Erforsche mich, Gott!

Psalm 139

Wir kennen uns nicht, aber Gott kennt uns

Der erste Gedanke, der uns in diesem Psalm entgegentritt, ist der, dass Gott uns kennt. Dies bezieht sich sowohl auf die, die den Herrn noch nicht kennen als auch auf die, die Gott kennen und in Beziehung zu Ihm stehen.

Wir Christen kennen uns selbst oft am wenigsten. Wir blicken gerne auf die Menschen unserer Umgebung; bei den einen finden wir Dinge, die uns gefallen, bei andern aber, was unseren Gefühlen zuwider ist. Wir scheinen unseren Nächsten besser zu kennen als uns selbst.

In diesem Psalm wird die Seele des Gläubigen zur Erkenntnis seiner selbst geführt. Der erste Vers ist, wie in vielen andern Psalmen, die Zusammenfassung der in den folgenden Versen entwickelten Erfahrungen. Am Schluss ist die Seele glücklich darüber, dass sie erforscht und erkannt worden ist, aber es ist das Ergebnis von langen und tiefen Gewissensübungen.

In der Tat, im Leben des Christen kann ein Augenblick kommen, wo er mit Erstaunen wahrnimmt, dass er – vielleicht während langen Jahren – bemüht war, vieles vor sich selbst zu verbergen, was Gott schon von Anfang an erkannte.

Zuerst sucht er sich der Gewissenserforschung, die Gott vornimmt, zu entziehen. Er will sich verstecken, aber es gelingt ihm nicht. Erst am Ende seiner Erfahrungen merkt er, dass Gott nie aufgehört hat, ihn so zu sehen, wie er ist. Nun kann er den Weg beschreiben, den er gegangen ist: Ich hatte es mit einem Gott zu tun, der mich immer durchschaute, als ich, obwohl Christ, noch nicht wusste, wie ich beschaffen war (Vers 6).

Wir kennen viele Dinge, aber eines ist uns unbekannt: der Zustand unseres natürlichen Herzens, und Gott allein kann ihn uns enthüllen. Wenn ich erfasst habe, dass nur Er mir dies zeigen kann, dann habe ich schon eine wichtige Lektion gelernt. Die Folge davon wird sein, dass ich nicht mehr nach guten Gründen suchen werde, um in den Neigungen meines natürlichen Herzens zu wandeln. Ich werde nicht mehr meine Brüder, sondern mich selber verurteilen.

Jemand ausserhalb von mir selbst muss mich erforschen. Aber weder meine Brüder noch andere Menschen vermögen es zu tun. Gott allein sieht in alle Falten meines Herzens hinein. Da sind verborgene Winkel, in die wir selbst nicht gerne hineinschauen, aber Gott stösst die Wände dieser geheimen Kammern um. Oft geht ein ganzes christliches Leben ohne diese Erfahrung vorüber. Aber schliesslich muss man soweit kommen, zu sagen: «HERR, du hast mich erforscht und erkannt!» Ich selber bin nicht dazu gelangt, aber Du, Du kanntest meine geheimsten Gedanken. Vor den Menschen konnte ich sie verbergen, aber Du siehst alles.

Welch ein Segen, wenn die Seele bei diesem Punkt anlangt! Nehmen wir Jakob als Beispiel. Eine List nach der anderen gebrauchte er, um zu seinem Ziel zu gelangen. Und was er zu erreichen suchte, war doch gerade das, was Gott Ihm geben wollte! Er kannte sich nicht. Wie es scheint, hat ihm das Gewissen nichts vorgeworfen. Er sagte zu Laban: «Du hast mich betrogen», und dabei kam es ihm nicht in den Sinn, dass ja auch er selbst Laban überlistet hatte. Immer noch hatte er sein eigenes Herz nicht erkannt. Aber in Pniel begegnete er dem Angesicht Gottes. Da entdeckte er, wie Gott ihn erforscht und erkannt hatte. Das war die grosse Änderung in seinem Leben. Im Augenblick, als er Gott begegnete, verschwand der alte Jakob. Als er später vor den Pharao geladen wurde, sagte er: «Wenig und böse waren die Tage meiner Lebensjahre.» Aber das Licht des Angesichtes Gottes leuchtete über dem Ende seines Lebens.

Wir haben alle zu lernen, dass es uns unmöglich ist, uns selber kennen zu lernen. Wenn ein Bruder zu uns kommt und uns sagt: «Du hast gefehlt», so haben wir grosse Mühe, dies zu erkennen. Aber in der Gegenwart Gottes ändert sich alles.

Das Leben des Gläubigen mit Gott beginnt mit dem Tod

Es ist wichtig zu beachten, dass für den, der mit dem Psalmisten sagen kann: «Kenntnis, zu wunderbar für mich», das Leben mit Gott beginnt.

Gott geht im Blick auf uns auf zweierlei Weise vor. Manchmal führt Er den Menschen zur Erkenntnis des Zustandes seines eigenen Herzens. Dann sieht er sein Nichts und ruft aus: Ich elender Mensch, in mir wohnt nichts Gutes! – Ja, so bist du, bestätigt ihm Gott, du bist völlig verdorben.

Oft aber lässt Er uns eine viel gesegnetere Erfahrung machen. Du findest sie im Epheserbrief. Sie steht im Gegensatz zu Römer 7. Gott beginnt dort mit dem Tod, wenn es sich um unseren Zustand handelt. «Auch euch, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden.»

Wenn ich erkannt habe, dass dies der Anfang meiner Geschichte ist und Gott gar nichts von mir erwarten kann, so kann ich in mir selbst keinerlei Befriedigung mehr finden. Aber Gott bietet mir dann seine reine Gnade an. Das ist es, was wir in Epheser 2 finden. Der Mensch ist tot in seinen Vergehungen und Sünden, tot für Gott. Aber durch Gnade und mittels des Glaubens wird er lebendig gemacht, mit Christus auferweckt, und er kann sich in den himmlischen Örtern niedersetzen.

Von diesem Gedanken finden wir auch etwas in unserem Psalm, in den Versen 13-16. Es ist wie wenn der Psalmist sagte: Es ist Dir gelungen, in dieser Welt ein Wesen für Dich zu schaffen; Du hast mich aus dem Nichts gezogen, aus dem Tod, in dem ich mich befand. Das Ergebnis davon ist dies, dass dieser Mensch, der mit dem Tod begonnen hat, nun in voller Gemeinschaft mit Gott ist, in der Erkenntnis seiner Gedanken, seiner Werke und dessen, was Er selbst ist. Schliesslich sagt er: «Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz» (Verse 23-24). Aufgrund dieser letzten Erfahrung kann er im ersten Vers sagen: «Du hast mich erforscht und erkannt.»

Nun wünscht er etwas, was er sich vorher nicht wünschen konnte: dass Gott sein Herz und seine Gedanken erkennen möge. Die in sein volles Licht eingeführte Seele bittet Ihn darum. Sie will, dass Gott ihr Herz bis in die tiefste Falte hinein prüfe. Sie sagt mit anderen Worten: Ich wünsche es mit Dir zu tun zu haben, der mich erforscht und erkannt hat. Mein natürliches Herz sucht Dir immer etwas zu verbergen, aber ich wünsche, dass Du mich in jeder Weise kennst, dass mein Wandel ein gesegneter Wandel sei und nicht ein Weg der Mühsal. Ich wünsche, dass Du mit mir seist, o mein Gott, Du, der Du mich erforscht und erkannt hast!

Wenn die Seele hier angelangt ist, ist sie befreit; ihre Erfahrungen mit sich selbst sind zu Ende; sie findet ihre Glückseligkeit in der Nähe des Gottes des Lichts. Möchte dies auch unser Teil sein, damit wir von Kraft zu Kraft wandeln können, bis wir in der Herrlichkeit vor Ihm erscheinen werden (Psalm 84).