Zu seinen Füssen (2)

Johannes 11,1-45

2. Als Trauernde

In Johannes 11 finden wir Maria in Trauer zu den Füssen des Herrn Jesus. Der heitere, wie auch der dunkle Tag ihrer Geschichte offenbaren, dass sie ihre Hilfsquellen in Christus hatte. Die Krankheit und der Tod ihres geliebten Bruders Lazarus, den auch der Herr liebte, waren eingetreten. Die Trostlosigkeit und Mühsal dieser Wüste wurden spürbar.

Erinnert uns dies nicht an die Erfahrungen Israels? Das Volk war erst drei Tage durch die Wüste gewandert und schon litt alles grossen Durst. Sie fanden nur bitteres Wasser und Israel musste erfahren, was für ein Ort die Wüste ist. Aber das Holz, das in das Wasser geworfen wurde, um es süss zu machen, offenbarte ihnen das Interesse und die Fürsorge Gottes für sie. Wenn sie es nur gemerkt hätten! (2. Mo 15).

Maria verhielt sich anders in der Prüfung. Ein «Mara» vermochte ihre Ruhe nicht zu stören. «Martha nun, als sie hörte, dass Jesus komme, ging ihm entgegen. Maria aber sass im Haus.» Sie, die sich zu seinen Füssen niedergesetzt und sein Wort gehört hatte, setzt sich ohne sein Wort nicht in Bewegung. Doch sobald die Botschaft eintrifft: «Der Lehrer ist da und ruft dich», erhebt sie sich: «Als aber diese es hörte, stand sie schnell auf und ging zu ihm.» Sie wartete auf sein Wort, seinen Ruf, selbst in ihrem tiefen Kummer. Und sobald sein Wort eintraf, ist sie ebenso prompt, um zu Ihm zu eilen, wie sie vorher zögerte, sich aufzumachen.

Aber das ist nicht alles. Sobald Maria dahin kam, wo Jesus war, fiel sie Ihm zu Füssen – ein Platz, den sie gut kannte – und bekannte einfach die Herrlichkeit seiner Person: «Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben.»

Beachte jetzt bei Martha den Gegensatz dem allem gegenüber. In der Erregung, in die sie versetzt wurde, als sie hörte, dass Jesus gekommen sei, ging sie Ihm entgegen. Ihr Herz war vor allem mit der Erleichterung beschäftigt, die sie sich von Ihm erhoffte. «Ich weiss, dass, was irgend du von Gott bitten magst, Gott dir geben wird.»

Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem die unabhängige Unruhe unserer Herzen mehr zutage tritt, als am Tag des Schmerzes, an dem uns jemand durch den Tod entrissen wird. Erleichterung bekommen, das ist der vorherrschende Gedanke, der unser bewegtes Herz am Tag der Trauer erfüllt. Martha ist ein Beispiel dafür.

Bei Maria ist es nicht so. Sie findet ihre Erleichterung, ihren Trost und ihre Hilfsquelle bei dem, zu dessen Füssen sie sich niederwirft. Und der, welcher zu ihr geredet hat und mit ihr gewesen ist, Er selbst erfüllt nun am Tag ihres Schmerzes und Kummers die Leere, die durch das Abscheiden ihres Bruders entstanden ist.

Niemand denke oder sage, das sei Gefühllosigkeit. Über dem zu stehen, was unsere Herzen bedrückt, heisst nicht dafür unempfindlich zu sein. Aber die Trübsal wie grosse Wogen über sich dahinfluten spüren, ist etwas anderes, als in Christus den zu finden, der die Seele am dunkelsten Tag unterstützt und emporhebt. Ich bin überzeugt, Gott will, dass wir den Schmerz empfinden, und es ist sicher, dass die Wertschätzung dessen, was uns Christus in solchen Augenblicken bedeutet, keineswegs unverträglich ist mit einer tiefen Empfindung dafür, was wir verloren haben.

«Vor vielen Jahren ist mir eine Wunde geschlagen worden, die seither nicht aufgehört hat zu bluten. Dem Herrn sei Dank für diesen Schlag! Auf ewig wird diese Trübsal von seiner Liebe zu mir zeugen!» Das ist die Sprache eines Gläubigen, der gelernt hat, was es heisst einsam zu bleiben, aber durch Christus über die Prüfung gestellt zu werden. Die Wunde kann immer frisch sein, aber das Herz findet seine Hilfsquelle in dem, der einst gestorben ist, jetzt aber allezeit lebt.

Ich habe erwähnt, dass Erleichterung der erste Gedanke Marthas war. Sie sagte: «Ich weiss, dass, was irgend du von Gott bitten magst, Gott dir geben wird.» Worauf zielt das? Es war der Schrei eines Herzens, das erleichtert zu werden sucht. Ist das falsch? Gibt Gott niemals Erleichterung?

Erlaube mir die Bemerkung, dass du nur in der Erkenntnis der Hilfsquelle wirklichen Segen finden wirst, bevor die dem Herzen Christi wohlgefällige Erleichterung kommt, die Er uns selbst verschafft durch seinen Dienst. Unsere Hilfsquelle ist Er selbst. Das ist hier in Johannes 11 der grosse Unterschied zwischen Maria und Martha: die erste suchte ihre Hilfsquelle in Ihm, als der Tod ihr Herz und Heim leer machte; die letztere blickte auf Ihn als dem Diener des Bedürfnisses, das sie hatte. Er wollte aber Martha höher führen, indem Er sich vor ihr Herz stellte als die Auferstehung und das Leben. Doch sie vermochte nicht zu folgen. Bestimmt aus diesem Grund «ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich und sagte: Der Lehrer ist da und ruft dich.» Ihr Gewissen sagte ihr, dass sie Christus nicht verstehen konnte, dass aber Maria dazu imstande wäre. Der Herr war für Martha zu hoch.

In einem gewissen Sinn überstieg Er das Fassungsvermögen von beiden. Denn jede redete vom Tod, während doch das Leben sein grosser Gegenstand war. Er hatte das Leben in sich selbst und vor sich. Und, wie ein anderer es ausgedrückt hat: «Die leere Gruft offenbarte und verkündigte es; der Auferstandene aber teilte das Leben mit (Joh 20)».

Wie kostbar ist es zu sehen, wie der Herr Jesus die Wahrheit über sich selbst in diesem feierlichen Augenblick für jede der beiden Schwestern als Hilfsmittel gebraucht. Maria aber sagte Er kein Wort von seiner Absicht, Lazarus aufzuerwecken, obwohl Er gerade jetzt im Begriff war, es zu tun. Warum nicht? Weil Er selbst ihre Quelle war und die Leere ihres Herzens ausfüllte, schon bevor ihr Schmerz gelindert wurde.

Gebe der Herr einem jeden von uns, besser zu erkennen und zu schätzen, was Er für uns ist, während wir durch das «Tränental» und das «Tal des Todesschattens» gehen.