Wir sind geneigt, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen. Das entmutigt und schwächt uns. Wir leben in schwierigen Zeiten, wo der allgemeine Zustand der Dinge böse ist. Nach welcher Seite hin wir unsere Blicke auch richten mögen, stellen wir einen sittlichen und geistlichen Verfall fest. Man müsste blind sein, um diese Tatsachen nicht zu sehen. Wer sie nicht tief empfände, wäre gefühllos und gleichgültig oder gar untreu. Aber sich auf fleischliche Weise damit zu beschäftigen wäre töricht und schädlich.
Was soll man denn tun in diesen letzten, «schweren Zeiten»? Oder besser: Was tut der Geist Gottes? Der in seinen Gedanken «unter der Sonne» lebende Mensch fragt: «Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese?» – «Nicht aus Weisheit» fragt er danach (Prediger 7,10).
Aber Gott richtet die Blicke seiner Kinder nach oben und nach vorn; nach oben zu Ihm selbst, zum Thron der Gnade, und nach vorn, unserem gesegneten Ziel entgegen.
Die Schätze seiner Gnade sind auf dem ganzen Wege für uns aufgetan; Er sei dafür gepriesen! «Gott aber vermag jede Gnade gegen euch überströmen zu lassen», sagt der Apostel (2. Kor 9,8). Wie viel Mut, wie viel Trost und Kraft können wir aus diesen Worten schöpfen, und welch eine mächtige Hilfe finden wir in den Schätzen seiner Gnade! Unsere Schwierigkeiten mögen beträchtlich sein, der sittliche Verfall, die geistliche Schwachheit mögen zunehmen. Das alles ist dazu angetan, uns zu bedrängen. Wir können in unseren Häusern, bei unseren Kindern, bei der Jugend im Allgemeinen und leider auch in der Versammlung, die für «die letzten Tage» angekündigten Zeichen klar erkennen. Aber bei alledem können wir sagen: «Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du in den Himmeln thronst», und dürfen auf seine Gnadenverheissungen warten: «Meine Hilfe kommt von dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat» (Ps 121 und 123). Noch mehr, dieser Gott, «der Himmel und Erde gemacht hat», «der in den Himmeln thront», ist in Christus Jesus unser Vater, der «uns liebt». Und zu seiner Rechten sitzt der grosse Hohepriester, der «völlig zu erretten» vermag, «die durch ihn Gott nahen» (Heb 7,25).
«Da wir nun einen grossen Hohenpriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, so … lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe» (Heb 4,14-16). Sollten wir, da wir «mittels des Glaubens auch den Zugang haben zu dieser Gnade, in der wir stehen» (Röm 5,2), unsere Seelen dadurch ermüden, dass wir fortwährend auf unseren oft so steilen und dornigen Pfad schauen? Sollten wir Gott selbst vernachlässigen und die Hilfsquellen, die Er uns gegeben hat, verachten? Sollten wir taub bleiben gegenüber seinen Tröstungen und seinen Verheissungen von Güte und Gnade? Ach, wie sehr würden wir Ihn betrüben!
Nein, wir haben eine sichere Garantie dafür, dass Gottes Verheissungen wahr sind, und diese Garantie ist Gott selbst, in eigener Person, der unwandelbare Gott, der nicht lügen kann.
In Habakuk 3,17 wird eine Zeit ernster materieller Not beschrieben: Der Feigenbaum blüht nicht; an den Reben ist kein Ertrag; die Frucht des Olivenbaums trügt und die Getreidefelder tragen keine Speise; das Kleinvieh fehlt in den Hürden, und kein Rind ist in den Ställen. Aber was tut der Gläubige in solchen Umständen? Er sagt: «Ich aber, ich will in dem HERRN frohlocken, will jubeln in dem Gott meines Heils Der HERR, der Herr, ist meine Kraft und macht meine Füsse denen der Hirschkühe gleich und lässt mich einherschreiten auf meinen Höhen» (Verse 18-19).
Der Prophet Micha anderseits redet in Kapitel 7,1-7 von bösen Tagen, die durch sittlichen Verfall gekennzeichnet sind. Nimm dir die Mühe, den Abschnitt zu lesen. Auch dort findest du das so kostbare «ich aber»: «Ich aber will ausschauen nach dem HERRN, will harren auf den Gott meines Heils; mein Gott wird mich erhören. Freue dich nicht über mich, meine Feindin! Denn bin ich gefallen, so stehe ich wieder auf; denn sitze ich in Finsternis, so ist der Herr mein Licht» (Micha 7,7-8). Lasst auch uns den, der so spricht, nachahmen! Ja, möge es jedem von uns gegeben sein, nach oben zu schauen!
Gott lenkt – wie gesagt – unsere Blicke nicht nur nach oben, auf eine gegenwärtige Hilfe, sondern auch nach vorn, auf unsere kommenden Segnungen, auf eine gesegnete Zukunft hin, wo unser Leib der Niedrigkeit zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit umgestaltet wird, wo der Herr die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellen wird, «die nicht Flecken oder Runzeln oder etwas dergleichen habe», wo wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden «wie er ist» (Phil 3,20-21; Eph 5,27; 1. Joh 3,2).
Als der Überrest aus Babel in das Land Kanaan zurückgekehrt war und «die Alten», die der Grundlegung des Tempels beiwohnten, weinten, weil er ihnen so klein und so ärmlich vorkam im Vergleich mit dem Tempel Salomos, an dessen Herrlichkeit sie sich erinnerten (Esra 3,12-13), da sandte ihnen der HERR die Botschaft: «Fürchtet euch nicht! … ich werde dieses Haus mit Herrlichkeit füllen … Die letzte Herrlichkeit dieses Hauses wird grösser sein als die erste, spricht der HERR der Heerscharen» (Haggai 2,3-9) So tröstete Gott die Betrübten und ermunterte die Schwachen, indem Er sie auf die zukünftige Herrlichkeit und auf die Herrschaft des Messias hinwies.
Alle Verheissungen, die in den Sendschreiben an die sieben Versammlungen «den Überwindern» gegeben sind, beziehen sich auf die Zukunft. Gott hat die Blicke seiner Kinder zu aller Zeit auf ihr zukünftiges Erbteil gelenkt. Die Gläubigen vor alters sahen die verheissenen Dinge von fern und begrüssten sie, obwohl ihnen, verglichen mit uns, wenig offenbart worden war. Inzwischen ist die Offenbarung der Gedanken und Ratschlüsse Gottes in seinem Wort vollendet worden, und wir dürfen sie durch den Heiligen Geist verstehen, der uns gegeben worden ist, «um die Dinge kennen, die uns von Gott geschenkt sind» (1. Kor 2,12), und damit Er uns das Kommende verkündige (Joh 16,13). Und bald wird unser geliebter Herr selbst kommen und damit die kostbarste seiner Verheissungen einlösen: «Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet» (Joh 14,3).
«Und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen Worten» (1. Thes 4,17-18).
Möchte das Wort des Apostels immer mehr auf uns zutreffen: «Eins aber tue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus» (Phil 3,13.14).
Man kann sich fragen: Lässt uns Gott manchmal nicht doch auf die Vergangenheit zurückblicken? Gewiss, aber es soll mit einem ganz anderen Ziel und auf eine ganz andere Weise geschehen als es unsere natürlichen Herzen so gerne tun:
- Wenn ein Christ gestrauchelt ist und sich nicht vor Gott beugen will, ja, vielleicht lange Tage in diesem Zustand verharrt, so muss ihn Gott fortwährend an die Vergangenheit erinnern, um in seiner Seele Selbstgericht und Wiederherstellung herbeizuführen.
- Im Brief an die Hebräer (Heb 10,32-34) wurden die Gläubigen ermahnt, sich an die «früheren Tage» zu erinnern, damit sie so die Freude und das Ausharren wieder erlangten, die früher ihr Teil waren, und sie wieder in unerschütterlichem Glauben in die Zukunft blickten (Heb 10,35-39).
- Noch besser ist es für uns, wenn wir uns immer wieder daran erinnern, was wir ehemals waren, dass wir in Finsternis und Tod lagen, und wie Gott in Christus Jesus seine Gnade gegen uns hat überströmen lassen.
- Schliesslich werden wir einen reichen Segen davontragen, wenn unsere Herzen immer wieder in tiefer Dankbarkeit der Gnade gedenken, die Er uns auf dem schmalen Pfad bisher erwiesen hat. So wurde schon Israel ermahnt: «Du sollst dich an den ganzen Weg erinnern, den der HERR, dein Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste …» (5. Mo 8,2). Und auch wir können mit dem Psalmisten ausrufen: «Vielfach hast du deine Wundertaten und deine Gedanken gegen uns erwiesen, HERR, mein Gott; nicht kann man sie dir der Reihe nach vorstellen. Wollte ich davon berichten und reden, sie sind zu zahlreich, um sie aufzuzählen» (Ps 40,6). Oder: «Der Jahre der Rechten des Höchsten will ich gedenken, der Taten des Jah; denn deiner Wunder von alters her will ich gedenken; und ich will nachdenken über all dein Tun, und über deine Taten will ich sinnen» (Ps 77,11-13; siehe auch Hiob 5,9; 9,10).
Um der Verherrlichung Gottes willen und zu unserem eigenen Wohl sollten wir nicht auf die Einflüsterungen unserer eigenen Herzen hören, sondern den Weisungen des Geistes Gottes folgen. Dann werden uns die Rückblicke auf die Vergangenheit zum Segen sein. Wie das Volk Israel jenseits des Roten Meeres, als es auf den durchwanderten Weg zurückblickte, werden auch wir in ähnlicher Weise das Bedürfnis empfinden auszurufen: «Singen will ich dem HERRN … Meine Stärke und mein Gesang ist Jah … Dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben» (2. Mo 15,1-2).