«Der Mensch verscheidet, und wo ist er?» (Hiob 14,10).
Diese Frage, die sich jeder Menschenseele stellt oder stellen sollte, ist feierlich ernst. Der Tod, der Endpunkt des Daseins hier auf der Erde, das unvermeidliche Los des Menschen, ist er wirklich das Ende der Ausübung seiner Gaben, seiner Tätigkeit, seiner Arbeit, seiner Freuden, wie auch seiner Schmerzen? Oder aber gibt es für ihn jenseits des Todes ein anderes Dasein, eine Fortsetzung seiner Existenz, wenn auch unter anderen Bedingungen? Und wenn dem so ist, von welcher Art wird es sein? «Der Mensch verscheidet, und wo ist er?»
Die Materialisten antworten: «Er ist nirgends mehr, denn wer stirbt, ist tot.» Doch können sie für ihre feste Behauptung keinen Beweis erbringen. Und ganz auf dem Grund des Wesens des Menschen meldet sich eine Stimme, die zu ihm sagt: «Es muss eine Abrechnung geben; jedem wird nach seinen Werken erstattet. Diese Abrechnung erfolgt nicht hier auf der Erde; sie kommt auf der anderen Seite des Grabes.» Diese Stimme des Gewissens suchen viele zu ersticken; sie möchten lieber das Nichts als ein Leben jenseits des Todes.
Die Antwort auf die vom Patriarchen Hiob gestellte Frage muss auf ein sichereres Fundament gegründet sein als auf die Überlieferung, die Mutmassungen, die Wünsche und die Überlegungen der Menschen. Nur Einer konnte die Antwort geben, ein Einziger nur vermochte den Vorhang zu heben, der das Gebiet jenseits des Grabes überdeckt. Christus, der das Licht ist, hat Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium. Gestützt auf das Wort Gottes, auf das Wort der Wahrheit, haben wir grosse Gewissheit bezüglich alles dessen, was auf den Tod folgt. Und wenn jemand dahinscheidet, so wissen wir, wo er ist. Aber wir haben einfach anzunehmen, was das Wort Gottes uns sagt, ohne darüber hinauszugehen, ohne uns in Vermutungen, Wunschgedanken und menschliche Überlegungen zu verirren. Wir müssen uns mit dem begnügen, was Gott uns offenbart, und nicht ergründen wollen, was Er uns noch nicht kundtun will. Wir sollen unseren Platz in Unterwürfigkeit, in Vertrauen und in Anbetung vor Ihm einnehmen. Uns geringen Geschöpfen geziemt es, überzeugt zu sein, dass bei Gott Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe in Einklang stehen, und sich damit zufrieden zu geben.
Was folgt also auf den Augenblick, wo der Mensch verscheidet, wo er seine Augen für den irdischen Schauplatz schliesst?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich in Erinnerung rufen, was uns das Wort Gottes über die Schöpfung des Menschen sagt. Gott bildete ihn – was seinen Leib betrifft – aus dem Staub des Erdbodens. In diesem materiellen Teil seines Wesens gleicht der Mensch gewissermassen den Tieren. Aber Gott hauchte in seine Nase den Odem des Lebens; und der Mensch wurde eine lebendige Seele. Dieser Odem des Lebens, der von Gott kommt, ist der Geist, die Seele,1 die körperlose Kraft, die den Leib belebt. Diese Teile bilden zusammen ein Wesen, den Menschen; aber der Leib ist der Teil, durch den wir mit der materiellen Welt in Beziehung treten, das Werkzeug, durch das wir im Blick auf das Sichtbare handeln; die Seele hingegen ist die Kraft, die dieses Werkzeug regiert und sich seiner bedient. Sie ist es, die eigentlich unser «Ich» darstellt, denn wir sagen «mein Leib», «meine Glieder», indem wir damit andeuten, dass wir etwas anderes sind: der körperlose Bewohner der materiellen Hülle, die zu mir gehört. Es ist in diesen Tagen des Materialismus von grosser Wichtigkeit, diese grundlegenden Wahrheiten festzuhalten, besonders die Tatsache, dass unsere Seele, dieser Odem des Lebens, der von Gott kommt, nicht vernichtet werden kann. Sie ist unsterblich, wie verschiedene Stellen der Schrift es zeigen.
Und nun, was ist der Tod? Das Ende unseres Bestehens hier auf der Erde. Aber was ist dessen Ursache? Die Trennung der beiden Teile, die unser Wesen bilden. Der Leib kehrt zur Erde zurück, aus der er gebildet worden ist; seine Organe lösen sich auf und die Verwesung bemächtigt sich seiner. Wir wissen durch das Wort Gottes, woher diese Abnormität im Zustand des Menschen kommt. Es ist die Sünde, der Ungehorsam, die den Tod herbeigeführt haben, gemäss der Ankündigung Gottes: «An dem Tag, da du davon isst, musst du sterben.» Aber die Auflösung des materiellen Teils unseres Wesens, berührt sie auch den stofflosen Teil? Keineswegs; losgelöst von seiner materiellen Hülle, fährt die Seele fort zu existieren. Das Wort Gottes gibt darüber klare Auskunft. Das Alte Testament sagt es uns in einer bemerkenswerten Stelle: Die silberne Schnur wird zerrissen (das Band, das die beiden Teile vereinte), die goldene Schale zerschlagen und zerbrochen der Eimer am Quell (der Leib kann das Leben, das ihn belebt, nicht mehr fassen), zerschlagen ist das Rad an der Zisterne (die Triebfeder ist zerbrochen), der Staub (der Leib) kehrt zur Erde zurück, so wie er gewesen und der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat» (Pred 12,6.7); nicht um sieh im All aufzulösen, sondern um vor Dem zu sein, der ihn gegeben hat – «danach aber das Gericht».
Als sich der Herr an die Sadduzäer wandte, um ihnen die Sinnlosigkeit ihres Materialismus zu beweisen, in dem sie nicht nur die Auferstehung, sondern auch das Bestehen des Menschen nach dem Tod leugneten, zeigte Er auf eindrückliche Weise, dass nicht der ganze Mensch stirbt. Er erinnerte sie daran, dass sich der HERR einst dem Mose als «der Gott Abrahams, und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs» offenbart habe, und fügte dann hinzu: «er ist aber nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden, denn für ihn leben alle» (Lk 20,37.38). Alle, die diesen Schauplatz der Welt verlassen haben, wie die Patriarchen, leben für Gott. Ihre Geister bestehen.
Wo leben sie denn? Die Schriften des Alten und des Neuen Testaments haben ein Wort, womit sie den Aufenthaltsort der Seelen bezeichnen, die vom Leib getrennt sind. Im Alten Testament ist es der «Scheol», im Neuen Testament der «Hades» oder der «unsichtbare Ort», der jedem sterblichen Auge verborgen und unseren Sinnen völlig unfasslich, gleichwohl aber nicht das «Nichts» ist; denn wer sich darin aufhält, verlässt ihn wieder. Der Scheol ist nicht die Gruft, nicht die Hölle, sondern der Aufenthaltsort der Geister nach dem Tod. Das Alte Testament zeigt uns die Abgeschiedenen als lebendig. Nicht durch die Kraft der Totenbeschwörerin, sondern durch den Willen Gottes kam Samuel aus diesem Ort hervor, um dem schuldigen König Saul dessen Niederlage und bevorstehenden Tod anzukündigen (1. Sam 28). Samuel lebte also. Jesaja zeigt uns in einer Stelle von erhabener Poesie die Könige und die Mächtigen der Erde im Scheol, wie sie zittern, als sie sehen, wie der hochmütige Monarch von Babylon zu ihnen herabkommt (Jes 14). Die Sprache ist darum so wunderbar, weil es die Stimme der Wahrheit ist. Und David sagt bezüglich des Kindes, das er soeben verloren hat: «Ich gehe zu ihm, aber es wird nicht zu mir zurückkehren.» Das war sein Trost; aber hätte er so gesprochen, wenn er nur hätte sagen wollen, dass er so wie dieses Kind sterben werde?
Aber die Stelle, die uns das Bestehen und den Zustand der Geister nach dem Tod am klarsten zeigt, ist Lukas 16, wo der Herr im Bericht vom reichen Mann und dem Lazarus den Schleier hebt, der unseren Augen die jenseitige Welt verbirgt, in die wir nach dem Tod kommen. Dieser Bericht lässt uns sehen, dass der vom Leib getrennte Geist weiterhin alle seine aktiven Fähigkeiten besitzt: Er geniesst und leidet, er fühlt und erinnert sich, er wünscht und bittet. Auch in der Offenbarung sehen wir die Seelen derer, die um des Namens Jesu willen getötet wurden, als lebendig und Rache fordernd (Off 6,9-11).
Wir können also daraus schliessen, dass nach dem Tod, während der der Erde zurückgegebene Leib in Staub zerfällt, der Geist in einer Sphäre lebt, die mit unseren Sinnen nicht wahrgenommen werden kann und dass er die Fähigkeit hat, dort Wahrnehmungen zu machen, die von den materiellen Dingen nicht gestört werden können.
Da möchte ich nun einem Einwand begegnen: «Was bedeuten denn diese Ausdrücke der Schrift: «Er entschlief» – «die Entschlafenen» und andere, wenn der Geist beim Verlassen seiner körperlichen Hülle Wahrnehmungen macht, und eine Tätigkeit entfaltet? – Der Tod wird in der Tat mit einem Schlummer verglichen, aber dies bezieht sich nur auf den Leib und nicht auf den Geist. Dieses rührende Bild wird gebraucht, um die Ruhe nach all den Mühen und Kämpfen des Lebens hier auf der Erde anzudeuten, und vor allem wird dadurch der Hoffnung des Aufwachens in der Auferstehung des Leibes Ausdruck gegeben. So sagt zum Beispiel der Herr Jesus von Lazarus, dem Bruder der Schwestern Martha und Maria: «Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.» Um was aufzuwecken? Nicht den Geist des Lazarus, sondern seinen Leib. Auch sagte der Herr im Blick auf das Töchterchen des Jairus: «Weint nicht, denn sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft.» Für die Welt war sie gestorben, ihre Tätigkeit hier auf der Erde hatte aufgehört; aber für Ihn, für den alle leben, schlief sie nur. Als Jesus gesagt hatte: «Kind, stehe auf!», kehrte der Geist in sie zurück, und sie erhob sich wie jemand, der aus dem Schlaf erwacht. Das will nun aber – wir wiederholen es – keineswegs heissen, dass ihr Geist schlief. Wir haben Mühe, diesen Zwischenzustand zu begreifen; er ist abnormal, könnte man sagen, ein Zustand, wo der Geist vom Leib getrennt ist, der ihn auf der Erde mit der äusseren und materiellen Welt in Beziehung gebracht hat. Aber nach dem Tod ist diese Welt für ihn verschwunden, er ist nur noch in Kontakt mit den unsichtbaren und ewigen Wirklichkeiten. Darauf ist nun seine ganze Tätigkeit gerichtet und er entfaltet bezüglich dieser Dinge sogar eine grössere Tätigkeit, als dies hier auf der Erde der Fall war, weil er nicht mehr gehindert wird, und der Geist nicht mehr in Anspruch genommen ist durch die Bedürfnisse und die Schwachheiten des Leibes, durch die Beschäftigungen und die zahlreichen Ablenkungen des irdischen Lebens.
Der Geist schläft also nicht. Vom Augenblick des Todes an lebt er in der unsichtbaren Welt. Wie feierlich ernst ist dies für den Ungläubigen! Wie kostbar aber für den Gläubigen! Im Blick auf den Letzteren möchte ich noch einige Beweise für die Tatsache, die ich soeben berührt habe, hinzufügen. Der Gläubige hat das Leben des Christus. Christus ist sein Leben, und er hat dieses Leben in seinem sterblichen Fleisch zu offenbaren (2. Kor 4,10.11). Aber ist das Leben des Christus in seinem Leib? Ist es nicht vielmehr sein Geist, der dadurch belebt wird? Ist der Leib oder der Geist durch die Kraft des Heiligen Geistes von neuem geboren? Die Frage ist leicht zu beantworten. Wenn aber der Tod für den Geist statt für den Leib ein Schlafen wäre, müssten wir dann nicht daraus schliessen, dass das Leben Jesu in uns schliefe? Nein, das ewige Leben in uns kann doch unmöglich unterbrochen werden! Gott hat uns gesetzt, «damit wir, sei es, dass wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben», mit Jesus, der für uns gestorben ist (1. Thes 5,9.10).
Aber noch deutlichere Stellen zeigen, dass der Geist nach dem Tod, losgelöst von den Fesseln des Leibes, sich sogleich lebend vor Gott befindet. Die erste dieser Stellen findet sich in Lukas 23,43. Zum bekehrten Schächer, der an diesem Tag sterben sollte, sagte Jesus: «Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.» sein armer Leib wurde in die Grube geworfen, aber er selbst, sein Geist, ging sogleich mit dem Herrn an den Ort der Wonne. Das ist wohl der Hades, aber für die errettete Seele ist dieser unsichtbare Ort schon ein Ort der Glückseligkeit.
Ist es wohl unser Leib oder unsere Seele, die jetzt, auf der Erde, die Dinge Gottes geniesst? Ohne Zweifel die Seele, die in dem Leib wohnt. Aber hat sie dazu den Leib nötig? Was Paulus erlebte, beantwortet diese Frage. Er ist in den dritten Himmel, ins Paradies entrückt worden und hat dort unaussprechliche Worte gehört. Aber er sagt: «ob im Leib oder ausserhalb des Leibes, weiss ich nicht, Gott weiss es» (2. Kor 12,2-4). Wer wurde entrückt, wer hat gehört, wer hat genossen? Paulus. Aber war es in seinem Leib, so nahm sein Geist dies alles wahr; war es jedoch ausserhalb des Leibes, wer anders hätte es sein können, wenn nicht sein Geist?
Vergessen wir nicht, dass der Mensch nur mit einem Leib vollständig ist; daher wird die Auferstehung immer als der Endzustand vor uns gestellt. «Heute», sagte der Herr zum Schächer; dann aber verschied Er vor jenem, indem Er sagte: «Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist.» Und kurz nachher, «heute», am gleichen Tag, wurden die Gebeine des erretteten Schächers gebrochen und sein glückseliger Geist ging dahin, wo der Geist seines Heilandes schon war. Der Schächer schläft so wenig wie sein Retter. Christus ist auferstanden, und der Schächer wartet im Paradies auf den Tag der Auferstehung, wovon Christus der Erstling ist (1. Kor 15,23).
- 1Wenn der Apostel Paulus den Menschen in seinem ganzen Wesen betrachtet, so redet er von Leib, Seele und Geist (1. Thes 5,23); der Letztere ist der erhabenste Teil unseres körperlosen Wesens, der uns mit Gott in Beziehung bringt.