Alle drei synoptischen Evangelien berichten uns über die Heilung des besessenen Gadareners (Mt 8,28-34; Mk 5,1-20; Lk 8,26-39). Diese Begebenheit offenbart vorbildlich sowohl die Kennzeichen des natürlichen Menschen unter der Macht Satans als auch die Charakterzüge eines durch den Herrn Jesus veränderten Menschen. Wir wollen unser Augenmerk auf sieben Eigenschaften lenken, die in diesem Abschnitt zur Charakterisierung des Besessenen genannt werden.
1. Zuerst lesen wir von dem Besessenen, dass er einen unreinen Geist hatte. Dies deutet zum einen auf seinen Zustand der Besessenheit hin, denn dieser Ausdruck bezeichnet die dämonischen Mächte. Zum anderen sehen wir darin die Sünde im Charakter der Unreinheit angedeutet, ein Gedanke, der später im gleichen Kapitel bei der blutflüssigen Frau besonders hervortritt. Die drei Heilungen in Markus 5 zeigen uns die Macht und den Sieg des Herrn über die drei grossen Feinde des Menschen:
- über Satan (der Besessene),
- die Sünde (die blutflüssige Frau)
- und den Tod (die Tochter von Jairus).
2. Das zweite, was den Gadarener kennzeichnete, war sein Aufenthaltsort: Er hatte seine Wohnung in den Grabstätten. Der natürliche Mensch lebt im Bereich des Todes. Die Welt ist durch die Sünde ein Ort des Todes, und der Sünder ist selbst «tot in Vergehungen und Sünden». Er kann zu seiner Errettung selbst nichts beitragen.
3. «Und selbst mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden.» Wie viele Versuche sind unternommen worden und werden ständig neu ersonnen, um dem verderblichen Wirken der Sünde im Menschen «Ketten anzulegen». Die verschiedenen sittlichen Normen, die philosophischen Lehren, ja, letztlich alle Weltreligionen dienen dem Ziel, diese Wurzel des Bösen «mit Ketten zu binden». Doch alle Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt. Das Urteil der Bibel ist eindeutig: Niemand konnte ihn mit Ketten binden.
4. «Und niemand vermochte ihn zu bändigen.» So wie es nicht möglich ist, dem Wirken der Sünde moralische oder sonstige Ketten anzulegen, so ist auch kein Mensch in der Lage, dieses «Grundübel» allen menschlichen Elends zu bändigen. Besonders augenscheinlich wird dieser hilflose Versuch bei den krassen Formen der Sünde wie Alkoholismus, Drogensucht und den verschiedenen Erscheinungsformen des Verbrechens. Kein Mensch wird die Sünde jemals bändigen können. Nur der Sohn Gottes konnte den Starken binden, und nur Er kann ein Leben, das unter der Gewalt Satans steht, völlig davon befreien und ändern.
5. Nachdem wir gesehen haben, wo sich dieser bedauernswerte Mensch aufhielt, sowie die erfolglosen Versuche seiner Mitmenschen, ihn zu bändigen, wird uns nun sein Verhalten mitgeteilt. «Er … schrie und zerschlug sich mit Steinen.» Gerade in unseren Tagen ist es sicher notwendig, sich daran zu erinnern, dass das «Schreien», wenn es nicht aus einer offensichtlich grossen Not heraus geschieht, eine typisch satanische Verhaltensweise ist. Von dem Herrn Jesus, dem Knecht Gottes, weissagte der Prophet Jesaja: «Er wird nicht schreien» (Jes 42,2). Andererseits lesen wir von der Magd mit dem Wahrsagegeist in Philippi: «Diese folgte Paulus und uns nach und schrie» (Apg 16,17). Ein besonders deutliches Beispiel für das Wirken Satans in dieser Hinsicht finden wir bei der Verurteilung des Herrn. In Matthäus 27,23 heisst es über das Verhalten der Volksmenge: «Sie aber schrien übermässig.» Das Geschrei, das so manche Demonstrationen und Volksaufläufe unserer Tage sowie nahezu die ganze moderne Musik kennzeichnet, ist letztlich niemals vom Geist Gottes gewirkt, sondern vom Teufel. Lasst uns das gut bedenken und uns von solchen Dingen fernhalten.
6. Der Gadarener «zerschlug sich mit Steinen». Hier finden wir einen deutlichen Hinweis auf die ernste Tatsache, dass Sünde schliesslich «Selbstzerstörung» ist. Der Mensch, der in der Sünde lebt, führt seinen eigenen Untergang herbei, und zwar sowohl in zeitlicher wie ewiger Hinsicht. Durch das Leben in offenkundiger Sünde ruiniert der Mensch schon jetzt seinen Leib und seine Seele. Aber auch der nach aussen hin nicht in so offener Sünde lebende Mensch geht dem ewigen Verderben entgegen. – Diesen Grundsatz finden wir schon im Buch der Sprüche bestätigt: «Wer an mir sündigt, tut seiner Seele Gewalt an» (Spr 8,36). – Die Sünde, sagt Gott, ist in erster Linie ein Vergehen gegen mich, aber zur gleichen Zeit bedeutet sie Gewalt gegen die eigene Seele. Welch ein ernster Gedanke!
Dieses düstere Gemälde, das uns der Evangelist Markus von diesem Mann entwirft, wird durch die beiden anderen Evangelien noch ergänzt. So weist Matthäus darauf hin, dass es eigentlich zwei Besessene waren und diese sich «sehr wütend» verhielten, «so dass niemand auf jenem Weg vorbeizugehen vermochte» (Mt 8,28). So können wir das Bemühen der Dorfbewohner, ihn mit Ketten zu binden und ihn zu bändigen, gut verstehen.
Die Auswirkungen der Sünde gehen also noch in eine dritte Richtung. Wie wir sahen, richtet sich die Sünde zunächst gegen Gott, sodann gegen den Sünder selbst. Aber sie richtet sich auch gegen den Nächsten. Sie fügt auch dem Mitmenschen Schaden zu. Dies ist bei den Formen offener Sünde, wie wir sie beim Gadarener sehen, sicher jedem deutlich. Wie manche Familie leidet unter dem Verhalten eines vom Alkohol abhängigen Vaters! Aber wir brauchen nicht nur an solche Beispiele zu denken. Wie viele empfängliche Kinderseelen erleiden zum Beispiel schweren Schaden durch das Böse, das sie tagaus, tagein auf dem Fernsehschirm zu sehen bekommen.
7. Das letzte Kennzeichen, das uns die Schrift vom Gadarener mitteilt, ist, dass er keine Kleider anzog (Lk 8,27). Das erinnert uns an den Sündenfall, wo wir lesen: «Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Kleider von Fell und bekleidete sie» (1. Mo 3,21). Seit dem Sündenfall gibt es das Schamgefühl in dieser Welt. Jeder andere Erklärungsversuch der Menschen stammt vom Vater der Lüge. Gott will, dass der Mensch sich bekleide, der Widersacher Gottes versucht dem Menschen einzureden, sich zu entkleiden. Wie bei all seinen Bestrebungen macht der Feind auch darin nicht halt vor den Gläubigen. So sind die Ermahnungen der Schrift zur «Schamhaftigkeit und Sittsamkeit» wohl angebracht. Als Gläubige sollten wir auf der Hut sein, den Bestrebungen Satans, alle göttlichen Grundsätze umzustossen, nicht nachzugeben – auch nicht was das Äussere unseres Verhaltens und unsere Kleidung betrifft.
Nach dieser erschütternden Zustandsbeschreibung eines Menschen unter der Macht Satans zeigt uns die Schrift dann aber auch den gewaltigen Wechsel im Leben dieses Menschen, nachdem der Herr Jesus ihm begegnet war. Schliessen wir uns den Gadarenern an, die «gingen, um zu sehen, was geschehen war». Welch ein Anblick bot sich den Bewohnern der Stadt! Sie sahen «den Besessenen sitzen, bekleidet und vernünftig».
Das erste, was uns an ihm auffällt, ist die Tatsache, dass er sitzt. Er, der vorher ruhelos in den Grabstätten umherging und gegen sich und andere wütete, war zur Ruhe gekommen. Auch seine Seele durfte auf dem Lamm Gottes ruhen. Die lebensverändernde Kraft des Herrn Jesus versetzt auch heute noch ruhe- und rastlose Menschen in die Lage, mit dem Dichter zu singen:
- Tiefer Friede, grosse Freude
füllen meine Seele jetzt.
Da, wo Gott mit Wonne ruhet,
bin auch ich in Ruh gesetzt. - Ruhe fand hier mein Gewissen,
denn sein Blut – o reicher Quell!
hat von allen meinen Sünden,
mich gewaschen rein und hell.
Der Evangelist Lukas fügt dem noch eine schöne und wichtige Einzelheit hinzu: Sie fanden ihn «zu den Füssen Jesu sitzen». Ein Sünder, der beim Herrn zur Ruhe gekommen ist, ist ein Mensch, der den Platz zu seinen Füssen schätzen lernt – den Platz der Ruhe, der Belehrung, der Anbetung.
Das zweite Kennzeichen, das die Bewohner der Stadt bemerkten, war, dass er bekleidet war. Mit diesem Hinweis zeigt uns die Schrift, dass die Veränderung, die die Neugeburt im Leben eines Menschen bewirkt, auch in Äusserlichkeiten, wie z.B. den Kleidern, sichtbar wird. Aber die geistliche Bedeutung dieser Tatsache geht sicherlich noch tiefer. Gott, der schon den ersten Menschen nach dem Sündenfall bekleidet hatte, bekleidet den Sünder, der in Buße zum Herrn Jesus kommt, mit Kleidern des Heils (Jes 61,10).
Sodann lesen wir als drittes Kennzeichen des veränderten Gadareners, dass er vernünftig war. Sein Tun vor seiner Bekehrung war durchaus nicht vernünftig, und das Handeln des unbekehrten Menschen ist, was sein Leben vor Gott betrifft, seit jeher von Unvernunft und Unbesonnenheit bestimmt.
Der Charakterzug des neuen Lebens, der hier mit vernünftig wiedergegeben ist, wird in den Briefen des Neuen Testaments mehrmals erwähnt, wo er mit besonnen übersetzt wird. So schreibt Paulus an Titus, dass die Gnade Gottes uns (d.h. die Gläubigen) unterweist, besonnen zu leben, und an Timotheus, dass der Gläubige nicht einen Geist der Furchtsamkeit empfangen hat, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (Tit 2,12; 2. Tim 1,7). Dieser Ausdruck kommt weiter in Römer 12,3; 1. Timotheus 3,2; Titus 1,8; 2,2.5.6 und 1. Petrus 4,7 vor.
Abschliessend sei noch erwähnt, dass unser Abschnitt drei Bitten an den Herrn Jesus enthält, zwei davon finden Erhörung, eine nicht. In Vers 10 lesen wir vom Dämon: «Und er bat ihn sehr, sie nicht aus der Gegend fortzuschicken.» Der Herr gibt dieser Bitte statt. Die Zeit des endgültigen Gerichts über den Teufel und seine Engel war noch nicht gekommen.
Als Folge des Erlebnisses mit der Herde Schweine heisst es dann in Vers 17: «Und sie fingen an, ihm zuzureden, aus ihrem Gebiet wegzugehen.» Der Evangelist Lukas berichtet uns die Reaktion des Herrn auf diese Bitte: «Er aber stieg in das Schiff und kehrte wieder zurück.» Der Herr Jesus drängt sich auch heute niemandem auf. Aber wie ernst ist die Tatsache, wenn der Herr Jesus «weggeht», d.h. einen Menschen, der die Gnade Gottes willentlich verwirft, stehen lässt!
Die letzte Bitte stammt vom Gadarener: «Und als er in das Schiff stieg, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm sein dürfe» (Vers 18). Welch ein schöner Wunsch, allezeit bei seinem Herrn und Meister zu sein. Und doch – gerade diese Bitte erhörte der Herr nicht! Warum «liess Jesus es ihm nicht zu»? – Der Herr hatte noch einen Auftrag für ihn: «Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, wie viel der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat.» Der Wunsch eines Gläubigen, bei Ihm zu sein, in der Herrlichkeit, ist verständlich, ja, noch mehr, er ist dem Herrn wohlgefällig. – Aber auch heute hat der Herr für uns die gleiche Aufgabe wie damals: ein Zeugnis davon zu sein, wie viel der Herr an uns getan hat.
«Und er ging hin.» Welch eine Ermunterung und welch ein Ansporn für uns, ebenso wie dieser ehemalige Besessene den Willen des Herrn auszuführen! Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass er den eigentlichen Auftrag, zu den Seinen zu gehen, gern und treu befolgt hat. Die erste Verantwortung betrifft unseren familiären Bereich. Doch die Liebe zu seinem Herrn drängte ihn, in seinem Zeugnis weiter fortzufahren. So teilt uns Lukas mit: «Und er ging hin und machte in der ganzen Stadt bekannt, wie viel Jesus an ihm getan hatte» (Lk 8,39), und in Markus 5 heisst es: «Und er ging hin und fing an, in der Dekapolis (d.h. Zehnstadt, ein Landstrich mit zehn Städten im Nordosten von Palästina) bekannt zu machen, wie viel Jesus an ihm getan hatte.»
Ein Mensch, aufgerieben und geknechtet durch Satan, wird zum frohen Zeugen seines Herrn! «Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein» (Joh 8,36).