Der gute Hirte

Johannes 10,1-18

Einleitung

Die Versammlung ist eigentlich nicht das Thema des Apostels Johannes. Trotzdem zeigt er uns in seinen Schriften vier Aspekte der Versammlung Gottes als der Gesamtheit aller erlösten Christen.

In seinem ersten Brief geht es um die Familie Gottes. Der wichtige Gedanke bei der Familie Gottes ist das Unterscheiden-Können. Wir haben zwischen einem kleinen Kind in Christus und einem Vater in Christus zu unterscheiden. Es gibt manches, das wir von einem kleinen Kind nicht erwarten können, wohl aber von einem Vater.

Den zweiten Aspekt finden wir im Buch der Offenbarung. Dort wird die Versammlung als die Braut, die Frau des Lammes, vorgestellt. Der grosse Gedanke dabei ist die Liebe. Eine Braut oder eine verheiratete Frau zu sein heisst, geliebt zu werden und selbst zu lieben.

Der dritte Aspekt wird uns ebenfalls in der Offenbarung gezeigt, wenn die Versammlung als eine Stadt, als das neue Jerusalem, gesehen wird. Bei der Stadt geht es um Verwaltung, und zwar um eine gottgemässe.

Aber in Johannes 10 wird die Versammlung als die eine Herde vorgestellt. Diese Herde hat den einen Hirten, der sie zusammenhält.

Der Herr Jesus als Hirte

Die Tatsache, dass der Herr Jesus der Hirte ist, zieht sich als Thema durch die ganze Bibel hindurch. Wir begegnen dieser Wahrheit sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Wenn wir an den Segen Jakobs denken, den er über seine zwölf Söhne ausgesprochen hat, dann fällt auf, dass er zwei von ihnen besonders hervorhebt.

Von Juda sagt er: «Nicht weichen wird das Zepter von Juda …, bis Schilo kommt, und ihm werden die Völker gehorchen» (1. Mo 49,10). Das ist niemand anders als der Herr Jesus in seiner offiziellen königlichen Herrlichkeit.

Aber dann lenkt er die Aufmerksamkeit auf Joseph und sagt von ihm: «Von dort ist der Hirte» (1. Mo 49,24). Wenn wir daran denken, dass Joseph prophetisch auf Christus hinweist, dann erkennen wir den Herrn Jesus sofort als Hirten. Dabei steht seine moralische Herrlichkeit vor unseren Blicken.

Im Alten Testament finden wir dieses Thema besonders in Psalm 23. Das ist möglicherweise der bekannteste Teil der Bibel. Dieser Text wurde vor etwa 3000 Jahren geschrieben und ist seither unzähligen Menschen zum Trost geworden. Im 23. Psalm spricht das Schaf, also der Erlöste, über den Herrn Jesus als den Hirten.

Der Gedanke des Hirten wird auch von den Propheten aufgegriffen. Als Beispiele seien Jesaja 40,11, Jeremia 17,16 und Hesekiel 34 erwähnt. Eine besondere Stelle findet sich in Sacharja 13. Es gibt meines Wissens nur zwei Stellen, in denen jemand den Herrn Jesus meinen Hirten nennt: In Psalm 23 ist es David, ein Glaubender, und in Sacharja 13,7 ist es Gott selbst, der so von Ihm spricht: «Schwert, erwache gegen meinen Hirten und gegen den Mann, der mein Genosse ist!»

Der Herr als unser Hirte wird im Neuen Testament in dreierlei Hinsicht vorgestellt:

  • In Johannes 10 ist Er der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe lässt und eine persönliche Beziehung zu ihnen hat.
  • In Hebräer 13,20 wird gesagt, dass der Gott des Friedens unseren Herrn Jesus aus den Toten wiederbrachte. Nun ist Christus im Himmel, wo Er der grosse Hirte der Schafe ist. Zwei Merkmale zeichnen Ihn als den grossen Hirten aus. Das erste finden wir im Hebräer-Brief, wo Er als der grosse Hohepriester mit unseren Schwachheiten beschäftigt ist. Das zweite ist sein Dienst als Sachwalter im ersten Johannes-Brief. Da beschäftigt Er sich mit uns, wenn wir gesündigt haben.
  • Bald wird der Herr Jesus in Herrlichkeit wiederkommen. Davon spricht der Apostel Petrus in seinen Briefen. In 1. Petrus 5,4 heisst es, dass der Herr Jesus dann als der Erzhirte, d.h. als der höchste Hirte, offenbar werden wird.

Einteilung von Johannes 10,1-18

Dieser Abschnitt hat drei Teile:

  1. Erstes Gleichnis: Jesus Christus ist der Hirte, der durch die Tür in den jüdischen Schafhof eingeht. Das spricht davon, wie Er zu seinem Volk Israel gekommen ist (V. 1-6).
  2. Zweites Gleichnis: Der Herr Jesus ist die Tür der Schafe. Wer durch diese Tür eingeht, kommt in den christlichen Bereich (V. 7-9).
  3. Der Herr Jesus ist der gute Hirte. Er beweist seine Liebe und seine Treue zu seinen Schafen, indem Er sein Leben für sie lässt. Er besitzt eine Herde, bestehend aus allen Gläubigen, die jetzt auf der Erde leben (V. 10-18).

Das erste Gleichnis vom guten Hirten

(Johannes 10,1-6)

In diesem Abschnitt sehen wir den Herrn Jesus, wie Er durch die Tür in den Schafhof hineingeht. Bei dieser Herde handelt es sich um die Menschen aus dem Volk Israel. Die Mauern des Schafhofs stellen bildlich die Gesetze und Verordnungen Gottes vor, die Er Mose gegeben hat. In Epheser 2 wird das Gesetz der Gebote in Satzungen als Zwischenwand der Umzäunung bezeichnet. Diese zwei Stellen (Eph 2,11-22 und Joh 10,1-6) werfen sich gegenseitig Licht zu. Der Herr Jesus trat durch die Tür in den jüdischen Schafhof ein. Als Er zu seinem irdischen Volk kam, wies Er sich durch sein Leben, seine Werke und seine Worte als der rechtmässige Messias aus. Dieses Eintreten durch die Tür erinnert also an alttestamentliche Verheissungen auf den Messias, die sich durch sein Kommen erfüllten. Doch wir lesen auch: «Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an» (Joh 1,11). Das erlebte der Herr Jesus im Allgemeinen, als Er zu seinem geliebten irdischen Volk kam. Aber es gab Einzelne, die Ihn aufnahmen. Diese wurden seine Schafe.

Die Stimme des guten Hirten

Sie hat einen zweifachen Klang. Wir erkennen dies aus den Psalmen. Zuerst heisst es in Psalm 40,10: «Ich habe die Gerechtigkeit in der grossen Versammlung verkündet; siehe, meine Lippen hemmte ich nicht – HERR, du weisst es!» Zweitens lesen wir in Psalm 45,3: «Du bist schöner als die Menschensöhne, Holdseligkeit (oder Gnade) ist ausgegossen über deine Lippen; darum hat Gott dich gesegnet in Ewigkeit.» Das ist der zweifache Klang der Stimme des guten Hirten. Der erste Ton ruft uns zum Gehorsam und zur praktischen Gerechtigkeit auf. Der zweite zeigt uns seine Gnade.

Wenn eine Stimme an unser Ohr dringt, die immer nur von Gehorsam und Gerechtigkeit, aber niemals von Gnade spricht, dann ist dies nicht die Stimme des guten Hirten. Und wenn eine andere Stimme unser Ohr erreicht, die immer nur von Liebe, Barmherzigkeit und Gnade und nie von Gehorsam und Gerechtigkeit zu uns spricht, dann ist das ebenfalls nicht die Stimme des guten Hirten.

Vor einigen Jahren hörte ich der Verkündigung eines Bruders zu. Nach der Stunde fragte er mich, was ich von seinem Dienst halte. Ich hätte nichts gesagt, wenn er mich nicht gefragt hätte. Aber so antwortete ich ihm: «Du hast in sehr ernster Weise gesprochen, und alles, was du sagtest, war richtig, aber du hast kein einziges Mal die Gnade erwähnt.» Doch das andere Extrem, dass die Leute nur von Gnade reden und nie zum Gehorsam und zur praktischen Gerechtigkeit aufrufen, stellt heute vielleicht die grössere Gefahr dar.

Die Schafe im jüdischen Schafhof haben also die Stimme des guten Hirten gehört. Einige nahmen Ihn an und wurden seine eigenen Schafe, denn Er rief sie mit Namen. Hier sehen wir, wie man ein Schaf des guten Hirten wird. Es ist eine ganz persönliche Sache. Eltern können dies nicht für ihre Kinder und ein Ehemann kann es nicht für seine Frau tun. Jeder muss selbst diese Stimme hören und persönlich darauf reagieren. Wir kennen die schöne Stelle in Jesaja 43,1: «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.» Ich hoffe, dass jeder Leser bezeugen kann: «Der Herr Jesus hat mich bei meinem Namen gerufen; ich bin sein.»

Hinausführen, vorangehen, nachfolgen

Was macht der Hirte nun mit seinen Schafen? Er führt sie aus dem Schafhof hinaus. Das ist ein wichtiger Punkt in den Evangelien. Wir finden ihn auch im Blick auf Golgatha. Es heisst nicht, dass der Herr Jesus nach Golgatha hinaufging. Er ging zur Schädelstätte hinaus. Im Matthäus-Evangelium wird Er von Menschen hinausgeführt. Im Johannes-Evangelium aber sehen wir, wie Er, sein Kreuz tragend, selbst hinausging. Er litt ausserhalb des Tores, und jetzt führt Er die Seinen aus dem jüdischen System hinaus. Das ist der Gedanke in Hebräer 13.

Als Hirte geht Er vor uns her. Das finden wir auch im ersten Petrus-Brief. Dort werden wir über die Fussstapfen des Herrn belehrt, in denen wir Ihm nachfolgen dürfen. Das ist das grosse Vorrecht eines Schafs dieses Hirten. Die Fussstapfen unseres Herrn sind vollkommen. Wir werden uns während des ganzen Lebens darin üben müssen, wirklich in diese Fussstapfen zu treten. Aber welch ein Vorrecht, dass Er vorangegangen ist und wir Ihm nur zu folgen brauchen!

Gibt es auf der Erde etwas Grösseres, als dem guten Hirten nachzufolgen? Nachfolge zieht zwei Konsequenzen nach sich. Der Herr Jesus hat gesagt: «Ein Knecht ist nicht grösser als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen» (Joh 15,20). Wer dem Herrn Jesus kompromisslos nachfolgt, muss mit Schmach und Spott rechnen. Es ist die Schmach des Christus. Die zweite Konsequenz aber ist eine tiefe Freude im Herzen. Das sind keine Theorien. Jeder kann dies in der Praxis selbst erfahren, wenn er dem Herrn Jesus nachfolgt.

Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Da gab es einen starken Jungen, der mich verprügelte. Er sagte mir, dass der Grund für sein Verhalten mein Glaube an den Herrn Jesus sei. Ich lief weinend nach Hause, aber in meinem Herzen hatte ich eine tiefe Freude. Jeder, der die Schmach des Christus auf die eine oder andere Weise zu spüren bekommt, wird diese Erfahrung machen.

Es ist nicht irgendeine Schmach, es ist die Schmach des Christus. Hebräer 13,13 fordert uns auf, zu Ihm hinauszugehen, «seine Schmach tragend». Die Apostel freuten sich, für den Herrn Schmach zu leiden (Apg 5,41). Das sind die zwei Konsequenzen, die sich aus seiner Nachfolge ergeben. Vielleicht haben wir deshalb oft so wenig Freude in unserem Christenleben, weil wir dem Herrn Jesus nicht kompromisslos nachfolgen!

Diese Schafe folgen Ihm, weil sie seine Stimme kennen. Warum folgen sie einem Fremden nicht? Haben sie dessen Stimme längere Zeit untersucht und sind sie zum Schluss gekommen, es sei eine schlechte Stimme? Fordert die Bibel uns auf, das zu untersuchen, was die Stimmen, die wir hören, uns lehren wollen? Nein! Das tut sie nicht. Die Schafe folgen einem Fremden nicht, weil sie seine Stimme nicht kennen. Es ist nicht nötig, alle Irrtümer in der Christenheit zu untersuchen. Es genügt, die Stimme des guten Hirten zu kennen.

Dazu eine Illustration: Ein Schiff steuert in den Hafen. Es ist eine gefährliche Einfahrt, weil es in jenem Gebiet viele Klippen dicht unter der Wasseroberfläche gibt. Ein Passagier kommt auf die Kommandobrücke und wendet sich an den Kapitän: «Sie kennen sicher jeden Felsen in diesem Teil des Meeres. Darum sind Sie in der Lage, das Schiff sicher in den Hafen zu steuern.» Der Kapitän erwidert: «Ich kenne keinen einzigen Felsen, aber ich kenne die Fahrrinne, wo es keine Felsen gibt. Diesen Weg nehme ich.» Auch wir kennen den Weg, wo es keine gefährlichen Klippen gibt: Es ist der Weg der kompromisslosen Nachfolge hinter dem Herrn Jesus her.

Das zweite Gleichnis vom guten Hirten

(Johannes 10,7-9)

In diesem Abschnitt finden wir ein anderes Bild. Da zeigt der Herr Jesus, dass Er die Tür ist. Jeder muss durch diese Tür hineingehen, um gerettet zu werden. Er ist der einzige Retter: «Es ist in keinem anderen das Heil, denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in dem wir errettet werden müssen» (Apg 4,12). Es ist eine wunderbare Sache, gerettet zu sein. Ich hoffe, dass wir alle, die dem Herrn Jesus angehören, ein Herz voller Dankbarkeit darüber haben, dass wir nicht ins Gericht kommen. Wie schrecklich, dass alle, die diese Errettung im Herrn Jesus ablehnen, ewig verloren gehen. Sie werden in alle Ewigkeit fern von Gott im Feuersee sein. Aber jeder, der durch diese Tür eingeht, wird eine dreifache Erfahrung machen:

1) Errettet werden

Erstens wird er errettet werden. Errettung ist ein sehr umfassender Begriff. Er beinhaltet die Errettung der Seele bei der Bekehrung, die zeitliche Errettung in schwierigen Lebenssituationen und die Errettung des Körpers am Tag der Entrückung, wenn wir verwandelt werden und unser Körper umgestaltet wird.

2) Frei sein

Zweitens wird er ein- und ausgehen. Das bedeutet, dass ein Schaf sich vor dem Hirten ohne Furcht frei bewegt. Damit wird uns die christliche Freiheit vorgestellt.

Doch bevor wir uns näher damit befassen, möchte ich betonen, was christliche Freiheit nicht ist. Es ist keine Freiheit, um zu sündigen oder weltlich zu leben. Leider gibt es heute Stimmen, die so etwas behaupten, weil sie glauben, christliche Freiheit bedeute ein Leben ohne Einschränkungen. Doch wir werden in 2. Petrus 2,19 vor solchen gewarnt, die Freiheit versprechen, während sie selbst «Sklaven des Verderbens» sind.

Was ist nun christliche Freiheit? Sie ist vierfältig:

  • Das erste Merkmal finden wir in 2. Korinther 3,17: «Wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit.» Es ist die Freiheit, um die Herrlichkeit des Herrn mit unverhülltem Angesicht anzuschauen. Das ist der erste Aspekt der christlichen Freiheit: den Herrn Jesus zu betrachten und sich an Ihm zu freuen. Man ist manchmal erstaunt zu sehen, wozu ungläubige Menschen fähig sind. Es gibt unter ihnen sehr freundliche, sehr hilfsbereite und sehr geduldige Leute. Das kann uns beeindrucken. Aber zu etwas sind sie unfähig. Sie haben keine Glaubens-Augen, keine Augen des Herzen, um den Herrn Jesus zu sehen. Wir aber schauen Ihn an. Das ist christliche Freiheit!
  • Das zweite Merkmal finden wir in Römer 6. Dort wird von der in uns wohnenden Sünde gesprochen und gesagt, dass wir «Sklaven der Sünde waren». Vor unserer Bekehrung mussten wir sündigen. Aber christliche Freiheit bedeutet, dass wir jetzt nicht mehr sündigen müssen. So heisst es in Vers 18: «Frei gemacht aber von der Sünde …» Wir wissen zwar aus Gottes Wort – und aus bitterer Erfahrung –, dass wir als Glaubende immer noch sündigen. Trotzdem gilt: Die christliche Freiheit macht uns frei von diesem Zwang. Wie gross ist das!
  • Den dritten Punkt zeigt uns Römer 8,21, wo wir von «der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes» lesen. Wir haben zwar die Herrlichkeit noch nicht erreicht, aber wir besitzen die Freiheit der Herrlichkeit. Als Kinder Gottes sind wir frei, jederzeit in die Gegenwart unseres himmlischen Vaters zu treten, ohne uns vorher anmelden zu müssen. Das ist das Thema von Römer 8. Der Heilige Geist zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wir haben den Geist der Sohnschaft empfangen, in dem wir rufen: «Abba, Vater!»
    Ich hoffe, dass wir alle von dieser Freiheit, jederzeit die Gegenwart des Vaters aufzusuchen, fleissig Gebrauch machen. Dort dürfen wir Ihm freimütig alle unsere Bitten vorlegen. Und wenn wir keine besonderen Bitten haben, freut es den Vater, wenn wir einfach bei Ihm sein möchten, um seine Gegenwart zu geniessen. Das ist die Freiheit der Kinder Gottes. Kennst du sie aus Erfahrung, indem du auf den Knien vor dem Vater warst und Ihm deine Bitte vorbrachtest, und dann einfach noch ein wenig bei Ihm verweilen wolltest?
  • Das vierte Merkmal steht in 1. Petrus 5,2. Dort wird etwas Allgemeines über die Ältesten gesagt. Sie sollen «freiwillig» dienen. Der Herr Jesus zwingt niemand, Ihm zu dienen. Er hat nur freiwillige Arbeiter. Es ist die Freiheit des Gläubigen, dem Herrn zu dienen. Doch das heisst nicht, dass ein Knecht des Herrn unabhängig ist. Unser Problem ist, dass wir meinen, Zwang bedeute Abhängigkeit und Freiwilligkeit gehe Hand in Hand mit Unabhängigkeit. Wenn wir den Herrn Jesus betrachten, finden wir, dass Er in Johannes 17,8 zum Vater sagt: «Ich bin von dir ausgegangen.» Das war seine Freiwilligkeit. Aber dann fährt Er fort und sagt: «Sie haben geglaubt, dass du mich gesandt hast.» Das spricht von vollkommener Abhängigkeit. Das gleiche gilt für den christlichen Dienst. Er muss freiwillig und in völliger Abhängigkeit vom Herrn getan werden.

Das alles liegt in der Aussage, dass ein Schaf des guten Hirten vor Ihm ein- und ausgeht.

3) Nahrung finden

Drittens findet ein Mensch, der durch die Tür eingeht, Nahrung: geistliche Nahrung für sein Herz. Zunächst ein Wort an solche, die der Herr benutzt, um sein Wort zu verkündigen. Das Wesentliche dieses Dienstes ist nicht, viel Interessantes zu sagen, sondern die Person des Herrn Jesus vor Herz und Gewissen der Zuhörer zu stellen. Das ist wirkliche Nahrung für die Gläubigen. Vor Jahren wurde ein Christ zu einer dreitägigen Bibelkonferenz mitgenommen. Am Schluss fragte man ihn, was für einen Eindruck er davon habe. Er antwortete: «Es war sehr schön, aber doch ein wenig einseitig. Die Leute haben drei Tage lang nur über den Herrn Jesus gesprochen.» Er realisierte nicht, was er sagte. Hätte es ein höheres Lob für diese Konferenz geben können, als dass jemand sagt: «Sie haben drei Tage lang nur über den Herrn Jesus gesprochen.»? Das ist Nahrung für den inneren Menschen.

Der Herr Jesus ist der gute Hirte

(Johannes 10,10-18)

Zum besseren Verständnis dieser Verse zunächst eine kleine Illustration: Zusammen mit meiner verlobten Braut suchten wir einen Juwelier auf, um zwei Ringe zu kaufen. Als Erstes breitete der Verkäufer ein schwarzes Tuch auf dem Tisch aus. Dann legte er die Ringe darauf. So kam ihr Glanz besonders gut zur Geltung, denn der Juwelier arbeitete mit Kontrasten.

Genau so macht es der Herr Jesus in diesen Versen. Wenn wir dies nicht erkennen, werden wir seine Worte nicht verstehen. Er zeichnet zunächst einen sehr dunklen Hintergrund, indem Er von einem Dieb spricht, der stiehlt und schlachtet (V. 10). Vor diesem schwarzen Hintergrund des Hasses stellt Er seine wunderbare Liebe vor, die Er bewies, indem Er sein Leben am Kreuz von Golgatha gab (V. 11).

Dann zeigt Er uns einen anderen dunklen Hintergrund, wenn Er von einem Mietling spricht (V. 12.13). Ein solcher Mensch hütet die Herde gegen Bezahlung. Er flieht, wenn Gefahr droht. Weisst du, was das ist? Das ist Untreue. Vor diesem Hintergrund stellt der Herr seine Treue vor, eine Treue bis in den Tod (V. 14.15).

Das sind die zwei grossen Charakterzüge des guten Hirten: Er liebt uns mit einer Liebe, die bis in den Tod ging, und Er hält in Treue zu uns.

Im 16. Vers sagt der Herr Jesus: «Ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Hof sind.» Darüber bin ich sehr froh, denn das bedeutet, dass der Herr Jesus nicht nur aus Israel, sondern aus allen Völkern und Nationen Schafe hat. Dann fügt Er hinzu: «Auch diese muss ich bringen.» Jetzt führt Er diese eine Herde nicht in einen neuen Hof, sondern versammelt sie um sich, den einen Hirten.

Es stimmt zwar, dass es eine Mauer um die Gläubigen herum gibt. Wir denken an die Versammlung als eine Stadt. Da lesen wir von einer grossen und hohen Mauer (Off 21,12). Aber diese Mauer hat nicht den Zweck, die Gläubigen zusammenzuhalten. Zuerst muss die Mauer dafür sorgen, dass nichts Böses hineindringt. Und wenn im Innern Böses auftritt, ist die Mauer dazu da, das Böse, das hinausgetan werden muss, auch draussen zu halten. Die Mauer ist also nicht da, um uns zusammenzuhalten.

Was hält uns denn zusammen? Es ist die Anziehungskraft des guten Hirten. Was könnte uns zusammenhalten, wenn der Herr Jesus dies nicht tun würde? Ich gebrauche seinen Namen nicht als eine Form von Worten. Es geht mir um die Anziehungskraft, die die Herrlichkeit seiner Person und seines Wortes ausübt.

Das führt uns zu den Versen 17 und 18. Wenn wir vom Hirten angezogen werden und immer näher zu Ihm hin kommen, dann werden wir Verständnis darüber erlangen, dass Er der Sohn des Vaters ist, der Sohn seiner Liebe. Hier sagt der Herr Jesus: «Darum liebt mich der Vater.» Gleichzeitig stellt Er die grosse Wahrheit vor, dass Er in göttlicher Macht sein Leben als Mensch hinlegen wird. Und in göttlicher Macht würde Er drei Tage später als Mensch aus den Toten auferstehen. Er hat dieses Gebot von seinem Vater empfangen und es in Vollkommenheit ausgeführt.

In Johannes 10 sagt der Herr Jesus dreimal, dass Er sein Leben gibt. Das erste Mal beweist Er damit seine Liebe zu den Seinen (V. 11). Das zweite Mal unterstreicht Er mit dieser Aussage seine Hirtentreue zu den Glaubenden, die seine Schafe sind (V. 15). Beim dritten Mal sehen wir darin seinen Gehorsam zum Vater (V. 17.18). Der Vater liebt den Sohn von Ewigkeit zu Ewigkeit. Als der Herr Jesus als Sohn das Gebot des Vaters erfüllte und sein Leben hingab, um es wiederzunehmen, da erstrahlten seine Hingabe und sein Gehorsam auf vollkommene Weise. Auch dadurch gab Er dem Vater einen Beweggrund, Ihn zu lieben.

Wir haben das Vorrecht, zur Herde des Herrn Jesus zu gehören. Ihr Mittelpunkt ist der gute Hirte, der zugleich der Sohn der Liebe des Vaters ist.