Gedanken zur Einleitung des Judas-Briefes
«Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus, den in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesus Christus bewahrten Berufenen: Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt!» (Judas 1.2).
Der Judas-Brief – einer der kürzesten Briefe im Neuen Testament – malt uns ein dunkles Bild von der Entwicklung des christlichen Zeugnisses hier auf dieser Erde. Es ist ein Bild, das von Verfall, Abweichen und schliesslich von Abfall gekennzeichnet ist (auch wenn der Abfall noch bevorsteht). Judas zeichnet uns die Linien dieser negativen Entwicklung innerhalb der Christenheit bis hin zum Ende, wo der Herr Jesus inmitten seiner heiligen Tausende kommt, um das Gericht über die gottlosen Menschen zu bringen, die sich zwar Christen genannt haben, aber nie eine wirkliche Lebensverbindung zu Ihm gehabt haben.
Die Beschreibung dieser traurigen Entwicklung soll uns aber nicht mutlos machen und resignieren lassen. Ganz im Gegenteil. Judas appelliert in seinem Brief einerseits an unsere Verantwortung. Angesichts gottloser Menschen, die die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und den alleinigen Gebieter und Herrn verleugnen, fordert er uns auf, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen und uns selbst darauf zu erbauen. Anderseits aber – und diesem Gedanken wollen wir jetzt ein wenig nachgehen – weist er die Briefempfänger und damit auch uns in den ersten Versen seines Briefes auf die göttlichen Hilfsquellen der Gnade hin, die uns damals wie heute gegeben sind. Ohne Frage haben wir, die einen Teil des christlichen Zeugnisses ausmachen, eine Verantwortung, der wir entsprechen sollen. Aber es ist genauso klar, dass wir die göttliche Gnade benötigen, um nicht vom bösen Tun der Menschen um uns her fortgerissen zu werden (vgl. dazu 2. Pet 3,17). Diese beiden Seiten – die Verantwortung des Menschen einerseits und die Gnade Gottes anderseits – finden wir in der Bibel immer wieder vorgestellt. Wir dürfen und sollen sie unterscheiden, können sie aber nie voneinander trennen. Wenn es auf uns allein ankäme, würde niemand das Ziel erreichen. Doch Gott ist da, und die Hilfsquellen seiner Gnade versiegen nie. Er wird uns sicher ans Ziel bringen. Darauf können wir fest vertrauen.
Wir sind Berufene
Beginnen wir damit, dass Judas seine Briefempfänger «berufene» Menschen nennt. Einerseits werden damit alle Gläubigen angesprochen, denn wir alle sind Berufene. Anderseits gibt diese Bezeichnung dem ganzen Brief auch einen sehr persönlichen Charakter, denn berufen zu sein bezieht sich immer auf Einzelpersonen. Die Versammlung als Ganzes ist nicht berufen, wohl aber einzelne Menschen. Doch in dieser Anrede liegt noch mehr. Gott möchte uns damit unsere ganze Sicherheit zeigen. Könnten wir uns vorstellen, dass jemand, den Gott berufen hat, verloren gehen kann? Ganz bestimmt nicht. Auch in Zeiten grösster Verwirrung innerhalb der Christenheit dürfen wir daran festhalten, dass wiedergeborene Menschen von Gott berufen sind und deshalb auch bewahrt bleiben. Den Thessalonichern wurde, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang, gesagt: «Treu ist der, der euch ruft; er wird es auch tun» (1. Thes 5,24).
Gott ist treu, und in seiner Treue könnte Er es nie zulassen, dass eines seiner Kinder je mit den Gottlosen dieser christlichen Welt umkäme.
Wir sind in Gott, dem Vater, geliebt
Wiedergeborene Menschen, die in der Zeit der Gnade leben, kennen Gott als ihren Vater. Wir dürfen eine Beziehung zu Ihm haben, die durch Liebe gekennzeichnet ist. Diese Beziehung hat der Herr Jesus uns durch sein Leiden und Sterben am Kreuz von Golgatha geschenkt. Als der Auferstandene sagte Er zu Maria Magdalene, dass Er auffahren würde zu seinem Gott und unserem Gott, zu seinem Vater und unserem Vater.
Es ist eine der charakteristischen Segnungen des Christentums, Gott als Vater zu kennen und diese Beziehung auch zu geniessen. Alttestamentliche Gläubige kannten wohl Gott, den Allmächtigen, sie kannten Gott, den ewig Unveränderlichen (Jahwe), aber sie hatten keine Beziehung zu Ihm als zu ihrem Vater. Diese Beziehung haben wir, und auch darin liegt eine unendliche Hilfsquelle für uns heute. Wir dürfen wissen, dass der ewige Gott unser Vater ist und dass Er uns liebt. Er hat seine Liebe unter Beweis gestellt, als Er seinen Sohn gegeben hat, und Er liebt uns immer noch. An seiner Liebe kann es nicht den geringsten Zweifel geben, denn sie wird sich nie ändern. Er liebt jedes seiner Kinder mit der gleichen, unwandelbaren Liebe. Ist das kein Trost, keine Ermunterung?
Wir sind in Jesus Christus bewahrt
Als Christen haben wir nicht nur eine Beziehung zu Gott, dem Vater, sondern auch zum Herrn Jesus Christus. Wir sind mit Dem verbunden, der einmal hier als Mensch auf der Erde war, um für uns zu leiden und zu sterben. Wir sind mit Ihm als Dem verbunden, der jetzt zur Rechten Gottes in der Herrlichkeit ist. Wir sehen Ihn zwar noch nicht mit unseren leiblichen Augen, aber wir wissen doch, dass uns ein enges Band mit Ihm verbindet. Nichts und niemand kann uns je von Ihm trennen. Judas ermuntert die Gläubigen nun im Gedanken, dass wir in Ihm bewahrt werden. Er selbst, unser Herr und Heiland, ist der Garant dafür, dass wir durch das, was sich um uns her in der Christenheit abspielt, nicht zu Schaden kommen.
Die Fussnote in der Elberfelder-Übersetzung macht klar, dass man die Präposition auf drei verschiedene Weisen wiedergeben kann, nämlich «durch Christus», «in Christus» oder «für Christus». Alle drei Lesarten geben einen guten ermunternden Sinn. – Wenn es «durch Christus» ist, dann ist Er selbst es, der uns in seiner Kraft bewahrt. Und wem könnten wir das mehr zutrauen als Ihm? Wer hat mehr Macht als Er? Wer ist stärker als der Feind? In Ihm allein liegt unsere Sicherheit. – Wenn es «in Christus» ist, dann dürfen wir daran denken, dass uns niemand unsere Stellung nimmt, die ja «in Ihm» ist. Es ist völlig undenkbar, dass ein Gläubiger je seine Stellung in Christus verlieren könnte. Wir bleiben ewig untrennbar mit Ihm verbunden. – Wenn es «für Ihn» ist, dann denken wir daran, dass Er selbst einen Verlust erleiden würde, wenn eines der Seinen je verloren ginge. Auch dieser Gedanke ist ganz unvorstellbar, Nein, wir bleiben bewahrt, weil wir mit unserem Herrn verbunden sind, weil wir in einer untrennbaren Beziehung zu Ihm stehen.
Der Segensgruss
Ein dreifacher Segensgruss schliesst sich zu unserer Ermunterung an: «Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt!» In vielen Briefen finden wir Gnade und Friede oder Barmherzigkeit und Friede. Nur Judas verbindet Barmherzigkeit, Friede und Liebe in dieser Form miteinander.
- Im Gegensatz zur Gnade lässt uns die Barmherzigkeit an die Not und das Elend derer denken, die Anziehungspunkt der Zuwendung Gottes sind. Brauchen wir nicht gerade am Ende der Gnadenzeit die Barmherzigkeit Dessen, der an anderer Stelle der «Vater der Erbarmungen» genannt wird? Ein vermehrtes Empfinden seiner Barmherzigkeit kann uns in unseren Umständen helfen und uns bewahren.
- Friede ist hier nicht so sehr der Friede mit Gott, sondern es ist der Friede Gottes, der uns selbst in unruhiger Zeit und in schwierigen Umständen ohne Angst und Sorge sein lässt. Gott hat uns über die Entwicklung innerhalb der Christenheit nicht im Unklaren gelassen, Er zeigt uns auch deutlich das Ende. Und doch brauchen wir deshalb nicht in Sorge und Unruhe zu verfallen. Ganz im Gegenteil, wir dürfen ein vermehrtes Empfinden seines Friedens haben und persönlich in völliger Ruhe unseren Weg gehen.
- Schliesslich wünscht Judas uns einen vermehrten Genuss der Liebe. In allen Umständen dürfen wir uns der Liebe Gottes erfreuen und uns selbst darin erhalten. Gleichzeitig dürfen wir sie zu anderen – zu Gläubigen und Ungläubigen – ausströmen lassen. Auch darin liegt ein wunderbares Bewahrungsmittel für uns.
Gott hat uns tatsächlich zu keiner Zeit ohne Hilfsquellen gelassen. Wir wollen diese jedoch nicht als bequeme Entschuldigung benutzen, unserer Verantwortung nicht zu entsprechen, wir wollen aber auch nicht auf uns selbst vertrauen. In uns selbst ist überhaupt keine Kraft. Wir sind völlig von der bewahrenden Gnade unseres Gottes abhängig. «Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit untadelig darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott, unserem Heiland, durch Jesus Christus, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit! Amen» (Jud 24.25).