Nach dem Tod (2)

Die zweite Stelle, die uns hier besondere Klarheit gibt, ist die Beschreibung des Todes des Stephanus, des ersten Märtyrers, in Apostelgeschichte 7. Nachdem er den geöffneten Himmel gesehen und Jesus, dem Sohn des Menschen, der zur Rechten Gottes verherrlicht ist, Zeugnis gegeben hatte, wurde Stephanus gesteinigt und sagte sterbend: «Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!», und dann entschlief er. Er liess seinen gepeinigten Leib auf der Erde, aber sein Geist, sein körperloses Wesen, das vom Hass seiner Feinde nicht angetastet werden konnte, ging zum Herrn…1

Was seinen Leib betraf, entschlief er. Ein schönes Bild von der Ruhe, vom Ende der Leiden, die er im Leib erduldet hatte. Aber sein Geist war jetzt lebendig, frei und glücklich, denn Jesus hatte ihn aufgenommen. Welchen Wert hätten seine Worte gehabt, wenn sein Geist, der soeben die Herrlichkeit gesehen hatte, entschlafen wäre, das Bewusstsein verloren hätte von dem, was ihn gerade gestärkt hatte, seinem Herrn Zeugnis zu geben und seinen Feinden zu vergeben?

Zwei weitere deutliche Stellen gibt es noch, die die Tatsache der bewussten Existenz des Geistes im Augenblick, der auf den Tod folgt, bestätigen.

Im 2. Korinther-Brief 5,8 gibt der Apostel eine Definition von dem, was der Tod für den Christen bedeutet: Dann ist er «ausheimisch von dem Leib», aber «einheimisch bei dem Herrn»; nicht mehr in diesem verderblichen Zelt des Leibes, das hier auf der Erde sein Heim war, sondern einheimisch droben bei dem Herrn. Doch wann ist dieser Einzug ins neue Heim? Muss man da auf die Auferstehung warten? Keineswegs. Der Zusammenhang beweist es: «Einheimisch in dem Leib, sind wir von dem Herrn ausheimisch», wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen. Aber «ausheimisch von dem Leib», wenn der Leib hier auf der Erde verlassen wird, sind wir einheimisch bei dem Herrn, also in unserem Geist bei Ihm. Bei Ihm sein heisst: sehen, leben, sich über den Herrn freuen. Wie sollten wir annehmen, dass zwischen dem Augenblick, wo das Band abgebrochen wird und dem Augenblick, wo man beim Herrn ist, eine Zwischenzeit bestehen könnte? Die Form des Satzes zeigt das Gegenteil an, und der Wunsch des Paulus: «wir möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein», hätte keinen Sinn, wenn er auf die Auferstehung hätte warten müssen. Das «Heim» des Christen, wenn er diesen Leib verlässt, ist bei dem Herrn im Paradies, wie für den Schächer, wie für Stephanus. Man geniesst dort in Ruhe die beseligende Gegenwart des Herrn (ich sage nicht, die Beziehungen zu den andern entschlafenen Heiligen; denn nichts im Wort gibt uns dafür einen Anhaltspunkt).

Die zweite Stelle findet sich in Philipper 1,23. Sie hat denselben Sinn und enthält denselben Gedanken. «Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser.» «Abscheiden» heisst, die irdische Wohnung mit ihren Mühen, ihren Kämpfen und ihren Leiden verlassen. Diese ist ein Hindernis zum vollen Genuss Christi. Der Leib ist ein Zelt, das uns belastet und in dem wir seufzen. Aber sobald der Gläubige entschläft, findet der Geist sein Heim in Christus, und um wie viel besser ist dieses, wenn es auch noch nicht die Herrlichkeit in der Auferstehung ist.

Aus diesen Stellen allen können wir also schliessen, dass der Geist des Christen, in dem das ewige Leben ist, nach dem Tod sogleich zum Erlöser geht, der Quelle dieses Lebens. Der Heilige Geist, der in ihm war, bleibt in ihm, damit er alles geniessen kann, was dieses Leben umschliesst. Das also ist unser glückseliges Teil, sobald wir unseren sterblichen Leib verlassen. Welch ein Trost für die, die zurückbleiben! Welch kostbare Sicherheit für die Entschlafenden!

Was aber wird im ernsten Augenblick des Todes aus den Menschen, die ohne Christus sterben? Auch da besteht kein Zweifel darüber, dass der vom Leib getrennte Geist weiter lebt. Selbst wenn wir nur den Text von Lukas 16 besässen, den Bericht vom reichen Mann und dem armen Lazarus, so würde dies genügen. Aber es gibt noch andere Stellen. Nehmen wir zum Beispiel 1. Petrus 3,19.20. Da finden wir «Geister, die im Gefängnis sind, die einst ungehorsam waren». Diese Geister leben; könnte es sich da mit denen, die jetzt ungehorsam sind, anders verhalten? «Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht» (Heb 9,27). Wer wird nach dem Tod gerichtet? Der Urteilsspruch: «Du wirst sterben», der einst gegen den sündigen Menschen ausgesprochen wurde, ist ausgeführt worden, aber es bleibt noch das persönliche Gericht des einzelnen nach dem Tod übrig. Das ist die göttliche Erklärung.

Der abgeschiedene Geist weiss sogleich nach dem Tod, was auf ihn wartet; er ist schon gerichtet. Dies ist noch nicht das Endgericht, das in Offenbarung 20 beschrieben wird und dann stattfindet, wenn die Toten in ihren Leibern auferstehen (siehe Johannes 5,28.29). Aber für jeden abgeschiedenen Ungläubigen ist schon der Hades ein Ort der Qual bitterer Selbstvorwürfe, in Erwartung der endgültigen Verdammung im öffentlichen Gericht.

Der Gläubige wartet nicht auf den Tod; er erwartet den Herrn Jesus Christus als Heiland von den Himmeln; «der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit» (Phil 3,21). Aber er weiss, dass, wenn er nach dem Willen des Herrn in diesem Augenblick entschläft, sein Geist bei Jesu sein wird. Er lebt schon hier auf der Erde dieses Leben, über das der Tod keine Macht besitzt und er setzt es ausserhalb des Leibes bei Christus fort, in Erwartung der Auferstehung, des endgültigen Zustandes, wo er nach dem Ratschluss Gottes dem Bild des Sohnes völlig gleichgestaltet wird (Röm 8,29; 1. Joh 3,2).

Der Sünder ist tot für Gott, tot in seinen Vergehungen und Sünden. Er gebraucht seine Fähigkeiten nur für sich selbst, um seine Begierden zu befriedigen und seine Wünsche zu erfüllen, den Willen des Fleisches und der Gedanken zu tun, entsprechend seiner Natur, die dem Leben und den Dingen Gottes entfremdet ist (Eph 2,1-3; 4,18). Wenn die gegenwärtige Welt für ihn verschwunden ist, öffnet sich sein Geist plötzlich für die unsichtbaren und ewigen Wirklichkeiten. Er erkennt mit Schrecken, wie er ist, und versteht, was er verloren hat. Das macht im Hades – nach dem Tod – seine Qual aus.

Wir brauchen nicht in die Diskussion einzutreten über die oft gestellte Frage: «Was ist das Teil derer, die das Evangelium nie gehört haben, sei es in den heidnischen Ländern oder auch in den Gegenden, wo der Aberglaube das Christentum völlig entstellt hat?» Die einzige Antwort, die man in Übereinstimmung mit der Schrift darauf geben kann, um unnütze Spekulationen zu vermeiden, ist diese: Gott ist gerecht und Gott ist barmherzig. Er wird entsprechend seiner Gerechtigkeit und seiner Barmherzigkeit handeln. Was Er unserem begrenzten Geist in seiner erhabenen Weisheit nicht kundgetan hat, können wir Ihm getrost überlassen. Der Schleier wird sich eines Tages heben, wenn wir ganz erkennen werden, wie wir erkannt worden sind, und das Vollkommene gekommen sein wird (1. Kor 13,9-12). Bis dahin ist jeder für sich vor Ihm verantwortlich.

Gott hat uns also über das, was auf den Tod folgt, nicht im Ungewissen gelassen. Glückselig, wer sich im Glauben auf sein Wort stützt und beim Abscheiden weiss: Nun wird mein Geist «bei Christus» sein, wo es «weit besser» ist.

Eine Frage

Ein Leser fragt, ob man den Satz im ersten Teil des Artikels «Er geniesst und leidet, er fühlt und erinnert sich, er wünscht und bittet», wirklich auf den Geist eines entschlafenen Gläubigen anwenden könne.

Der Schreiber hat dies nicht behauptet. Er stellt lediglich fest, dass nach Lukas 16 ganz allgemein der vom Leib getrennte Geist weiterhin alle seine aktiven Fähigkeiten besitze.

Der Geist des Lazarus aber hatte im Hades keine Ursache mehr, zu leiden, sondern fand nur noch Anlass, zu geniessen und sich zu freuen; denn im Schoss Abrahams wurde er jetzt «getröstet». Er war allem entrückt, was seinen Frieden und seine Glückseligkeit je hätte stören können.

Der Geist jenes Mannes hingegen, der einst «reich» war, fand jetzt nichts mehr, um sich zu freuen. Er litt, und alles was er sah und fühlte, erhöhte nur seine Qual. Er erinnerte sich an seine Brüder, wünschte, dass sie nicht an diesen Ort der Qual kämen und bat Abraham, Lazarus zu ihnen zu senden. Sein Teil war nur noch Leiden und Unruhe.

  • 1Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen», sagt Jesus, «fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als Leib zu verderben vermag in der Hölle» (Mt 10,28).