Hat der Mensch einen freien Willen?

Die Lehre vom freien Willen steht ganz in Übereinstimmung mit den Anmassungen des natürlichen Menschen, der sein völliges Verlorensein leugnet. Alle, die kein tiefes Bewusstsein von Sünde haben, glauben mehr oder weniger an einen freien Willen des Menschen. Dies ist allgemein die Lehre der Philosophen. Diese verändert den Hauptpunkt des Christentums, indem sie den Grundsatz des Christentums völlig über den Haufen wirft.

Da Christus gekommen ist, um das Verlorene zu erretten, bleibt kein Platz für einen freien Willen übrig. Dies heisst jedoch nicht, dass Gott den Menschen hindert, Christus anzunehmen. Im Gegenteil, Er setzt alles daran, um ihn zu Christus zu ziehen. Aber selbst wenn Gott alles aufbietet, was irgendwie das Herz des Menschen beeinflussen kann, so dient dies doch zu nichts anderem, als ans Licht zu bringen, dass der Mensch von dem allem nichts wissen will, ja, dass sein Herz so verdorben ist und sein Wille so entschieden dem Willen Gottes entgegensteht, dass nichts ihn bewegen kann, den Herrn anzunehmen und sich von der Sünde loszusagen.

Wenn man unter dem freien Willen versteht, dass niemand den Menschen zwinge, den Herrn zu verwerfen, so hat man Recht. Aber wenn man damit sagen will, der Mensch sei fähig, zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen, so täuscht man sich ganz gewaltig. Nein, der Mensch, der unter der Herrschaft der Sünde steht und mutwillig ein Sklave der Sünde ist, kann seinen Zustand unmöglich verlassen und dem Guten nachjagen, «weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht. Die aber, die im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen» (Röm 8,7.8).

Hiermit berühren wir den Kern der Frage: Wird der alte Mensch unterwiesen, verändert, geheiligt? Oder empfangen wir, um errettet zu werden, eine neue Natur? Die Schrift lehrt das Letztere. Der Mensch will das Erstere, weil er meint, durch Christus in seiner Stellung als Kind Gottes wiederhergestellt zu werden. Doch das ist keine Erlösung. Solches wird aber gelehrt. Sicher, es gibt wahre Gläubige unter ihnen, aber diese werden – trotz ihrer Lehre – von Gott dazu gebracht, zu fühlen, dass sie ausser Christus verloren sind und erlöst werden müssen. Dennoch sind sie durch ihr Bestreben, die Mitglieder ihrer Partei zu mehren, eine Mischung von Liebe und natürlicher Gesinnung des Herzens, sowie durch ihr Vertrauen auf die eigene Kraft und die Furcht vor der unvermischten Gnade sehr von ihrer Lehre eingenommen und leugnen die völlige Verdorbenheit des Menschen.

Was mich betrifft, so sehe ich in der Schrift – und erkenne in mir selbst – das völlige Gefallensein des Menschen. Ich sehe, dass das Kreuz das Ende aller Mittel ist, die Gott benutzt hat, um das Herz des Menschen zu gewinnen; und die den unwiderlegbaren Beweis erbracht haben, dass das menschliche Herz für Gott verschlossen ist. Während Gott all seine Mittel ausgeschöpft hat, hat der Mensch gezeigt, dass er unverbesserlich schlecht ist. Das Kreuz Christi verurteilt den Menschen. Da jedoch diese Verurteilung in der Art und Weise stattgefunden hat, dass ein anderer sie unverdienterweise auf sich genommen hat, so bietet sie die Erlösung allen an, die glauben.

Für uns, die Glaubenden, liegt das Gericht, der Lohn der Sünde, hinter uns, und die Folge davon ist Leben durch die Auferstehung: «Wir sind der Sünde gestorben, Gott aber lebend in Christus Jesus, unserem Herrn.»

Hält man diese Wahrheit im Blick auf den alten Menschen nicht fest, so verliert das Wort «Erlösung» seine Kraft. Wenn man an eine Verbesserung oder Veredelung der alten Natur, an eine praktische Befreiung von einem moralischen Zustand denkt, so ist das keine Erlösung durch das vollbrachte Werk eines anderen.

Und doch gibt es solche, die behaupten, dass der Mensch wählen könne, und dass, wenn er gewählt habe, der alte Mensch verbessert werde durch jene Sache, der er sich angeschlossen habe. In diesem Fall aber würde der erste Schritt ohne die Gnade geschehen, und es ist der erste Schritt, auf den hier alles ankommt. Wir müssen uns an das Wort halten.

Die Lehre vom freien Willen ist aber auch von einem philosophischen und moralischen Gesichtspunkt aus betrachtet eine falsche und ungereimte Theorie. Freier Wille ist ein Zustand der Sünde. Der Mensch muss keinen freien Willen haben und keine Wahl treffen wollen: Er muss gehorchen, und im Frieden Gott geniessen. Es muss seine Freude sein, in der Abhängigkeit von Gott zu leben. Es ist ein Zustand der Sünde, wenn er – vom Guten getrennt – wählen muss. Und überhaupt, wenn er das Gute wählen muss, so beweist dies, dass er es nicht besitzt. Er befindet sich, solange er noch keinen Entschluss gefasst hat, ausserhalb von dem, was an sich gut ist.

Es ist jedoch eine Tatsache, dass der Mensch geneigt ist, dem Bösen zu folgen. Welch eine Grausamkeit, dem Menschen, der sich bereits dem Bösen zugewandt hat, Pflichten vorzuschreiben! Philosophisch gesprochen, müsste er gleichgültig sein, denn sonst hat er – was seinen Willen betrifft – schon gewählt. Doch wenn er völlig gleichgültig ist, was könnte ihn dann zu einer Wahl bestimmen? Ein Geschöpf muss einen Beweggrund haben, einen solchen hat er aber nicht, wenn er gleichgültig ist. Ist er aber nicht gleichgültig, so hat er bereits gewählt.

Im Paradies war der Mensch frei. Doch damals stand er im Genuss von dem, was gut war. Und wie gebrauchte er seinen Willen? Er übertrat das Gebot Gottes und wurde ein Sünder. Sobald er seine Abhängigkeit von Gott preisgab, wurde er ein Knecht der Sünde. Er hat zwar einen Willen und auch Begierden, aber diese leiten ihn zu allem, was böse ist. Am Guten hat er kein Gefallen. Gott hat ihn in jeder nur erdenklichen Weise auf die Probe gestellt und ihm die Wahl überlassen. Jedoch keineswegs, weil er wählen kann, sondern um sein Gewissen von der Tatsache zu überzeugen, dass er in keinem einzigen Fall am Guten oder an Gott Wohlgefallen hat. Es ist in der deutlichsten Weise erwiesen, dass der Mensch ein Feind Gottes ist.