Es hat mich jemand angerührt

Markus 5,21-43

Als der Herr Jesus während der Jahre seines Dienstes in Galiläa und Judäa durch Städte und Dörfer zog, war Er meistens von einer Volksmenge umgeben. Unter den verlorenen Schafen des Hauses Israel, zu denen Er gesandt war, wirkte Er grosse Zeichen, «die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters», die sich einst bei der Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches in vollkommener Fülle wiederholen werden (Heb 6,5; Röm 8,21). Aber nicht nur Neugier führte die Menschen herbei, sie kamen auch um Ihn zu hören. Überall brachten alle, die an mancherlei Krankheiten Leidende hatten, diese zu Ihm. Er aber legte jeden von ihnen die Hände auf und heilte sie. Wir lesen nicht, dass Er je einen Menschen, der bei Ihm Heilung suchte, zurückgewiesen hätte. Auch seinen Jüngern gab Er «Kraft und Gewalt über alle Dämonen, und Krankheiten zu heilen» (Lk 9,1). Einzig in seiner Vaterstadt tat Er wegen ihres Unglaubens nicht viele Wunderwerke.

«Hätten wir es doch auch so gut!», mögen da manche der vielen Kranken unter den gläubigen Christen denken. Sie zweifeln nicht, dass der verherrlichte Herr ihnen heute, so gut wie den damaligen Menschen, völlige Heilung zu geben vermöchte. Warum hilft Er denn nicht so, trotz ihrer Bitten? Wir könnten Ihm doch besser dienen, wenn wir nicht ständig dieses Bleigewicht herumtrügen, meinen sie.

Lasst uns aber nicht vergessen, dass das Volk der Juden irdische Verheissungen hat. Wenn sich diese erfüllen, gehört auch die Gesundheit des Leibes dazu. Die, welche durch Glauben ins Reich eingehen, dürfen die tausendjährige Herrschaft Christi erleben; nur «der Sünder wird als Hundertjähriger verflucht werden» (Jes 65,20).

Die zum himmlischen Volk Gottes gehören, sind aber «gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus» (Eph 1,3). Ihre irdische Lebenszeit ist nur eine Vorbereitung auf die Herrlichkeit droben.

Paulus meinte anfänglich auch, er könnte ohne den Dorn im Fleisch – ein körperliches Übel, das ihm schwer zu schaffen machte – seinem Herrn besser dienen. Doch da täuschte er sich. Der Herr Jesus gab ihm die bekannte Antwort, die auch wir im Glauben erfassen sollen: «Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht» (2. Kor 12,7-10). Und was für ein gesegneter Diener ist er geworden!

Wenn wir in den Evangelien lesen, dürfen wir diesen grundlegenden Unterschied zwischen dem irdischen und dem himmlischen Volk Gottes nicht ausser Acht lassen. Dabei ist uns klar, dass auch wir zum Herrn Jesus Zugang haben und Ihn im Glauben «berühren» dürfen. Dadurch können wir von Ihm einen Segen empfangen, der für unsere Seele grösser und kostbarer sein kann, als sie ihn bei körperlicher Genesung erfahren würde.

Lasst uns einen Augenblick bei zwei Ereignissen stehenbleiben, wie sie in Markus 5,21-43 erzählt werden. Sowohl Jairus, der Vorsteher einer Synagoge, als auch diese schwerkranke Frau sind in grosser Not. Beide werden durch sie zu Jesus Christus getrieben, der, wie ihnen bekannt ist, so vielen geholfen hat. Schon bevor sie zu Ihm kamen, hat in ihnen ein Werk des Glaubens begonnen, und es ist ermunternd zu sehen, wie der Herr dieser kleinen Pflanze bei jedem zum Wachstum verhilft.

Jairus kommt und fällt Jesus zu Füssen. Er schämt sich nicht, dadurch vor der Volksmenge zu bekennen, wie gross Er für ihn ist. Dann bittet er Ihn sehr und spricht; «Mein Töchterchen liegt im Sterben; komm doch und lege ihr die Hände auf, damit sie gerettet werde und lebe..» Sein Glaube reicht hier bis zu der Erwartung, dass der Herr seiner Bitte entsprechen, in sein Haus kommen und sein geliebtes Kind, solange es noch lebt, heilen werde.

Er hat sich nicht getäuscht. Der Heiland erhört seine Bitte und geht mit ihm. Aber eine grosse Volksmenge folgt Ihm und drängt Ihn. Besonders die Angelegenheit der kranken Frau hält Ihn lange auf, und dieses Warten muss Jairus hart ankommen. Sein geliebtes Töchterchen liegt ja im Sterben … Schreibt er diese Verzögerung den Umständen zu? Das wäre verkehrt gewesen. Der Ausgang dieser Szene macht es deutlich, dass Gott über allem stand. Dieser Gläubige sollte in der Erkenntnis Jesu Christi, seines Sohnes, wachsen. Dazu war diese Glaubensprobe nötig.

Während der Herr noch mit der geheilten Frau redet, kommen sie vom Haus des Synagogenvorstehers und sagen: «Deine Tochter ist gestorben, was bemühst du den Lehrer noch?» Jesus weiss, dass dieser harte Schlag über das bisherige Mass des Glaubens dieses Vaters hinausgeht und spricht sogleich zu ihm: «Fürchte dich nicht; glaube nur.»

Was macht Jairus mit diesem Wort? Nachdem sich seine Bitte um Erhaltung des Lebens seines Kindes nicht erfüllte, kehrt er nicht trauernd an dessen Totenbett zurück. Er überlegt in seinem Herzen: Wenn der Meister so redet, dann darf ich noch mehr von Ihm erwarten. So lautet nun seine Bitte nach Matthäus 9,18: «Meine Tochter ist eben jetzt verschieden; aber komm und lege deine Hand auf sie, und sie wird leben.» Er traut Ihm dieses, im Dienst Christi bisher beispiellose Wunder zu, und es wird erfüllt. «Euch geschehe nach eurem Glauben», heisst es in Matthäus 9,29. Welch einen Fortschritt hat er durch die Gnade des Herrn Jesus darin gemacht!

Wenn wir – wie Jairus – in unseren Nöten bei Ihm bleiben, kann Er auch in unserem Leben Grosses tun.

Auch bei der kranken Frau (in Markus 5) hat der Glaube an Jesus Christus Wurzel fassen können.

Sie war zwölf Jahre mit einem Blutfluss behaftet gewesen und hatte in dieser langen Zeit viel Schweres durchgemacht. Sie suchte der Reihe nach viele Ärzte auf, vielleicht ohne zuvor Gott anzurufen. Sie hat dabei vieles erlitten, alle ihre Habe verwandt und keinen Nutzen davon gehabt.

Die Leiden dieser Frau sind, wie die mancherlei in den Evangelien erwähnten Krankheiten, ein Bild der vielen traurigen Folgen, die die Sünde im Leben des Menschen anrichtet. Sie trennt ihn von dem heiligen Gott und macht ihn zum Knecht des «Fürsten der Gewalt der Luft». Er wandelt in den Begierden seines Fleisches, indem er seinen eigenen Willen tut. Daher ist sein Leben ein Ausfluss des Bösen, das in ihm ist. Je mehr er sich seines Zustandes bewusst wird, desto mehr wachsen die Freudelosigkeit, die Unruhe und die Leiden seiner Seele. Viele sogenannte «Ärzte» in dieser Welt versprechen ihm Heilung. Aber sie vergrössern nur seine innere Not. Es ist ja in keinem andern das Heil, als nur in dem Namen Jesu Christi.

Zu Ihm will die Frau jetzt gehen. Seine Person und seine Worte der Gnade ziehen sie an, und sie hat gesehen, dass Er keinen zurückstösst. Sie sieht Ihn in der Volksmenge, die eng zusammensteht, und arbeitet sich durch die Menschen hindurch. Nun steht sie hinter ihm und sagt sich: «Wenn ich nur seine Kleider anrühre, so werde ich geheilt werden.» In diesem Glauben fasst sie sein Kleid an und – der Quell ihres Blutes vertrocknet.

Was nun folgt, ist auch für uns sehr wichtig. Sogleich erkennt der Herr Jesus, dass Ihn jemand im Glauben bewusst berührt hat und Kraft von Ihm ausgegangen ist. Er wendet sich unter den vielen Menschen um und fragt: «Wer hat meine Kleider angerührt?»

Die Zwischenfrage der Jünger: «Du siehst, dass die Volksmenge dich umdrängt, und du sprichst: Wer hat mich angerührt?», macht offenbar, dass der Mensch Ihn hören, Ihn sehen und äusserlich in seiner Nähe sein kann, ohne dass Jesu Kraft auf ihn übergeht. Trifft das nicht auf eine ganze Volksmenge von sogenannten Christen, oft sogar auf Erlöste zu? Wir hören sein Wort verkündigen, lesen es persönlich, können Jesu herrliche Person darin sehen, wir beten zu Ihm und wissen, dass wir auf ewig mit Ihm verbunden sind. Aber strömt dabei seine belebende, heilende und stärkende Kraft in unser Leben über? – Oh, es geht nicht nur um ein verstandesmässiges Festhalten an der Lehre des Wortes, das wir «unser Glaubensgut» nennen. Es ist nötig, dass wir ununterbrochen unseren verherrlichten Herrn im Glauben «berühren». «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist» (2. Kor 3,18). Um Ihn fortwährend so schauen zu können, muss – wir wissen es – unser Herz praktisch rein bleiben, entleert von allem, was Ihm den Platz rauben könnte (Mt 5,8). Dazu ist ständiges «Wachen und Beten» erforderlich.

Dass «dem, der uns liebt,» eine Kontaktnahme der Seinen mit Ihm nur in Notfällen nicht genügt, will Er auch dieser Frau zeigen. Nachdem Er sie von ihrer Plage geheilt hat, wäre sie in ihrer Schüchternheit wohl weggegangen. Aber Er ruht nicht, bis sie alles tut, was zu einer festen Glaubensverbindung mit Ihm gehört. Sie soll nicht nur mit dem Herzen glauben zur Gerechtigkeit, sondern auch mit dem Mund bekennen zum Heil (Röm 10,10).

«Es hat mich jemand angerührt.» – Ja, möge dies auch uns Gläubige jeden Tag kennzeichnen, sei es im Dienst des Herrn, bei unseren verschiedenen Aufgaben, in unseren Problemen und Nöten, wie auch um die Bedürfnisse unserer eigenen Herzen zu stillen.