Sie haben meinen Herrn weggenommen

Johannes 20,13

«Und diese sagen zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie spricht zu ihnen: Weil sie meinen Herrn weggenommen und ich nicht weiss, wo sie ihn hingelegt haben» (Joh 20,13).

In diesem Augenblick der Geschichte Marias war die Welt für sie auf nur zwei Personen zusammengeschrumpft: auf ihren Herrn und sie selbst. Aber Einer, ihr Herr, fehlte. Sie fühlte sich ganz allein gelassen mit dem Schmerz ihres Verlustes – «… meinen Herrn weggenommen», «ich weiss nicht wo», sagte sie. Ihre Liebe trat in hilflosem Schmerz ins Leere.

Es ist wohl wahr, dass hier am Grab Marias Unwissenheit über ihren Herrn, als dem Sohn des lebendigen Gottes, gross war, vielleicht tadelnswert. Aber die Liebe zu Ihm war noch viel grösser, und diese Liebe war lobenswert. Wir erinnern uns daran, dass Er, der den grossen Glauben eines römischen Hauptmanns bewunderte, auch die grosse Liebe einer glaubenden Sünderin lobte (Lk 7,9.47). Der Frau im Haus Simons mussten «viele Sünden» vergeben und von Maria Magdalene mussten «sieben Dämonen» ausgetrieben werden, und sie beide hatten ihren Heiland und Freund «viel geliebt».

Maria Magdalene, eine der ersten Jüngerinnen

Schon am Anfang des Dienstes unseres Herrn fand sich Maria unter den frommen Frauen von Galiläa, die Ihm dienten (Lk 8,2). Mit anderen hatte sie den Herrn zum letzten Mal nach Jerusalem begleitet (Mt 27,55.56). Von weitem sah sie aufmerksam zu, was mit dem Herrn am Kreuz geschah (Mk 15,40). Sie sass dem Grab Josephs von Arimathia gegenüber und sah zu, wie Jesus begraben wurde (Mt 27,61). Von allem Anfang an hatte also die Liebe eifriger Jüngerschaft das Herz Marias belebt. Sie hatte das Kreuz aufgenommen, um Ihm zu folgen, und jetzt spürte sie die Schwere dieser Last. Als dieser Tag, der erste der Woche, aufzudämmern begann, war Maria mit Gewürzsalben für ihren Herrn zum Grab gekommen. Sie hatte die Gruft offen und leer vorgefunden; das Schweisstuch des Hauptes und die Leinentücher, in die sein Leib gewickelt war, waren da, aber nicht der Leib des Herrn Jesus, der doch vor ihren Augen hineingelegt worden war. Die Nachforschungen ihrer Liebe brachten ihr an diesem Morgen nur Enttäuschung.

Und nun war sie allein. Die anderen Frauen waren fortgegangen, um den Aposteln die Botschaft der Engel zu verkündigen. Petrus und Johannes waren nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass das Grab leer war. Aber Maria, die an dem Platz zurückblieb, wo Nikodemus und Joseph den Herrn hingelegt hatten, stand in Einsamkeit bei der stillen Gruft. Sie wollte den Ort, wo sie ihren Meister und Herrn zuletzt gesehen hatte, nicht verlassen, obwohl es ein Platz des Todes war.

Engel in der Gruft, aber nicht ihr Herr

Sich vornüberbückend spähte Maria mit ihren verweinten Augen in die Gruft und sah nun, leuchtend in dem Dunkeln, zwei Engel in weissen Kleidern an der Stelle sitzen, wo der heilige Leib des Herrn im Tod geruht hatte. Diese Boten einer triumphierenden Auferstehung wunderten sich darüber, dass Maria weinte, während der Himmel jauchzte. Sie sagten zu ihr: «Frau, warum weinst du?»

Die plötzliche Gegenwart der Engel in der Gruft erschreckte Maria nicht, noch war sie zu sprachlos, um ihre Frage zu beantworten. Doch zeigte ihre Antwort, wie wenig sie von der Wahrheit kannte. «Sie» hatten ihren Herrn nicht weggenommen, noch hatten «sie» Ihn anderswo hingelegt. Sie irrte sich in den Tatsachen. Da war kein Wort des Glaubens und der Hoffnung auf ihren Lippen. Nicht wissend, dass Christus auferstanden war, war sie die «elendeste von allen Menschen» (1. Kor 15,19).

Marias Herr

Aber wenngleich Maria in ihrer Seele tief niedergebeugt war, so war sie doch nicht völlig überwältigt. Ihre Liebe zu ihrem Meister überglänzte alles. Wo und wie immer Er sein mochte, ob tot oder lebendig, so erhob sie immer noch Anspruch an Ihn; sie sagt: «meinen Herrn».

Wie mochte die Anhänglichkeit des Herzens dieser Frau für den Auferstandenen bei den Engeln Staunen hervorgerufen haben! «Sie haben meinen Herrn weggenommen», sagte sie. Mit anderen Worten: Sie haben mich meines Herrn beraubt, und nun ist mein Herz leer ohne Ihn. Ich muss seine Gegenwart entbehren und weiss nicht, wo ich Ihn suchen soll. Wie Ihre Tränen, so zeugten auch ihre Worte von grosser Trostlosigkeit. Die Liebe hatte ihren Gegenstand verloren, und Maria befand sich jetzt in tiefster Verzweiflung und Einsamkeit.

Der gebrochene Geist der weinenden Frau glich dem der Braut im Hohenlied (Hld 5,8). Ihr Geliebter hatte sich umgewandt und war weitergegangen. Sie suchte Ihn und fand Ihn nicht. Sie rief nach Ihm, aber Er antwortete ihr nicht. Sie war einsam und «krank vor Liebe» für den Abwesenden.

Die Nacht der Tränen endet, am Morgen ist Jubel da

Die Engel hörten die Worte Marias, aber sie gaben ihr keine Antwort. Es war nicht ihre Aufgabe, sie aufzumuntern oder zu trösten. Der Grund dafür ist klar. Der grosse Tröster selbst war in der Nähe. Sie sahen, was Maria bis dahin noch nicht wahrgenommen oder erkannt hatte. Der Eine, den sie beklagte, war selber gekommen, um ihren betrübten Geist aufzurichten und ihr Klagen in einen Lobpreis zu verwandeln. Jesus selbst war herzugetreten und stand jetzt zur Seite seiner weinenden Jüngerin. Die Engel blieben still und verschwanden. Sie liessen sie mit dem zurück, der gesagt hatte: «Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.»

Maria durfte im nächsten Augenblick wahrnehmen, dass ihr Herr den verzweifelten Schrei ihres einsamen Herzens gehört hatte. Sie fand Ihn nicht, als sie in die Gruft hineinsah und den Lebendigen unter den Toten suchte. Aber jetzt erkannte sie Ihn am Klang seiner Stimme, als Er im Garten bei ihr stand.

Welch wunderbarer Augenblick für Maria! Nur ein Wort fiel von seinen liebenden Lippen: «Maria!» und nur ein Wort kam aus ihrem einsamen, aber liebenden Herzen: «Rabbuni!» Sie hörte, sie wandte sich um, sie sah, sie betete an mit einem Wort! Die Liebe ist sparsam in ihren Ausdrücken gegenüber dem geliebten Gegenstand. Der Psalmist sagt: «Deiner harrt schweigend der Lobgesang» (Ps 65,2). Ihr «Rabbuni» sagte dem Herrn alles.

Die Erste, die den Auferstandenen erblickte

Konnte unser Herr unter der kleinen Gruppe der Seinen, die in der Welt waren, noch eine solche Liebe finden? Wir wissen es nicht. Aber Er erschien nicht zuerst einer Maria von Bethanien, die zu seinen Füssen gesessen, die Ihn für den Tag seines Begräbnisses mit Salböl gesalbt und seine Füsse mit ihren Haaren getrocknet hatte. Er offenbarte Sich zuerst der Maria Magdalene, von der Er sieben Dämonen ausgetrieben hatte (Mk 16,9). Wir können gewiss sein, dass Er mit tiefer Wertschätzung auf dieses liebende und einsame Herz blickte, das in dem Garten zurückblieb, weil es ohne Ihn nicht befriedigt werden konnte. Er kam, und dann stand alles gut mit ihr, wenngleich Er nur für einen Augenblick erschien, um ihr zu sagen, dass Er im Begriff sei, zum Vater aufzufahren und ihrem Blick ganz zu entschwinden. Aber sie weinte nie mehr und war nicht mehr einsam. Was ihrem Blick verloren ging, konnte ihr Glaube wieder finden.

Von Maria Magdalene können wir zwei wichtige Dinge lernen

  1. Wir fragen uns unwillkürlich: Ist unser Herz so völlig auf den Herrn Jesus gerichtet, wie ihr Herz? Eine Frage, die unser Innerstes erforscht! Dann müsste auch unser ganzes Verhalten, Reden und Handeln deutlich zum Ausdruck bringen: «Alle meine Quellen sind in dir.» Ohne diese völlige Hingabe an Ihn, ohne diese «erste» brennende Liebe fehlt unserem Christentum das Köstlichste. Darum sagt Salomo: «Behüte dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist; denn von ihm aus sind die Ausgänge des Lebens» (Spr 4,23).
  2. Ebenso wichtig ist es aber auch, dass wir uns oft zu den Füssen Jesu niedersetzen, um seinem Wort zuzuhören (Lk 10,39). So nur erkennen wir Ihn, den «Lebendigen aus den Toten» in seiner jetzigen Stellung und Tätigkeit. So nur können wir «Christus gewinnen» und zu dem Mass des vollen Wuchses der Fülle des Christus hinwachsen (Phil 3,8 und Eph 4,13). So nur vermögen wir Ihm auch völlig zu dienen.