Der Herr Jesus gebot den Jüngern und sprach: «Gebt acht, hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes.» Im Blick auf die kommenden Tage wollte Er sie mit diesem Ausspruch warnen. Denn wenn der König verworfen wird, was kommt dann über sein Reich? Wenn der Einfluss der Pharisäer und des Herodes schon gegenüber dem Dienst Christi selbst solch heftigen und wühlenden Widerstand hervorbrachte, welch einen mächtigen und schädlichen Einfluss würden sie erst auf den nun folgenden Dienst seiner Knechte ausüben! Er gebot ihnen, vor diesen verderblichen Einflüssen auf der Hut zu sein.
Die Pharisäer waren typische Vertreter einer heuchlerischen Frömmigkeit, einer Scheinreligiosität, die sich formell dem Gesetz Gottes unterwarf, aber durch die Beobachtung menschlicher Überlieferungen das Gebot Gottes aufhob (Mk 7,9)
Herodes hatte Johannes, den Vorläufer und treuen Zeugen Christi, ermordet und dadurch seinem Dienst ein Ende gesetzt (Mk 6,27). Er ist somit ein Vorbild der weltlichen Regierungen, die sich der Ausbreitung der Wahrheit widersetzen, wenn diese sie an der Erreichung ihrer politischen Ziele hindert.
Zu ihrer ferneren Führung warnte der Herr seine Nachfolger von diesen Quellen der Verunreinigung und des Verderbens. Sie sollten darüber wachen, dass nicht fleischliche Frömmigkeit und leeres Formentum sowie Furcht und ungebührliche Unterwürfigkeit gegenüber den weltlichen Mächten sich im Reich Gottes breitmachen durften. Der Herr gab ihnen diese Warnung in voller Kenntnis der kommenden Entwicklung, wie wir sie nun in der Kirchengeschichte wahrnehmen können.
Die Jünger konnten die Bedeutung dieser warnenden Worte unseres Herrn nicht fassen. «Sauerteig» wäre das Schlüsselwort zum Verständnis seines Ausspruchs gewesen, aber sie gaben ihm eine physische statt eine geistliche Bedeutung und vergassen, dass das Reich ihres Meisters nicht von dieser Welt war. «Sie überlegten miteinander und sprachen: Weil wir keine Brote haben.» Sie dachten nur daran, dass sie vergessen hatten, den Proviantkorb aufzufüllen.
Der Herr korrigierte seine Jünger, indem Er ihnen eine Reihe von Fragen stellte, die sie für sich selbst beantworten sollten. Diese gaben ihnen Gelegenheit zur Selbstbeurteilung und zum Selbstgericht. Lasst uns die verschiedenen Fragen kurz betrachten:
1. Mangelndes Vertrauen zum Meister
Seine erste Frage lautete: «Was überlegt ihr, weil ihr keine Brote habt?» Da sie Ihn nicht verstanden, hatten sie einer beim anderen eine Erklärung für seine Worte gesucht, obwohl die Quelle aller Weisheit in ihrer Mitte war. Es fehlte ihnen an Vertrauen in die Liebe und die Teilnahme Christi für sie. Hätten sie sich sonst nicht sogleich an Ihn gewandt mit dem Bekenntnis ihres mangelnden Verständnisses und dem Wunsch, belehrt zu werden?
Der göttliche Lehrer war unter ihnen und schon jetzt hätten sie von der späteren Verheissung Gebrauch machen können: «Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so erbitte er sie von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft, und sie wird ihm gegeben werden» (Jak 1,5). Aber die Jünger baten um nichts und empfingen daher auch nichts. Im Gegenteil, der Herr war es, der sie fragen musste: «Was überlegt ihr?» Er, der den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus die Schriften erklärte (Lk 24,27), konnte Er nicht auch ihnen für die Dinge des Reiches Verständnis geben?
Auch wir stossen beim Lesen des Wortes auf so manche Aussprüche, die wir nicht verstehen. Bitten wir den Herrn um Verständnis? Haben wir Vertrauen zu Ihm oder genügt es uns, mit anderen darüber zu diskutieren und doch nicht zu verstehen?
2. Mangelndes Begriffsvermögen
Der Herr fragte: «Begreift ihr noch nicht?» Begreifen heisst, mit Fleiss acht geben auf das, was vor sich geht, so dass sich das Ereignis tief in den Geist einprägt. Das Wort im Urtext bedeutet: «mit Verständnis abwägen, um zu verstehen». Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit hindern und hemmen das Begreifen.
Ein Beispiel von der Verwendung des Wortes in diesem Sinn finden wir in Verbindung mit der Prophezeiung über die kommenden Tage, wenn der Gräuel der Verwüstung an heiligem Ort aufgerichtet werden wird. Wer die Prophezeiung Daniels liest – die der Herr zitiert – wird ermahnt, sie zu «beachten oder zu verstehen», das heisst sie ernstlich zu erwägen (Mt 24,15, Mk 13,14). Richtiges Verstehen der Belehrung des Herrn ist also das Ergebnis einer sorgfältigen Untersuchung, an der das Herz beteiligt ist.
Hatten die Jünger dem Dienst des Meisters die nötige Aufmerksamkeit geschenkt? Wenn ja, weshalb hatte denn sein Dienst, den sie nun schon etwa zwei Jahre vor Augen gehabt hatten, so wenig Eindruck auf ihre Seele gemacht?
Ihre Erziehung und Schulung, die sie nötig hatten, um fähige Diener zu werden, die darin bestand, dass sie jetzt Erfahrungen sammelten vom Wirken und Lehren des Herrn, wurde durch ihren Mangel an Interesse gehindert. Geistlicher Fortschritt wird nicht durch bloss äusserlichen Kontakt mit den Wirkungen göttlicher Macht und Gnade erlangt. Das Tun des Herrn muss wohl erwogen und betrachtet werden. «Bedenke, was ich sage», schrieb Paulus an Timotheus, «denn der Herr wird dir Verständnis geben in allen Dingen» (2. Tim 2,7). Dies wird auch im kommenden Reich der Fall sein: «Alle Menschen werden sich fürchten und das Tun Gottes verkünden und sein Werk erwägen» (Ps 64,10).
3. Mangelndes Verständnis
«Versteht ihr nicht?» Auf geistliches Begreifen folgt geistliches Verständnis. Die Jünger fehlten zuerst darin, dass sie unterliessen, genaue Eindrücke von den vielen Taten der Macht, Weisheit und Gnade unseres Herrn aufzunehmen und zu bewahren. Sodann fehlten sie auch darin, dass sie nicht über die Bedeutung der Fülle seiner oft wiederholten Werke und ihrer übermenschlichen Natur nachsannen. Sie hatten Wunder der Heilung, der Ausübung der Macht Christi über die Naturgewalten, über die Geisterwelt, ja selbst über den Tod gesehen. Sie hatten die Auslegung der Wahrheit vom Reich gehört, wodurch sie in das hätten eingeführt werden können, was viel herrlicher und besser war als das Gesetz. Aber die Jünger waren dabei nicht weise geworden. «Wer weise ist, der wird dies beachten, und verstehen werden sie die Gütigkeiten des HERRN» (Ps 107,43).
Wir verstehen mit dem Herzen (Mt 13,15). Maria bewahrte alle die tiefen Aussprüche über Christus in ihrem Herzen, und im Verborgenen erwog sie sie, um sie zu verstehen (Lk 2,19.51).
4. Mangelndes Empfindungsvermögen des Herzens
«Habt ihr euer Herz verhärtet?» Diese Frage betrifft die richtige Herzenseinstellung dessen, der die göttliche Wahrheit kennen lernen will. Die Pharisäer wurden der Verstocktheit ihres Herzens angeklagt (Mk 3,5), hier aber auch die Jünger. Und in ihrem Fall wird dieser Ausdruck mit mangelndem Begriffsvermögen gegenüber der geistlichen Wahrheit und gegenüber dem ersten Wunder der Speisung in Zusammenhang gebracht. Schon an einer früheren Stelle lesen wir, dass sie durch die Brote nicht verständig wurden und ihr Herz verhärtet war (Mk 6,52). Die Jünger waren über die Stillung des Sturmes verwundert, weil sie das Wunder mit den Broten nicht verstanden hatten. Beide Male waren ihre Herzen schwer von Begriff und empfindungslos.
Beachten wir wohl, dass der Mangel an geistlichem Begriffsvermögen das Ergebnis von der Empfindungslosigkeit des Herzens ist. Und aus den folgenden Fragen ersehen wir, dass geistliches Sehen, Hören und Erinnerungsvermögen von der Herzenshärte beeinflusst werden. Als der HERR den Propheten Hesekiel dazu berief, sein Bote an das Haus Israel zu sein, sagte Er zu ihm: «Alle meine Worte, die ich zu dir reden werde, nimm in dein Herz auf und höre sie mit deinen Ohren» (Hes 3,10).
5. Mangelnde Betätigung der Augen
«Augen habt ihr und seht nicht.» Die Jünger besassen zweifellos geistlichen Gesichtssinn. Ihre Augen waren fähig zu sehen, was die Welt nicht sehen konnte. Bei den Männern des Glaubens ist es immer so. Der alte Simeon sah in dem kleinen Kind, das er auf seine Arme nahm, was die Priester des Tempels nicht zu sehen vermochten. Er erkannte in dem Kind den Christus des Herrn, das Heil des HERRN (Lk 2,26.30). Wenn die Augen des Glaubens in Übung sind, schauen sie das Unsichtbare und Ewige (2. Kor 4,18). Mit diesen Augen sind nicht unsere geistigen Fähigkeiten gemeint, sondern die Augen unserer Herzen (Eph 1,18). Sie sind mehr mit den Empfindungen als mit der Denkfähigkeit verbunden, und sind untrennbar von innerer Zuneigung und aufrichtiger Hingabe. Es sind Augen, die in dem Christus der Evangelien die erhabene Person unserer Anbetung und unseres Dienstes sehen. Die Jünger unterschätzten den Dienst Christi, weil sie Ihn selbst unterschätzten. Ein Nachfolger des Herrn kann in dieselbe Schwachheit fallen, wenn sein Auge nicht einfältig auf den Meister gerichtet ist. Er verliert das Sehvermögen seiner Seele und macht sich der Blindheit Laodizeas schuldig (Off 3,17). Da wir Augen haben, sollen wir in der rechten Richtung sehen und auf Jesus schauen, der gekrönt und verherrlicht worden ist.
6. Mangelnde Aufmerksamkeit der Ohren
«Ohren habt ihr und hört nicht?» Für den Dienst eines Apostels war es eine wesentliche Voraussetzung, dass er verkündigen konnte, was er gesehen und gehört hatte. So schrieb Johannes in seinem ersten Brief: «Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das Wort des Lebens … verkündigen wir euch» (1. Joh 1,1-3). Auch was Paulus gesehen und gehört hatte, sollte diesem gleichen Zweck dienen (Apg 22,15).
Die Frage des Herrn legte also im Verhalten der Jünger einen ernsten Fehler bloss, sie hatten Ohren, aber hörten nicht. Die ihre Ohren von der Wahrheit abkehren, sind falsche und böse Lehrer (2. Tim 4,4). Es gibt eine geeignete Haltung, in der man richtig hören kann, aber sie hatten die Warnung des Herrn: «Gebt nun acht, wie ihr hört» (Lk 8,18), nicht beachtet. Sie hätten aufmerksam hören sollen. Maria erwählte das gute Teil, indem sie sich zu den Füssen Jesu niedersetzte und seinem Wort zuhörte. Sie hatte Ohren um zu hören, und sie gebrauchte sie richtig. Ohren zu besitzen genügt nicht, sie müssen auch gebraucht werden. Deshalb die wiederholte Ermahnung an jede der sieben Versammlungen in Asien: «Wer ein Ohr hat, höre…»
Wie später die hebräischen Christen, waren die Jünger im Hören träge geworden, und daher waren die Aussprüche des Herrn für sie «schwer auszulegen».
7. Mangelndes Erinnerungsvermögen
«Erinnert ihr euch nicht?» sagte der Herr und führt dabei die beiden Wunder der Brote an. Die hinter uns liegenden Dinge zu vergessen, die von unserem Zustand vor der Bekehrung reden, ist uns nützlich (Phil 3,14). Aber die Erinnerung an die grosse Güte des Herrn sollte uns fortwährend begleiten und uns zu beständigem Lob anspornen (Ps 145,7). Die Erinnerung an die Wege, die der Herr in der Vergangenheit mit uns ging, dient uns zur Führung in der Gegenwart. Wenn wir uns an die gestrigen Speisungswunder erinnern, haben wir keine Angst vor einer Hungersnot, die heute oder morgen kommen könnte.
Ein lebendiges und genaues Gedächtnis ist ein grosser Faktor im geistlichen Leben. So hebt auch Petrus die Bedeutung einer stets gegenwärtigen Erinnerung der göttlichen Dinge hervor und nimmt in seinem zweiten Brief viermal darauf Bezug (2. Pet 1,12.13.15; 3,1). Indem er andere so ermahnte, dachte er da auch an seine eigene Erfahrung von damals, als die Erinnerung an die warnenden Worte des Herrn bei ihm Buße hervorrief über die schändliche Verleugnung seines Meisters? (Mt 26,75, Lk 22,61).
Das Abendmahl des Herrn ist eine Handlung, die dazu bestimmt ist, das Gedächtnis an den Tod Christi in seiner Versammlung wachzuhalten. Zwei Psalmen (38 und 70) wurden eigens «zum Gedächtnis» geschrieben, und die Erinnerung an die wunderbaren Werke des HERRN wird in den Psalmen oft als Grundlage des Vertrauens in Gott erwähnt. Der Versammlung in Sardes gab der Herr die feierliche Warnung: «Gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast» (Off 3,3).
In dieser Begebenheit im Markus-Evangelium, als die Jünger meinten, der Herr tadle sie, weil sie den Proviantkorb nicht aufgefüllt hatten, erinnerte Er sie an sein kürzlich gewirktes doppeltes Wunder und an die Anzahl der Körbe, die sie mit Brotbrocken füllen konnten, die von der überfliessenden Fülle seines Segens zeugten. Konnte Er nicht mit Berechtigung sagen: «O ihr Kleingläubigen, erinnert ihr euch nicht?»