Fünfundachtzig Jahre waren seit dem Verfall des Königtums nach dem Tod des Königs Salomo vergangen. Während dieser Periode hatten im Zehnstämme-Reich sieben Könige regiert, alle ohne Ausnahme gottlose Männer. Jerobeam hatte Israel mit den goldenen Kälbern zu sündigen veranlasst. Und von Ahab, dem siebten in dieser Reihe, heisst es, dass er «mehr tat, um den HERRN, den Gott Israels, zu reizen, als alle Könige von Israel, die vor ihm gewesen waren» (1. Kön 16,33).
Durch Elia, den Propheten, war deshalb das Gericht Gottes angekündigt worden und dann eingetroffen: Drei Jahre lang war weder Tau noch Regen gefallen. Das Volk musste erfahren, dass es böse und bitter ist, Gott den HERRN zu vergessen und Götzen zu verehren. Aber was geschah mit dem König? Hat dieses schwere Unglück sein Herz erweicht und Reue vor dem HERRN bewirkt? Zieht er durch sein Königreich, um die Not seines hungerleidenden Volkes zu erleichtern und alle aufzufordern, zu Gott zu schreien? Ach, seine Gedanken sind mehr mit seinen eigenen Pferden und Maultieren beschäftigt als mit seinem leidenden Volk; und weit davon entfernt, Gott zu suchen, ist er auf der Suche nach Gras.
Ahab, ein schwacher Mann, der sich selbst in den Mittelpunkt stellt und sich selber lebt, der von einer energischen, götzendienerischen Frau beherrscht wird, ist der Führer in der Abtrünnigkeit des Volkes und der erklärte Feind des Propheten Gottes. Und jetzt, von der furchtbaren Heimsuchung der Trockenheit und Hungersnot unberührt geblieben, ist er bei der allgemeinen Not noch im Begriff, sein selbstsüchtiges und leichtfertiges Leben fortzusetzen, ohne sich um die Leiden seines Volkes und die Forderungen Gottes zu kümmern. Welch ein Bild menschlicher Verdorbenheit!
An dieser Stelle tritt aber noch ein anderer Mann vor uns, mit einem sehr unterschiedlichen Charakter: Obadja. Dieser fürchtete den HERRN und hatte in vergangenen Tagen für die Propheten des Herrn einen sehr bemerkenswerten Dienst ausgeübt. Und doch, wie sonderbar: er war Verwalter des königlichen Hauses! Einer, der den HERRN fürchtet, ist in vertrautem Umgang mit dem abtrünnigen König. Wie lässt sich das vereinbaren? Es hat jemand gesagt: Obadja wurde nicht nur zeitweise dazu verleitet, noch war sein Weg zeitweise dadurch befleckt, sondern in seinem ganzen Leben war er ein Mensch mit verworfenen Grundsätzen.
Elia und Obadja waren durch Glauben beide Heilige Gottes; aber ihr jetziges Zusammentreffen ist mehr durch Zurückhaltung als durch Gemeinschaft unter Heiligen gekennzeichnet. Obadja ist ehrerbietig und versöhnlich, Elia kalt und zurückhaltend. Denn welche Gemeinschaft kann zwischen einem Fremdling Gottes und einem Diener Ahabs bestehen? Wie wahr ist, was ein anderer bemerkte: Wir können nicht der Welt dienen und hinter dem Rücken der Gläubigen auf solchen Wegen vorangehen, in der Meinung, man könne mit ihnen gleichwohl als Heilige zusammenkommen, um sich mit ihnen lieblicher Gemeinschaft zu erfreuen.
Obadja versucht, sich von dem Ausrichten einer Botschaft, die in seinen Augen mit lauter Gefahren verbunden ist, zu drücken. «Was habe ich gesündigt, dass ich zu dem König gesandt werden soll?», entgegnet er (Aber Elia hatte nichts von Sünde gesagt.) Und wusste der Prophet denn nichts von seiner Güte gegen die anderen Propheten des HERRN in vergangenen Tagen? – Ach, da war doch gar nicht von schlechten und guten Taten die Rede; der Ursprung der Unruhe des Obadja war die falsche Stellung, in der er sich befand. Er war ein Mensch in einem ungleichen Joch.
Der Geist Gottes benützt diese Begebenheit, um die ernsten Ergebnisse des ungleichen Joches, der Verbindung von Gerechtigkeit mit Gottlosigkeit, von Licht mit Finsternis, von Christus mit Belial, zu schildern (2. Kor 6,14-18).
- Obadja erhält seine Anweisungen von dem abtrünnigen König. Elia hingegen empfängt seine Vorschriften von dem HERRN und handelt gemäss seinen Anordnungen. Obadja, obgleich er den HERRN wahrhaft fürchten mag, wird nicht im Dienst des Herrn gebraucht und erhält keine Anweisungen von Gott. Ahab ist sein Herr, Ahab muss er dienen und von Ahab empfängt er seine Befehle. So verschwendet er in diesen Jahren der Not seine Zeit mit der alltäglichen Arbeit, Gras für die Tiere seines Herrn zu suchen.
- Er lebt auf einer niedrigen geistlichen Stufe. Als er auf dem Weg ist, Botengänge seines Herrn auszuführen, «siehe, da kommt Elia». In der Gegenwart des Propheten fällt Obadja auf sein Angesicht und redet ihn mit «mein Herr Elia» an. Das zeigt, dass er sich der niedrigen Stufe, auf der er sein Leben führt, bewusst ist. Obadja mag in den Palästen des Königs wohnen, im Gegensatz zu Elia, der sich an den bescheidenen Orten der Erde aufhält, in Gemeinschaft mit der Witwe und dem vaterlosen Knaben; trotzdem weiss Obadja sehr wohl, dass Elia der grössere Mann ist. Die hohen Stellungen in dieser Welt mögen irdische Ehren mit sich bringen, aber können nicht geistliche Würde verleihen. Elia will nicht einmal anerkennen, dass Obadja ein Diener des HERRN ist. Für ihn ist er nur ein Diener des gottlosen Königs, denn er sagt: «Geh hin, sage deinem Herrn: Siehe, Elia ist da!»
- Die klägliche Antwort Obadjas offenbart klar, dass er in feiger Furcht vor dem König lebt. Der Diener eines selbstsüchtigen Alleinherrschers schrickt vor einer Mission zurück, die dessen Zorn und Rache nach sich ziehen könnte.
- Diese unheilige Verbindung hält Obadja nicht nur in Furcht vor dem König, sondern vernichtet auch sein Vertrauen auf Gott. Er gibt zu, dass der Geist des HERRN Elia vor der Rache des Königs schützen wird; aber für sich selbst hat er keinen Glauben, mit dem Schutz Gottes zu rechnen. Eine falsche Stellung und ein unruhiges Gewissen haben ihm alles Vertrauen auf den HERRN geraubt.
- Weil ihm Vertrauen zu Gott fehlt, ist er nicht bereit, von Gott gebraucht zu werden. Er schrickt vor einer Mission zurück, bei der er Gefahr und sogar Tod sieht. Dreimal wiederholt er, dass Ahab ihn töten werde. Er sucht sich eines Auftrags zu entziehen, indem er einerseits die Gottlosigkeit des Königs und anderseits seine eigenen Werke der Güte als Vorwand gebraucht.
Wie ganz anders ist dagegen die Haltung Elias! Er wandelt in Absonderung vom Bösen und ist mit heiliger Kühnheit erfüllt. Er setzt sein Vertrauen jedoch nicht auf sich selbst oder auf seinen abgesonderten Wandel, sondern auf den lebendigen Gott. Er kann zu Obadja sagen: «So wahr der HERR der Heerscharen lebt, vor dessen Angesicht ich stehe, heute werde ich mich ihm zeigen!» Wie ernst, dass Elia genötigt ist, einen Heiligen Gottes in genau derselben Weise anzureden, wie er den abtrünnigen König angeredet hat (1. Kön 17,1; 18,15). Obadja steht vor dem König und ist voll Todesfurcht; Elia aber steht vor dem heiligen Gott und ist mit Ruhe und heiligem Vertrauen erfüllt. Im Glauben an den lebendigen Gott kann er nochmals vor den König treten, indem er ohne die geringste Furcht sagt: «Heute werde ich mich ihm zeigen.»
Obadja war nicht durch eine solche Übung gegangen. Sein Weg war mehr ein Weg der Behaglichkeit als ein Weg des Glaubens. Er hatte sich als der oberste Beamte am Hof des Königs in dem Treiben der Stadt bewegt und nicht wie ein treuer Diener des HERRN an den abgesonderten Orten der Erde. Sein Wirkungskreis war mehr der prächtige Palast des Königs als das bescheidene Heim der Witwe.
Wie wünschenswert in den Augen des natürlichen Menschen ist die Stellung Obadjas mit Bequemlichkeit und Wohlstand und hohem Rang; wie unbeliebt dagegen der einsame Weg Elias mit Armut und Entbehrungen. Aber der Glaube hält die Schmach des Christus für grösseren Reichtum als die Schätze Ägyptens (Heb 11,26). Elia fand grössere Reichtümer inmitten der Armut im Heim der Witwe als Obadja inmitten der Pracht des königlichen Hauses. Können wir nicht sagen, dass in Zarpat «der unergründliche Reichtum des Christus» vor den Blicken des Propheten in dem Mehl, das nicht ausging, dem Öl, das nicht abnahm, und in, Gott, der den Toten auferweckte, enthüllt wurde? Keine solche Segnungen fielen dem Los Obadjas zu. Es ist wahr, dass er der Schmach des Christus entging, aber er entbehrte dabei den unergründlichen Reichtum des Christus. Er entging der Übung des Glaubens und verlor die Belohnung des Glaubens.
In früheren Tagen konnte von Mose gesagt werden: «Durch Glauben verliess er Ägypten und fürchtete die Wut des Königs nicht; denn er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren» (Heb 11,27). So können wir hier auch von Elia sagen, dass er seinen Rücken der Welt zuwandte, die Wut des Königs nicht fürchtete, und, den Blick auf den lebendigen Gott gerichtet, standhaft aushielt, als sähe er den Unsichtbaren. Dies alles fehlte Obadja. Er mag Gott im Verborgenen gefürchtet haben, aber im Öffentlichen fürchtete er den König. Er brach niemals mit der Welt und erlebte keine Erscheinung des lebendigen Gottes.
Getrennt von der Welt, in heiliger Absonderung für Gott, ist der Prophet Elia mit dem Himmel in Berührung und sieht die Wunder der Gnade und die Kraft Gottes vor seinen Augen enthüllt. In diesen himmlischen Wundern ist Obadja ein Unwissender; der Welt gleichgestellt und mit dem abtrünnigen König verbunden, kann er sich nur mit irdischen Dingen beschäftigen und sucht daher Gras für die Pferde und Maultiere, während Elia die Herrlichkeit Gottes und den Segen Israels sucht.
Nachdem Obadja die Botschaft Elias ausgerichtet hat, verschwindet er aus der Geschichte, während Elia zu neuer Ehre als Zeuge des lebendigen Gottes voranschreitet, um zuletzt in einem Feuerwagen zur Herrlichkeit geführt zu werden.