«Mein Sohn, achte nicht gering des Herrn Züchtigung, noch ermatte, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er geisselt aber jeden Sohn, den er aufnimmt. Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung: Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?
Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, deren alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne. Zudem hatten wir auch unsere Väter nach dem Fleisch als Züchtiger und scheuten sie; sollen wir uns nicht viel mehr dem Vater der Geister unterwerfen und leben? Denn jene zwar züchtigten uns für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, er aber zum Nutzen, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden.
Alle Züchtigung aber scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; danach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt worden sind» (Heb 12,5-11).
Der Gedanke an Zucht ist auf den ersten Blick kein angenehmer Gedanke. Kein Kind hat es gern, wenn der Vater es züchtigen muss. Dennoch ist es erforderlich, damit das Kind nicht in die Irre geht, sondern den guten Weg findet. Im Leben eines Kindes Gottes ist das nicht anders. Züchtigung scheint im Moment nichts mit Freude zu tun zu haben. Dennoch ist sie notwendig.
In der Bibel wird das Thema «Zucht» oder «Züchtigung» an verschiedenen Stellen behandelt. Es umfasst unterschiedliche Bereiche, wie etwa die väterliche Zucht Gottes mit seinen Kindern, die Zucht in der Familie (Eltern/Kinder), die brüderliche Zucht auf persönlicher und geschwisterlicher Ebene und natürlich auch die Zucht innerhalb des Hauses Gottes bis hin zum Ausschluss aus der Gemeinschaft am Tisch des Herrn.
Im Folgenden geht es nicht darum, diese unterschiedlichen Formen der Zucht vorzustellen. Wir wollen auch nicht den Text aus Hebräer 12 Vers für Vers auslegen, sondern einige Grundsätze aufzeigen, die im Wesentlichen immer Gültigkeit haben, wenn wir von Zucht sprechen. In Hebräer 12 geht es vordergründig um die väterliche Zucht Gottes, d.h. um die Frage, wie Er mit uns als seinen Kindern handelt. Der Abschnitt beschränkt sich jedoch nicht darauf. Er zeigt darüber hinaus einige Prinzipien, die wir auch auf andere Formen der Zucht, z.B. die familiäre oder brüderliche Zucht übertragen können.
Die Bedeutung der Zucht
Das griechische Wort für «Zucht» (paideia) ist vom Wort «Kind» abgeleitet. Als Substantiv kommt es im Neuen Testament nur an drei Stellen vor, das abgeleitete Verb jedoch öfter.
In Epheser 6,4 geht es um die Erziehung der Kinder. Dort wird das Wort mit «Zucht» übersetzt. In 2. Timotheus 3,16 spricht Paulus über die Wirkung des Wortes Gottes. Dort wird das gleiche Wort mit «Unterweisung» wiedergegeben. In unserem Abschnitt ist die Rede von «Züchtigung».
Ursprünglich wurde das Wort gebraucht, um damit die Erziehung eines Kindes zu beschreiben. Zucht bedeutet also im allgemeinen Sinn «erziehen», «unterweisen». Zucht ist nicht einfach «strafen», sondern weit mehr. Das «Strafen» gehört sicher dazu. Doch ein Kind zu erziehen und zu unterweisen ist weitaus mehr, als es nur zu strafen. Bei der Zucht, auch wenn dabei auch einmal gestraft werden muss, geht es nicht darum, dass jemand über einen anderen herrscht. Ein Vater sollte nicht über seine Kinder herrschen, sondern sie erziehen. So herrscht auch kein Bruder über seinen Bruder, wenn er versucht, ihn zu unterweisen und ihm zu helfen, wenn er abgewichen ist. Ebenso herrscht eine örtliche Versammlung nicht über die Geschwister (sie darf es jedenfalls nicht), wenn sie Zucht ausübt. Bei der Zucht geht es um das Ausüben von Autorität; das hat aber nichts mit Herrschsucht zu tun.
Die Notwendigkeit der Zucht
Zucht ist für uns alle notwendig, solange wir noch auf der Erde sind. Kein Kind Gottes ist – was den praktischen Weg auf dieser Erde betrifft – vollkommen. Wir alle straucheln oft (Jak 3,2). Bei uns allen kommt es vor, dass wir von einem Fehltritt übereilt werden (Gal 6,1). Wir alle fallen leider in Sünde oder können sogar darin leben. Deshalb brauchen wir Zucht. Gott selbst züchtigt uns, aber Er benutzt auch andere, um diesen Dienst an uns zu tun. Solange die Gefahr des Abweichens vom richtigen Weg (persönlich und gemeinschaftlich) und des Irrens besteht, hat Zucht ihren Platz.
Formen der Zucht
Wir können unterschiedliche Formen der Zucht unterscheiden. Es gibt erstens die vorbeugende Zucht, die Hilfestellung, die uns davor bewahren will, überhaupt vom Weg abzuweichen. Wir sind unserem Herrn für diese vorbeugende Erziehung von Herzen dankbar, denn sonst würden wir viel öfter fallen.
Es gibt zweitens die wiederherstellende Zucht, wenn wir vom Weg abgewichen sind. Es ist unserem Herrn nicht gleichgültig, wenn das geschieht, und Er versucht, uns wieder zurechtzubringen.
Drittens gibt es auch die reinigende Zucht, wenn z.B. eine Versammlung durch offenbar gewordene Sünde in ihrer Mitte verunreinigt wurde. Dann muss sich die Versammlung reinigen, und das geschieht, indem sie Zucht ausübt und das Böse aus ihrer Mitte entfernt.
Ziel der Zucht
Gehen wir zunächst zum Alten Testament. Zwei Stellen aus dem Buch der Sprüche – das im Übrigen sehr viel von Zucht spricht – machen uns das Ziel der Zucht deutlich:
- «Die Zurechtweisungen der Zucht sind der Weg des Lebens» (Spr 6,23).
- «Es ist der Pfad zum Leben, wenn einer Unterweisung beachtet; wer aber Zucht unbeachtet lässt, geht irre» (Spr 10,17).
Hier wird deutlich, dass sich Zucht nicht auf Strafe beschränkt. Sie hat immer ein Ziel. Negativ ausgedrückt sollen wir nicht in die Irre gehen. Positiv ausgedrückt sollen wir praktisch den Weg des Lebens finden. Unser Leben soll in glücklicher Gemeinschaft mit dem Herrn verlaufen. Damit dies auch so ist, wendet der Herr Zucht an.
Der Text aus Hebräer 12 spricht auch vom Ziel der Zucht. Sie ist zum Nutzen dessen, an dem sie ausgeübt wird. Das Ziel lautet: «Damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden.» Gott möchte, dass wir in praktischer Übereinstimmung mit Ihm sind. Wie Er heilig ist, sollen auch wir in unserer ganzen Lebensführung heilig sein. Deshalb ist Zucht erforderlich. Das sollten wir nie vergessen.
Erziehung und Beziehung
Gott erzieht uns als seine Söhne. Sohnschaft setzt eine Beziehung voraus. Die Menschen dieser Welt, die Ungläubigen, werden in diesem Sinn nicht von Gott erzogen. Titus 2 lehrt uns, dass die Gnade Gottes sich zwar allen Menschen erweist, dass sie aber nur die Glaubenden unterweist (Tit 2,11.12). Wohl gibt es eine Regierung Gottes mit dieser Welt, aber Erziehung und Unterweisung im eigentlichen Sinn ist für Söhne.
Auf die familiäre Zucht übertragen ist das unmittelbar klar. Ein Vater erzieht sein eigenes Kind, nicht das der Nachbarn. Aber wir können dies auch auf die brüderliche Zucht unter Geschwistern übertragen. Gegenseitige Hilfestellung basiert darauf, dass bereits eine Beziehung zueinander existiert. Wir sind Brüder und Schwestern, und als solche haben wir Verantwortung füreinander und achten aufeinander. Selbst im Fall der Zucht im Haus Gottes wird in 1. Korinther 5 ein klarer Unterschied zwischen den Sündern dieser Welt und einer Person, die Bruder genannt wird, gemacht. Erziehung und Zucht haben es immer mit einem Bruder oder einer Schwester zu tun, nicht mit der Welt. Wir sind der Welt wohl ein Zeugnis, es ist aber nicht unsere Aufgabe, sie zu erziehen.
Durch Liebe motivierte Zucht
Das Motiv für die Ausübung der Zucht sollte, ja, kann nur die Liebe sein. Bei Gott ist das vollkommen der Fall. Natürlich steht sie mit der Heiligkeit Gottes im Zusammenhang. Wir sollen ja seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Gott ist Licht. Deshalb muss Er uns erziehen.
Dennoch ist es vollkommen wahr – und das wollen wir hier unterstreichen –, dass Zucht nur dann ihr Ziel erreicht, wenn sie aus einem liebenden Herzen kommt. «Wen der Herr liebt, den züchtigt er.» Wenn ein irdischer Vater sein Kind züchtigt, dann sollte das Motiv kein anderes als die Liebe sein. Wenn das Kind merkt, wie schwer es dem Vater fällt, es zu strafen, wird das Ziel der Zuchtmassnahme eher erreicht, als wenn der Vater es ohne Empfindungen der Liebe tut. So ist es auch in der brüderlichen Zucht. Wenn wir einander eine Hilfe sein wollen, dann muss das Motiv die Liebe sein. Das Beispiel der Fusswaschung in Johannes 13 – auch eine Form der Zucht – wird gerade mit dem Gedanken der Liebe eingeleitet.
Liebe macht nie tolerant oder grosszügig der Sünde gegenüber. Im Gegenteil! Die Liebe sucht den Bruder zu gewinnen. In 1. Petrus 4,8 heisst es: «Habt untereinander eine inbrünstige Liebe, denn die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden.» Dieser Vers wird manchmal missverstanden. Die Liebe sagt nicht: «Das war nicht so schlimm», oder: «Schwamm darüber.» Die Liebe lässt nicht fünf gerade sein und drückt auch kein Auge zu. Liebe tut nicht, wie wenn Sünde nicht geschehen wäre, aber sie redet nicht unnötig darüber. Das ist die Bedeutung von: «Die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden.» Welch ein Segen, wenn wir als Geschwister so miteinander umgehen!
Die Ausdrucksform der Liebe ist nicht immer gleich. Liebe bedeutet nicht, dass wir immer «nett» und «freundlich» miteinander umgehen. Sie kann sich manchmal auch anders ausdrücken, aber immer mit dem Ziel, dem Bruder zu helfen, ihn zu gewinnen. Ein Beispiel gibt uns Joseph. Er liebte seine Brüder und wünschte ihre Wiederherstellung. Dennoch heisst es, dass er sich zunächst fremd gegen sie stellte und hart mit ihnen redete (1. Mo 42,7). War das Liebe? Wir zweifeln nicht daran.
Drei Gefahren
In den möglichen Reaktionen auf Zucht gibt es drei Gefahren, vor denen wir uns hüten müssen.
- Wir können die Zucht gering achten und leichtfertig darüber hinweggehen. Dann wird die Zucht niemals ihr Ziel erreichen. Wenn Gott in seinen Erziehungswegen mit uns handelt, dann sollen wir das ernst nehmen und uns im Gebet vor Ihm die Frage stellen, was Er uns zu sagen hat. Gleiches gilt im geschwisterlichen Bemühen umeinander.
- Es gibt auch das Gegenteil. Wir ermatten unter der Zucht und werden mutlos. Das ist aber nicht das Ziel der Erziehung Gottes. Sie soll nicht entmutigen und zerstören, sondern ihr Ziel erreichen. Auch das wollen wir im Auge behalten und uns vom Feind, der uns Gott als einen harten, lieblosen Vater vorstellen will, nicht betören lassen.
- Es besteht die Gefahr, dass wir uns gegen die Erziehung auflehnen. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn wir die Zucht unangemessen finden und uns dagegen wehren. So wie es einem irdischen Vater weh tut, wenn sein Kind sich gegen seine Erziehung auflehnt, so schmerzt es Gott, wenn Er ein solches Verhalten bei uns sieht. Die Zucht des himmlischen Vaters ist immer angemessen. Brüderliche oder familiäre Zucht hingegen kann tatsächlich unangemessen sein. Dennoch sollten wir sie zunächst als von Gott kommend annehmen und uns nicht gleich dagegen wehren.
Traurigkeit und Freude
Das ist auf den ersten Blick ein krasser Gegensatz. Zucht scheint für die Gegenwart Traurigkeit statt Freude auszulösen. Niemand erwarte, wenn er einem anderen brüderlich helfen will oder wenn Zucht in der Versammlung ausgeübt werden muss, dass der Bruder oder die Schwester sich darüber freut. Das wäre unnatürlich. Im Gegenteil. Zucht macht oft sehr traurig.
Das gilt auch für die Zucht Gottes. Sie scheint uns ein Grund zur Traurigkeit. Dennoch sollten wir nicht auf den Augenblick und die Gegenwart sehen. Es gibt ein «Danach». «Danach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt worden sind.» Zucht setzt einen Prozess der geistlichen Übung in uns in Gang. Gott möchte etwas bei uns erreichen. Danach aber geniessen wir die friedsame Frucht der Gerechtigkeit. Wenn das so ist, hat die Zucht ihr Ziel erreicht.