Eine sonderbare Überschrift, nicht wahr? Was ist denn mit einer flechtenden Zunge gemeint? Nun, dieser Ausdruck ist dem Alten Testament entnommen und sollte einen Augenblick in Ruhe überdacht werden. In Psalm 50,19 lesen wir: «Deinen Mund liessest du los zum Bösen, und Trug flocht deine Zunge.» Offensichtlich geht es hier um die Worte, die wir reden. Gemeint ist, dass wir mit unserem Mund falsche Aussagen formulieren, die nicht den Tatsachen entsprechen.
Jedem Christen ist wohl klar, dass er nicht lügen soll. Schon im Alten Testament hatte Gott das im Gesetz ganz deutlich gemacht. Es sollte kein falsches Zeugnis gegen den Nächsten abgelegt werden (2. Mo 20,16). Auch das Neue Testament fordert uns eindeutig dazu auf, die Lüge abgelegt zu haben und Wahrheit zu reden (Eph 4,25). In der Welt, in der wir leben, ist Lügen heute kaum mehr als ein Kavaliersdelikt. Kinder lernen es bereits in sehr jungen Jahren, sich mit einer Notlüge aus der Affäre zu ziehen, und manche Erwachsene beherrschen dieses Metier geradezu perfekt. Doch Gott meint es durchaus ernst, wenn Er uns auffordert, nicht zu lügen. Unser Leben als Christ sollte von Wahrheit und Wahrhaftigkeit gekennzeichnet sein. Unser Ja sollte ja und unser Nein sollte nein sein und das sowohl im Umgang mit Gläubigen als auch im Umgang mit Ungläubigen.
Aber unser Herz ist trügerisch. Wir wollen als Christen vielleicht nicht direkt lügen, suchen aber doch – je nach Situation, bewusst oder manchmal auch unbewusst – nach einer, wie wir meinen, guten Möglichkeit, Dinge in einem Licht erscheinen zu lassen, damit dem anderen der wirkliche Tatbestand verschleiert bleibt. Genau das ist mit der Trug flechtenden Zunge gemeint. Es geht nicht um die direkte und platte Lüge, sondern darum, dass wir mit geschickten Worten einen Sachverhalt in einer ganz bestimmten Art und Weise darstellen, der unserer Vorstellung entspricht, aber nicht objektiv und damit auch nicht wahr ist. Wir verneinen zwar nicht direkt die Wahrheit, verfälschen und verdrehen die Tatsachen aber so, dass doch kein richtiges, der Wirklichkeit entsprechendes Bild entsteht.
Und wie geht das? O ja, es ist sehr einfach. Wir berichten eine bestimmte Sache und lassen bewusst etwas Wesentliches weg oder fügen etwas hinzu. Wir übertreiben das eine und untertreiben das andere und schon hat unsere Zunge wunderbar geflochten und ein Bild gemalt, das der Realität eben nicht gerecht wird. Es ist zwar nicht direkt gelogen, aber es ist auch nicht mehr die volle Wahrheit. Wir verzerren die Wirklichkeit.
Noch schlimmer wird es, wenn wir sogar die Wahrheit benutzen, um unseren Gesprächspartner auf eine falsche Fährte zu locken. Nehmen wir dazu ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Ein Vater bittet seinen Sohn darum, einen Telefonanruf für ihn zu erledigen. Der Sohn hat dazu überhaupt keine Lust, will aber auch nicht ungehorsam sein und seinen Vater anlügen. Also wählt er die Nummer des Gesprächsteilnehmers, lässt einmal klingeln und legt den Hörer schnell wieder auf. Mit unschuldigem Gesicht geht er dann zu seinem Vater und sagt: «Ich habe es versucht, aber es hat sich niemand gemeldet.» Wahrheit oder Lüge? so mögen wir fragen. Die Antwort lautet: beides – und damit ist es eine Lüge. Der Sohn hat die an sich wahre Aussage (es hat sich niemand gemeldet) benutzt, um seinem Vater glaubhaft zu machen, auf der anderen Seite sei tatsächlich niemand da gewesen. Der Vater hat also durch die Aussage des Sohnes ein Bild von der Realität, das ganz einfach falsch ist. Er muss doch davon ausgehen, dass auf der andern Seite wirklich niemand zu Hause gewesen ist. Die Zunge des Sohnes hat in diesem Fall Trug geflochten.
Mir scheint, dass wir alle die Kunst des Trug-Flechtens mehr oder weniger gut beherrschen. Eine kritische Prüfung unserer Alltagsgewohnheiten bringt hier sicher einiges ans Licht. Besonders im geschwisterlichen Umgang liegt hier die Wurzel für manches Übel gerade unserer Zeit. Wie gehen wir miteinander um? Was erzählen wir, was verschweigen wir? Wo übertreiben wir, wo untertreiben wir? Jakobus schreibt nicht umsonst: «So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich grosser Dinge. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen grossen Wald zündet es an … Die Zunge aber kann keiner der Menschen bändigen; sie ist ein unstetes Übel, voll tödlichen Giftes» (Jak 3,5-8). Viele Leser werden wohl den Vergleich von Worten mit Federn kennen, die vom Kirchturm hinuntergeworfen werden. Man kann sie nie wieder einfangen. Ein einmal ausgesprochenes Wort kann nicht wieder zurückgeholt werden – auch nicht ein geflochtener Trug. Er kann wohl bedauert und bekannt werden – und wir sind dankbar, dass es diesen Weg gibt –, aber er kann nicht mehr unausgesprochen gemacht werden.
Gott möchte, dass wir klar und transparent sind, dass unsere Mitmenschen genau wissen, wie die Sache ist, wenn wir etwas sagen oder einen Sachverhalt darstellen. Beim Herrn Jesus war das in Vollkommenheit so. Er war, was Er sagte. Taten und Worte stimmten immer voll überein, und jeder wusste, woran er war, wenn der Herr Jesus etwas sagte. Schon der Prophet Jesaja sagte im Voraus von Ihm: «Kein Trug ist in seinem Mund gewesen» (Jes 53,9). Und Petrus bestätigt es im Nachhinein: «Noch wurde Trug in seinem Mund erfunden» (1. Pet 2,22). Nein, die Zunge des Heilands hat nie Trug geflochten, und das, obwohl die Menschen, die Ihn umgaben, oft versucht haben, Ihn durch Lug und Trug in eine Falle zu locken. Auch in dieser uns vielleicht auf den ersten Blick eher unscheinbar erscheinenden Sache dürfen und sollen wir von unserem Herrn lernen.