Hundertfünfzig Jahre waren vergangen, seit Nebukadnezar, der König von Babel, Jerusalem erobert, dessen Mauern niedergerissen, den Tempel verbrannt und den grössten Teil des Volkes gefangen weggeführt hatte (2. Kön 25). Nach dieser Gefangenschaft des jüdischen Volkes in Babylon, die siebzig Jahre dauerte, hatte Kores, der Perserkönig, durch sein ganzes Königreich den Ruf ergehen lassen, dass es den Juden freigestellt sei, in ihr Land zurückzukehren und den Tempel des HERRN wieder aufzubauen. Ein gewisser Teil des Volkes machte sich das Wohlwollen des Monarchen, das Gott in sein Herz gelegt hatte, zunutze. Sie brachen auf, um in das Land ihrer Väter zurückzukehren, und begannen inmitten vieler Schwierigkeiten, die ihnen die Feinde in den Weg legten, mit dem Bau des Tempels.
Aber dann bemächtigte sich ihrer eine tiefe Entmutigung. Sie gaben das begonnene Werk auf. Erst als Gott durch die Propheten Haggai und Sacharja sie ernst ermahnte, setzten sie die Arbeit fort, und fünfundzwanzig Jahre nach dem Erlass des Kores konnte das Haus Gottes eingeweiht werden.
Auswirkungen der Verwüstung Jerusalems
Jerusalem war nun wohl bewohnt, aber das Volk darin war spärlich. Und welche Verwüstung herrschte darin vor! In den Strassen lagen «die immerwährenden Trümmer» herum und zeugten von der Wut des Feindes und dem Gericht Gottes. «Keine Häuser waren gebaut» (Neh 7,4) und die Mauern niedergerissen. Ihre Ruinen hielten die Erinnerung an die Schande und die Niederlage der Juden wach. Sie gereichten ihnen zum Hohn (Neh 2,17).
Ohne Mauern war die heilige Stadt allen Nachbarvölkern offen. Diese konnten sich ungehindert mit den Juden vermischen und verbinden, ihren schädlichen Einfluss auf sie ausüben und ihre Sitten verderben. Es gab Heiraten mit Unbeschnittenen; «der heilige Same vermischte sich» mit den Völkern des Landes; das Gesetz Moses kam in Vergessenheit und der Sabbat, das Zeichen des Bundes Gottes mit dem Volk, wurde nicht mehr beachtet.
Nehemia sah nicht tatenlos zu
Die Nachricht von diesem traurigen Zustand der Juden und ihrer Stadt war Nehemia, dem Mundschenk des Perserkönigs, zu Ohren gekommen. Sein Herz, das an seinem Volk hing und treu war gegenüber seinem Gott, krampfte sich zusammen. Er weinte und trug Leid tagelang. Aber dann legte es ihm Gott aufs Herz, sich für seine Brüder zu verwenden. Er erlangte vom König die Erlaubnis, nach Jerusalem hinaufzuziehen, um die Wiederaufrichtung der Mauern Jerusalems und den Wiederaufbau der Stadt an die Hand zu nehmen.
Möchten auch wir in dieser Zeit des Verfalls in der Christenheit für die Heiligen vor Gott einstehen und uns, wie einst Paulus, «mit dem Herzen Jesu Christi» zu ihrem Wohl für sie verwenden, nach dem Mass der Möglichkeiten, die uns Gott gegeben hat!
In Jerusalem angekommen, nahm Nehemia zuerst den Zustand der Stadt in Augenschein, und wie schmerzlich berührt war er von ihrem Verfall!
Auch wir, könnten wir heute einen Blick auf die Kirche in der Welt werfen – und was aus ihr geworden ist – ohne dass uns ihr Zustand tief zu Herzen ginge?
Wir wollen uns aufmachen und bauen
Nehemia versammelte die Führer der Juden und teilte ihnen seine Absicht mit, die Mauern wieder aufzubauen; der König habe seine Einwilligung dazu gegeben. Gewiss war es traurig, dass sie von den Königen der Nationen abhängig waren. Anderseits aber war diese Zustimmung ein Zeichen dafür, dass Gott sie in ihrem Zustand der Erniedrigung nicht aufgab. Er hatte das Herz des Königs geneigt, und Er wirkte auch in den Herzen der Führer. Als Nehemia sie aufforderte: «Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems wieder aufbauen, damit wir nicht länger zum Hohn sind!», da antworteten sie: «Wir wollen uns aufmachen und bauen!»
So war durch die Gnade Gottes und durch seinen Geist eine neue Erweckung entstanden. Schon das Buch Esra berichtete von einer Erweckung; jene hatte den Wiederaufbau des Altars und des Tempels zur Anbetung zum Ergebnis. Aus dieser zweiten Erweckung nun sollte die Wiederaufrichtung der Mauer zur Absonderung und zur Verteidigung hervorgehen; Tore sollten eingesetzt werden, die dem Volk Gottes den Eingang und den Ausgang ermöglichten und vor den Ungläubigen geschlossen werden konnten.
Wie damals so besteht auch in den heutigen Tagen des Verfalls inmitten der Christenheit ein Altar der Anbetung, wo in der Mitte der Zwei oder Drei, die zum Namen Jesu hin versammelt sind, Gott Anbetung dargebracht wird «in Geist und Wahrheit». Auch heute soll der Christ eine Mauer der Absonderung aufrichten gegenüber dem Bösen in allen seinen Formen: Trennung vom persönlichen und kollektiven, sittlichen und religiösen Bösen; Trennung von allem, was von der Welt, vom Fleisch und vom Menschen und nicht von Gott ist.
Ferner sollen wir auch in unseren Tagen dafür sorgen, dass die Tore ihren Dienst tun. Man kann nach aussen hin die Mauer der Absonderung aufrichten, sich von den Systemen und Organisationen der Menschen trennen, und doch Dinge eindringen lassen, die nicht von Gott sind, sei es die Welt oder fremde Lehren und ihre Verkündiger. Einerseits ermahnten die Apostel: «Nehmt uns auf; wir haben niemand Unrecht getan» (2. Kor 7,2), und: «Für den Namen sind sie ausgegangen … Wir sind schuldig, solche aufzunehmen» (3. Joh 7.8). Anderseits aber sagten sie zu einer auserwählten Frau: «Jeder, der weitergeht und nicht in der Lehre des Christus bleibt, hat Gott nicht; … Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüsst ihn nicht» (2. Joh 9,10).
Wir leben noch in ernsten Tagen, die Wachsamkeit erfordern. Bald aber kommt die glückliche Zeit, wo wir zum himmlischen Jerusalem gehören werden, das in unvergleichlichem Glanz erstrahlen wird. Jene Stadt hat zwar auch Mauern, zum Zeichen der Absonderung für ihren Gott, aber ihre Tore bleiben offen. Dennoch «wird nicht in sie eingehen irgendetwas Gemeines und was Gräuel und Lüge tut» (Off 21,27). Dort braucht man sich nicht mehr vor den Listen dessen zu schützen, der hier auf der Erde so oft die Gestalt eines Engels des Lichts annimmt, um die Heiligen zu verführen.
Aber hier in der Welt muss die Mauer der Absonderung aufrecht gehalten, und die Tore müssen sorgfältig behütet und geschlossen werden, damit nichts sittlich Böses eindringen kann und nichts von all dem, was nicht nach der Lehre des Christus ist, die wir «von Anfang» gehört haben. «Wacht, haltet fest im Glauben.»
Das also war das Wesen und das Ziel jenes Werkes: Jener Überrest sollte die Mauer aufrichten und die Tore einsetzen, um die heilige Stadt von den Unbeschnittenen und ihren Verunreinigungen zu trennen und ihnen den Eintritt zu verunmöglichen. Das sind die Unterweisungen, die wir daraus entnehmen können.
Gehen wir nun in die Einzelheiten unseres Kapitels näher ein!
Alle helfen mit
Beachten wir zunächst, dass alle ohne Unterschied in diesem grossen Werk Verwendung fanden. Es betraf alle. Allen sollte es wichtig sein, sowohl den Priestern und den Obersten als auch den Händlern und den Handwerkern. Die Priester konnten nicht sagen: «Diese Arbeit ist unter unserer Würde; wir sind zu heilig, um uns daran zu beteiligen; das ist ein Werk für das gemeine Volk.» Die anderen wiederum betrachteten es nicht als eine Angelegenheit der Priester, der Leviten und der Obersten. Sie sagten nicht: «Wir haben doch unsere Arbeit; wir müssen unser Brot verdienen und dürfen keine Zeit verlieren!» Nein, die Absonderung war für alle wichtig; alle mussten sich von den Nationen absondern und sich gegen sie schützen, alle hatten darüber zu wachen, dass die Tore richtig eingesetzt und geschlossen wurden. Wohl hatten nicht alle dieselbe Verrichtung; aber alle arbeiteten an der gemeinsamen Aufgabe mit, selbst Frauen wie die Töchter Schallums (Vers 12).
So ist es auch für uns Christen. Die Ermahnung zur Absonderung richtet sich an alle. «Sondert euch ab, spricht der Herr, … und ihr werdet mir zu Söhnen und zu Töchtern sein» (2. Kor 6,17.18).
Warum das Schaftor ohne Riegel blieb
Aber wenn auch alle mithalfen, so gab es doch Unterschiede im Eifer und in der Ausführung der Arbeit.
An der Spitze der Liste erscheinen Eljaschib, der Hohepriester, und seine Brüder. Es gehörte sich, dass er als Erster genannt wurde. Gott anerkennt die Würde, die Er verliehen hat, und wir sind gehalten, sie zu respektieren. Aber Gott richtet auch ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk (1. Pet 1,17). Eljaschib und seine Brüder bauten das Schaftor und die Mauer bis an den Turm Mea, bis an den Turm Hananel. Auch heiligten sie ihr Werk. Das alles war gut; die Ansprüche waren hoch. Doch macht der Heilige Geist auf eine kleine Einzelheit aufmerksam, die auf den Wert dieser Arbeit Licht wirft: Die Tore wurden gebaut und die Flügel eingesetzt. Aber da war kein Schloss! Eljaschib und die Priester setzten weder Klammern noch Riegel ein, wie die Söhne Senaas (Vers 3) oder Jojada und Meschullam am Tor der alten Mauer (Vers 6) und andere an den übrigen Toren es taten (Verse 13-15). Weshalb diese Unterlassung im Werk Eljaschibs? Wozu taugte ein solches «geheiligtes» Tor? Es erweckte ja nur einen schönen Schein! Jeder konnte es mühelos aufstossen, um einzutreten!
Die Fortsetzung des Berichtes Nehemias erklärt uns, weshalb an diesem Tor die Klammern und Riegel fehlten: Eljaschib hatte Verbindung mit Tobija, dem Ammoniter und mit Sanballat, dem Horoniter, den beiden Feinden des Volkes Gottes, «die es gar sehr verdross, dass ein Mensch gekommen war, um das Wohl der Kinder Israels zu suchen» (Neh 13,4.28; 2,10). Eljaschib wollte das Tor vor seinen beiden Verbündeten nicht verschliessen! Der schöne Schein trog; das Werk war unvollkommen und verriet, was im Herzen des Bauenden war.
Hüten auch wir uns! Wenn ein Mensch in der Kirche Gottes einen hervorragenden Platz einnimmt, hohe religiöse Ansprüche stellt und sich zu erhabenen Lehren bekennt, so beweist dies noch nicht, dass sein ganzes Werk gottgemäss sei oder dass wir ihm in allen Dingen folgen können. Hat er ein Schloss an seinem Tor? Oder hat er den falschen Lehrern und ihrem verderblichen Einfluss etwa die Türe offen gelassen? Er mag an der Mauer der Absonderung mitgearbeitet und mit Kraft und Beredsamkeit über die Notwendigkeit geredet haben, sich von der Welt und den religiösen Systemen zu trennen. Aber das genügt nicht. Steht er mit irgendetwas in Verbindung, was Christus verunehrt, ohne es vielleicht selber zu praktizieren? Ach, Gott kann in dieser Beziehung die Neutralität nicht anerkennen! Lasst uns nicht Eljaschib und seine Brüder nachahmen, sondern vielmehr das Beispiel derer, die darauf achten, dass ihre Tore mit soliden Verschlüssen, mit Klammern und Riegeln versehen sind. Lasst uns in Christus Jesus gut gewurzelt und befestigt sein; lasst uns feststehen und die Überlieferungen halten, die wir gelehrt worden sind! (Kol 2,6.7; 2. Thes 2,15). Dann werden wir das Tor vor all dem schliessen, was nicht von Gott ist.
Eifriges Dienen und vornehmes Nichtstun
Der Geist, in dem am Werk gearbeitet wurde, wird auch erwähnt. Baruk z.B. besserte mit einem besonderen Eifer aus, und der Geist Gottes erwähnt es gerne (Vers 20). Sein Herz war ganz bei seiner Arbeit. Nichts war ihm zu viel, wenn es darum ging, an der Aufrichtung der Mauer der Absonderung mitzuhelfen. Jede Mühe diente ja zur Verherrlichung Gottes und zum Wohl des Volkes.
Oh, wie gut ist es, nicht gezwungenermassen mitzuwirken, weil die andern es tun, sondern mit einem eifrigen Herzen, das auf Gott und den Herrn Jesus gerichtet ist und weiss, dass Ihm dieses Werk wohlgefällig ist!
So wie Baruk damals war später auch Epaphras, der allezeit für die Heiligen in den Gebeten rang und viel Mühe hatte um sie, damit sie stehen möchten «vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes». Auf diese Weise half auch er mit, die Mauer der Absonderung aufzurichten (Kol 4,12.13). Und werden wir nicht alle ermahnt, denselben Eifer zu zeigen, «im Fleiss nicht säumig, inbrünstig im Geist; dem Herrn dienend»? (Röm 12,11).
Neben diesem erfreulichen Beispiel eines Baruk, der mit Eifer, Herzenshingabe und Freude im Werk seines Herrn arbeitete, haben wir auch die traurige Erwähnung der «Vornehmen» unter den Tekoitern, die ihren Nacken nicht unter den Dienst ihres Herrn «beugten» (Vers 5). Sie hielten sich für zu vornehm, als dass sie sich mit Maurerarbeit befassen sollten. Sie meinten, das stehe dem geringen Volk zu.
Aber ist es wirklich eine Erniedrigung, für «seinen Herrn» zu arbeiten, was auch immer die Aufgabe sein mag, die Er uns zuweist? Ist es nicht vielmehr eine Ehre? Hat uns der Herr Jesus, der Sohn Gottes, der Gegenstand der Verehrung der Engel, nicht ein wunderbares Beispiel demütigen Dienstes gegeben? Was auch immer unsere Stellung in der Welt sei, lasst uns nicht zögern, uns zu denen zu gesellen, die mit der Aufrichtung der Mauer der Absonderung zwischen der Welt und ihnen beschäftigt sind. Mose am Hof des Pharaos wählte, «lieber mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden … indem er die Schmach des Christus für grösseren Reichtum hielt als die Schätze Ägyptens» (Heb 11,25.26).
Wie schön ist es, dass die übrigen Tekoiter nicht auf das Beispiel ihrer «Vornehmen» achteten, sondern mit grossem Eifer arbeiteten. Sie besserten nicht nur zur Seite Zadoks aus (Verse 4 und 5), sondern auch noch eine andere Strecke «dem grossen vorspringenden Turm gegenüber und bis zur Mauer des Ophel» (Vers 27). Sie verwirklichten eine Ermahnung, die auch uns gilt: «Lasst uns aber nicht müde werden, Gutes zu tun, denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten» (Gal 6,9).
Auch die meisten der Obersten verhielten sich nicht so wie die Vornehmen der Tekoiter. Sie beteiligten sich aktiv am Werk (Verse 9,12,14,15,16 usw.). Wenn man auch wie zu den Zeiten des Apostels sagen muss: «Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle», so hat es – Gott sei Dank! – doch auch heute wie damals noch manchen «vortrefflichsten Theophilus», «vornehme Frauen» und Männer, die sich glücklich schätzen, im Werk des Herrn arbeiten zu dürfen.