Nach mir ist sein Verlangen

Hohelied 7,10

Wie ist die Lektüre vom «Lied der Lieder» immer wieder nötig! Unser eigenes Christenleben ist bei aller Kenntnis der biblischen Wahrheiten und der Lehre des Heils in Christus Jesus oft so kalt. Statt dass aus unserem Leib «Ströme lebendigen Wassers fliessen», ist es dann nur ein armseliges Tröpfeln.

Wir halten fest am «Bild gesunder Worte», an guten Gewohnheiten und Formen. Aber sitzen wir auch am Quell seiner Liebe, seiner unendlichen Fülle, um in grossen und durstigen Zügen zu trinken? Allezeit, ohne Unterlass?

Wie dies geschehen kann, zeigt uns dieses Buch am Beispiel der Braut, die der Herr seine «Geliebte» nennt. Sie hat dieselbe Herkunft wie wir und ist in wunderbarer Weise mit der gleichen herrlichen Person verbunden. Ihre Beziehung zum Geliebten ist nicht nur gesichert und unauflöslich, sondern ein andauerndes, inniges Verhältnis gegenseitiger tiefer und heiliger Liebe, die in ihrem Leben köstliche Früchte hervorbringt.

Acht Kapitel voller bedeutsamer Einzelheiten, deren eingehende Betrachtung uns von grossem praktischem Nutzen ist, sind der Geschichte dieser Liebe gewidmet. Hier seien jedoch nur ein paar Punkte erwähnt, die dazu angetan sind, sie auch im Herzen eines jeden Gläubigen zu nähren, anzufachen und zu beleben.

«Siehe, du bist schön, meine Freundin …»

Siebenmal ruft der Geliebte im Hohenlied seiner Braut dies zu. Er legt grossen Wert darauf, dass sie wisse, wie überaus schön sie für Ihn ist. Einmal sagt er sogar: «Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir!» (4,7).

Im ganzen Buch findet sich keine Andeutung dafür, wie sie zu dieser Schönheit gelangt ist. Sie bekennt nur: «Ich bin schwarz» – was meine Vergangenheit betrifft – fügt jedoch, im Bewusstsein, was sie nun geworden ist, mit Überzeugung hinzu: «aber anmutig» (Hld 1,5). Der Geliebte bezeugt es ihr ja immer wieder!

Im Neuen Testament aber empfängt der Glaubende göttlich zuverlässige Belehrung über das wunderbare, vollkommene Heil, das ihm in Christus Jesus auf ewig zuteilgeworden ist. Seine Vergangenheit ist völlig geordnet vor Gott; denn er ist durch das Erlösungswerk am Kreuz aus Glauben gerechtfertigt und hat daher Frieden mit Ihm. Er ist mit Christus gestorben und in Ihm eine neue Schöpfung geworden. Er ist «begnadigt (oder angenehm gemacht) in dem Geliebten». Er ist «in Ihm» und somit in die unvergleichliche Schönheit seiner herrlichen Person versetzt. Das ist seine unverrückbare Stellung. Sowohl Gott als auch unser Herr Jesus sieht den an Ihn Glaubenden nur noch in Ihm, in seiner eigenen Schönheit.

Wie musste das tiefe Bewusstsein: «ich bin schön für Ihn», im Herzen der Braut die Gegenliebe zu ihrem Bräutigam fortwährend anfachen!

Ist es für uns nicht auch so? Zu wissen, dass alle unsere Sünden abgewaschen und gesühnt sind, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, noch mehr, dass wir mit unserem auferstandenen Herrn, mit dem was Er für uns ist, völlig einsgemacht sind, lässt unsere Herzen Ihm ungehindert entgegenschlagen. Wir sind durch Gnade anziehend, teuer und wertvoll geworden in seinen Augen!

Wüssten wir nicht aus eigener, trauriger Erfahrung, wie so leicht die Dinge der uns umgebenden Welt in unser Herz eindringen können und die Sünde die glückliche Gemeinschaft mit unserem Herrn zu unterbrechen vermag, so wäre es uns schwer verständlich, dass die Braut zweimal das Bewusstsein der Nähe des Geliebten verloren hat (Kap. 3 und 5). Es gibt aber ein Mittel, wie ein solches Abweichen vermieden oder geheilt werden kann. Damit kommen wir zum zweiten Punkt.

«Alles an Ihm ist lieblich» (Hld 5,16)

Die Braut redet nur zweimal von ihrer eigenen Schönheit (1,5 und 2,1), sozusagen als dankbare Antwort auf das, was der Herr aus ihr gemacht hat. Sonst aber ist es nicht gut, mit sich selbst beschäftigt zu sein.

Wie oft hingegen betrachtet sie ihren wunderbaren Geliebten! Sie wärmt sich an seiner Liebe. Sie kennt den Geruch seiner Salben, sein Wesen, seine Eigenschaften, seine Gesinnung. Sein Name ist für sie ein ausgegossenes Salböl. Das ist es, was ihre Empfindungen für Ihn vertieft und wachhält: «Darum lieben dich die Jungfrauen» (Hld 1,1-4).

Ein anderes Mal beschäftigt sich ihr Herz eingehend mit Ihm, nachdem sie den Geliebten aus Schläfrigkeit und Bequemlichkeit eine Zeitlang vor ihrer Tür hat warten lassen (Hld 5). – Was uns von unserem Herrn fernhält ist bestimmt nichts Gutes, mag es noch so harmlos scheinen. – Als sie endlich aufsteht, um ihrem Geliebten zu öffnen, ist Er nicht mehr da. Er ist am richtigen Platz, aber sie nicht. Nun wacht sie vollends auf und ist bestürzt. Er wollte wie immer bei ihr sein, aber sie war von etwas anderem erfüllt und hat Ihn dadurch abgewiesen! Oh, wie fehlt Er ihr! Sie beginnt nach Ihm zu suchen, findet Ihn jedoch nirgends. Sie ruft nach Ihm, aber Er antwortet nicht.

Oh, auch diese ihre schmerzliche Erfahrung ist uns nicht unbekannt. Seine kostbare Gegenwart lässt sich nicht ohne weiteres wiederfinden, wenn wir sie aus Mangel an Wachsamkeit verloren haben. Wir wissen nicht mehr, wo Er sich aufhält. Selbst unser Gebet bleibt scheinbar ohne Antwort.

Die Braut tut jetzt das einzig Richtige: Nach ihrem aufrichtigen Bekenntnis: «Ich war ausser mir, als Er zu mir redete», beginnt sie ihr Herz, entleert von allem, was Ihn daraus verdrängte, zu füllen mit der Erinnerung an die vielen herrlichen Wesenszüge seiner erhabenen Person, und sie redet davon zu anderen. Dabei wird es brennend, und sie ruft aus: «Alles an Ihm ist lieblich!» Damit hat sie Ihn wiedergefunden und geniesst wie vorher seine glückselige Nähe.

Dass wir doch in der Tiefe unserer Seele davon überzeugt sein möchten: unseren geliebten Herrn Jesus in all seinen Herrlichkeiten zu betrachten, ist das Mittel, um in seiner vertrauten Nähe zu bleiben. Was im Himmel unser Teil sein wird, ist uns schon auf der Erde geschenkt. Von da aus soll sich unser ganzes Leben hier auf der Erde entfalten.

«Wie schön sind deine Tritte in den Schuhen!» (Hld 7,1)

Auf allen ihren Wegen, in ihrem ganzen Tun und Verhalten konnte die Braut sich bewusst sein: der Blick meines Geliebten ist unablässig auf mich gerichtet. War das nicht eine mächtige Ermunterung, Ihm in jedem Augenblick wohlzugefallen?

Nicht mit dem Auge des Gesetzes verfolgt der Herr alle unsere Bewegungen. Es ist der Blick unaussprechlicher Liebe, sein tiefes Interesse für die Seinen, für mich, mit dem Er Kenntnis nimmt von meinem Sitzen und Aufstehen, von meinen Gedanken, von meinem Wandeln, meinen Wegen und meinen Worten (Ps 139,2-4).

Wenn wir einen solchen Platz in seinem Herzen haben, wollen auch wir Ihm ganz zugewendet bleiben, damit unser Leben durch seine Gnade ein Garten sei, in dem Er jederzeit die Ihm köstliche Frucht findet (Hld 4,12-16), zu seiner Ehre und zum Segen für andere.