: «Komm du, sei König über uns!» Doch nein. «Sollte ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und sollte hingehen, um über den Bäumen zu schweben?»
Der Dornbusch aber hat nichts, das ihn zurückhält, und wird leicht bewogen, die angebotene Würde anzunehmen. Wir wissen das traurige Ende, den bösen Ausgang solchen Beginnens, wie uns dies in Richter 9 gezeigt wird. In diesem Fall war das Resultat derart, dass beide Teile einander zum Verderben gereichten.
Gewiss fühlen wir alle tief, wie viel besser es ist, fruchtbar und glücklich vor Gott, als hoch zu sein vor den Menschen, aber was ist das Geheimnis einer solchen Fruchtbarkeit? Johannes 15,1 gibt uns die Antwort. Es ist Christus selbst. «Ich bin der wahre Weinstock.» – «Aus mir wird deine Frucht gefunden» (Hosea 14,9). Wir sind wohl die Reben an Ihm, und die Reben haben das grosse Vorrecht, dass die Frucht sich an ihnen zeigt, aber nur in dem Mass, wie der Lebenssaft des Weinstocks sich ungehindert durch sie ergiesst, können sie Frucht hervorbringen. Die Frage ist hier nicht, ob wir überhaupt in lebenbringende Verbindung mit Christus gekommen seien, obgleich dies natürlich allem andern vorausgehen muss, sondern ob wir in unseren Herzen dem Herrn so nahe stehen, ob wir so in Abhängigkeit von Ihm wandeln, in dem alle unsere Quellen sind, dass seine Gnade wirklich in unseren Seelen arbeiten, seine Kraft in unserer Schwachheit vollbracht werden kann, so dass sein Leben praktischerweise in unserem sterblichen Leib offenbar wird, denn dies ist Frucht.
Bis wir aber bewussterweise in Christus bleiben, müssen wir durch Erfahrung gelernt haben, wie so gar nichts wir in uns selbst sind. «Ich weiss, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt» (Röm 7,18), so dass Leben und Tatkraft mir gänzlich von einer anderen Quelle her zufliessen müssen. «Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Wir sind so vertraut mit diesen Worten, aber verwirklichen wir sie auch?
Frucht ist also Ähnlichkeit mit Christus in all unserem Tun und Lassen. Es ist nicht der Besitz von Gaben, durch die man predigen oder überhaupt arbeiten kann. Gar viele haben in ihrem Leben nicht die Gelegenheit oder Möglichkeit dazu. Das Leben selbst aber besteht aus zahllosen Gedanken, Worten, Blicken, kleinen Handlungen, und in all diesen soll Christus und nicht das Fleisch Beweggrund und Triebkraft sein, und dies kann nur geschehen, wenn wir in Ihm bleiben und von Ihm abhängig sind. O welch ein Vorrecht! Wie köstlich war die Frucht, die Er trug, als Er hier war. Wohin Er irgend ging, brachte Er Fett und Süssigkeit und Freude mit sich. Das Herz Gottes und der Menschen wurde durch Ihn erfreut, und es ist der Wunsch und Wille unseres liebenden Vaters, dass etwas von dieser göttlichen Schönheit auch in dem Leben seiner Kinder sich wieder auspräge. Und vergessen wir ja nicht, dass die Frucht gerade an dem Ort getragen werden soll, wohin Gott uns gesetzt hat. Lasst uns nie denken, wenn wir uns in einem engen, unbeachteten Kreis zu bewegen haben, dass wir anderswo fruchtbarer sein würden. Nein, der Herr selbst hat uns unseren Pfad angewiesen, und ob er auch noch so dunkel sei und unsere Arbeit noch so gering, es wird alles für uns erhellt und veredelt werden, wenn unser Sinn darauf gerichtet ist, Ihm Frucht zu bringen und Ihn zu offenbaren. Dadurch werden uns Dinge wichtig, die in sich selbst keine Wichtigkeit haben, und das eintönigste Leben erhält Reize, wenn wir nur alles als eine Gelegenheit betrachten lernen, Ähnlichkeit mit Christus zu zeigen und unseren Vater zu verherrlichen. Möge der teure Herr in unser aller Herzen einen lebendigen Wunsch danach wecken!