Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten

Psalm 32,8-9

«Ich will dich unterweisen und dich den Weg lehren, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten. Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum und Zügel, ihrem Schmuck, musst du sie bändigen, sonst nahen sie dir nicht» (Ps 32,8.9).

Der eigene Wille

Wie oft gleichen wir, jeder von uns, dem Ross oder dem Maultier! Und warum? Weil unsere Herzen nicht genug bearbeitet, nicht tief genug gepflügt sind. Wenn in irgendeiner Sache der eigene Wille tätig ist, so handelt der Herr mit uns wie mit einem Ross oder Maultier, um uns im Zaum zu halten. Steht dagegen das Herz in allen seinen Teilen in Berührung und Verbindung mit Ihm, so leitet Er uns mit seinem «Auge».

«Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Gib nun acht, dass das Licht, das in dir ist, nicht Finsternis ist. Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahl dich erleuchtete» (Lk 11,34-36). Solange das Auge in irgendeiner Sache nicht einfältig ist, leidet der freie Verkehr des Herzens mit Gott. Die Folge davon ist, dass wir nicht einfach von Gott geleitet werden; denn unser Wille ist nicht unterworfen. Befindet sich das Herz aber im richtigen Zustand, so ist der ganze Leib «voll von Licht», und man erfasst den Willen Gottes schnell. Alles was Er uns beibringen will, lehrt Er uns dann mit seinem «Auge» und erweckt in uns ein schnelles Verstehen in seiner Furcht. Das ist das Teil der Gläubigen, in denen der Heilige Geist wohnt und die kein anderes Ziel kennen, als den Willen Gottes zu tun und Ihn zu verherrlichen. So war es in Vollkommenheit bei Christus. «Siehe», sagte Er, «ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens» (Ps 40,8.9; Heb 10,7). Wo diese Gesinnung vorhanden ist, da geniesst das Herz die Freude des Gehorsams, mögen die Umstände des Weges noch so bitter und schmerzlich sein. Diese Freude ist tief und beständig, und Gott kann uns mit seinem Auge leiten.

Die Gewissheit, dass Gott es ist, der uns leitet

Wenn uns die Gewissheit fehlt, dass Gott uns leitet, so sollten wir diese Gewissheit zu erlangen suchen, bevor wir irgendeinen besonderen Dienst beginnen. Dabei sollten wir in unseren Herzen nachforschen, was bei uns dem Besitz dieser inneren Klarheit wohl hindernd im Weg stehen könnte. Denn wenn ich mich ohne die Überzeugung, dass Gott mich leitet, an irgendeine Sache mache oder mich auf irgendeinen Weg begebe und es begegnen mir Schwierigkeiten, so werden Schwachheit und Mutlosigkeit über mich kommen. Gehe ich aber in einer aus der Gemeinschaft mit Gott geschöpften Erkenntnis seiner Gedanken voran, so bin ich «mehr als Überwinder», was irgend mir auch auf dem Weg entgegentreten mag (Röm 8,37). Die Macht des Glaubens räumt dann auf meinem Pfad Berge von Schwierigkeiten weg.

Der Herr beschäftigt sich mit mir und lässt mich nicht eher seinen Willen und Weg erkennen, bis der Geist des Gehorsams in mir wirksam ist. «Wenn jemand», so sagte der Herr einmal zu den Juden, «seinen (Gottes) Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist, oder ob ich von mir selbst aus rede» (Joh 7,17). Das Herz muss sich im Zustand eines bereitwilligen Gehorsams befinden, wie das Herz von Christus, als Er sagte: «Siehe ich komme…» Dann wird die Gewissheit nicht fehlen. Der Apostel redete zu den Kolossern von dem Erfülltsein «mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht» (Kol 1,9). Damit ist jenes schnelle Verstehen des Willens Gottes in der Furcht des Herrn gemeint, von dem wir am Anfang gesprochen haben. Dieses innere «Erfülltsein» eines Menschen wird sich in äusseren Handlungen zeigen, sobald der Wille Gottes deutlich vor ihm steht. Deshalb fährt denn auch der Apostel Paulus an jener Stelle fort und sagt: «Um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk Frucht bringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes.»

Das also ist die gesegnete Stellung einer Seele, die durch Gottes «Auge» geleitet wird und dabei eine tiefe Freude geniesst. «Ich habe eine Speise zu essen», sagte unser Herr zu seinen Jüngern, «die ihr nicht kennt.» Und worin bestand diese Speise? «Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe» (Joh 4,32.34).

Leitung mit Erkenntnis – Leitung ohne Erkenntnis

Der Herr leitet – oder besser gesagt – überwacht uns auch auf eine andere Weise, damit wir nicht irregehen: durch die Vorsehung Gottes, beziehungsweise durch die Umstände. Wir haben sicher Ursache, Ihm dafür dankbar zu sein. Aber, vergessen wir es nicht, wir sind dann solche, die «keinen Verstand haben», und die Er deshalb behandeln muss wie ein Ross oder ein Maultier. «Wenn euer Wille dem meinen unterworfen ist», sagt Gott gleichsam, «so will ich euch mit meinen Augen leiten; wenn er aber nicht unterworfen ist, so muss ich euch mit Zaum und Zügel bändigen.» Dass das zwei sehr verschiedene Dinge sind, brauche ich nicht erst zu sagen.

Dass doch unser aller Herzen begehrten, den Willen Gottes zu kennen und zu tun! Es wird sich dann für uns nicht so sehr um die Frage handeln, was mit uns geschehe, sondern vielmehr darum, eben diesen Willen zu erfüllen in dem glücklichen Bewusstsein, dass Er uns mit seinem «Auge» leitet, und das ist uns genug. In unserem Geist ist dann kein Trug. Wir sind völlig abhängig von Ihm und fühlen, dass wir bestimmt irregehen würden, wenn Er uns nicht leitete.

Es gibt also eine Leitung, die mit unserer Erkenntnis verbunden ist, und eine Leitung ohne diese Erkenntnis. Die erstere ist unser gesegnetes Vorrecht. Die letztere aber mag zu unserer Demütigung oft notwendig werden.

In Christus war alles in genauer Übereinstimmung mit Gott. Denn was sehe ich an Ihm? Ein Leben ohne Fehl, eine beständige, nie wankende Offenbarung des Gehorsams. Er ging gerade dann nach Bethanien, als Er hingehen musste, und beachtete die Befürchtungen seiner Jünger nicht. Er blieb, nachdem Er von der Erkrankung des Lazarus gehört hatte, noch zwei Tage an dem Ort, wo Er gerade war. Sein Wesen, sein Charakter bestand darin, alles zur Verherrlichung Gottes zu tun und zu vollbringen.

Unter den Menschen aber herrscht eine grosse Verschiedenheit der Charaktere. Der eine ist sanft und zart, bei einem andern sind Festigkeit und Bestimmtheit vorherrschend. – In Christus aber bemerken wir keine Einseitigkeit. In Ihm gab es keine Ungleichheit oder Unebenheit. Alles war gerade an seinem richtigen Platz. Alle Fähigkeiten, die es in seinem Menschsein gab, waren bereit zu gehorchen und dem Antrieb des göttlichen Willens zu folgen.

Das göttliche Leben in uns, das Leitung benötigt, befindet sich in einem Gefäss, das unten gehalten werden muss. So war selbst für die Apostel der Befehl, nicht nach Bythinien zu reisen (Apg 16,7), keine Geistes-Leitung höchster Art, wie ein Apostel sie kennen konnte. Es war mehr eine Leitung nach Art des Rosses oder Maultieres, und nicht so sehr eine in der Gemeinschaft mit Gott erlangte Erkenntnis seiner Gedanken.

Leitung des Geistes

In den angeführten Versen aus Kolosser 1 finden wir manche Einzelheit von der Leitung des Geistes. Der Gläubige wird dort infolge seiner Gemeinschaft mit Gott als «erfüllt mit der Erkenntnis seines Willens» betrachtet. Der Heilige Geist leitet zu dieser Erkenntnis des göttlichen Willens hin, so dass in einem gegebenen Fall nicht einmal Anlass vorliegen mag, erst um diese Erkenntnis zu bitten. Wenn ich über irgendeine Sache geistliches Verständnis habe, so braucht das nicht unbedingt das Ergebnis meines Flehens in dieser Angelegenheit zu sein. Wohl aber wird im Allgemeinen viel Gebet vorhergegangen sein und mir diese besondere Erkenntnis gebracht haben. Wir sehen uns oft genötigt, bezüglich einer Sache um Leitung zu bitten, weil wir nicht in Gemeinschaft mit Gott sind. Es kann vorkommen, dass ich heute über eine Sache ehrlich und aufrichtig beunruhigt bin, über die ich vor Jahren, in einem besseren geistlichen Zustand, nicht im Geringsten im Zweifel gewesen wäre.

Wenn uns Gott in seinem Dienst benutzen will und wir uns selbst aufgegeben haben, so dass unser Wille nicht wirksam ist, gibt Gott es uns vielleicht ins Herz, hierhin oder dorthin zu gehen. Gott selbst leitet uns dann in bestimmter Weise. Aber dies setzt einen Wandel mit Gott und auch Sorgfalt und Fleiss voraus, einen Wandel, in dem das eigene Ich im Tod gehalten wird. Wenn wir in Demut vor Gott wandeln, sind wir uns seiner Leitung bewusst.

Nehmen wir ein Beispiel: Ich befinde mich an einem gewissen Ort. Nun kommt jemand zu mir und sagt: «Wollen Sie nicht lieber nach X. gehen?» Wenn ich nun um Leitung von oben bitten muss, so ist das gerade ein Beweis, dass ich nicht in der Erkenntnis der Gedanken Gottes stehe. Sonst würde ich nicht im Unklaren sein, was ich zu tun hätte. Vielleicht sind Beweggründe vorhanden, die mich nach der einen oder anderen Richtung hintreiben und mein geistliches Urteil trüben. Wie dem auch sei, jedenfalls stehe ich nicht unter der Leitung des «Auges» Gottes. Als die Jünger einst zum Herrn sagten: «Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wieder gehst du dahin?» antwortete Er: «Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag wandelt, stösst er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stösst er an, weil das Licht nicht in ihm ist.» (Joh 11,8-10). Die Anwendung dieser Worte des Herrn ist sehr einfach. Wenn ich in der Nacht wandle, so muss ich auf die im Weg liegenden Steine achthaben, damit ich nicht über sie stolpere und zu Fall komme. Wenn ich am Tag wandle, ist das unnötig. Ich wandle im Licht und entgehe ganz von selbst den Anstössen. So bat auch einst Paulus für die Philipper, dass ihre Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit sie prüfen möchten, was das Vorzüglichere sei, um lauter und ohne Anstoss zu sein auf den Tag Christi, ohne ein einziges Straucheln auf dem ganzen Weg bis ans Ziel.

Viele betrachten die Vorsehung Gottes als einen Führer. Jedoch, die Vorsehung mag uns wohl überwachen, aber niemals leitet sie uns im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie leitet Umstände und Dinge. Wenn ich irgendwohin gehen will, um dort einen Dienst zu tun, und am Bahnhof feststelle, dass der Zug schon abgefahren ist, so hat Gott die Umstände für mich geleitet. Wohl mag ich Ursache haben, Ihm dafür dankbar zu sein, aber ich kann nicht sagen, Gott habe mich geleitet. Denn wenn der Zug nicht abgefahren wäre, so wäre ich gegangen. Mein Wille war zu gehen.

Die Leitung der Vorsehung Gottes zu erfahren, ist gewiss ein Segen. Aber es ist nicht eine Leitung durch den Geist Gottes, nicht eine Leitung durch das «Auge», sondern eher durch den «Zügel» Gottes. Denn obwohl uns die Vorsehung Gottes überwacht und die Dinge und Umstände zu unserem Nutzen und zu unserer Belehrung leitet, so ist sie doch, genau genommen, kein Führer.