2. Das persönliche Gebet für andere
Die Zwölf sagten zu der Menge der Jünger: «Wir aber werden im Gebet und im Dienst des Wortes verharren» (Apg 6,4). Es ist bemerkenswert, wie diese beiden Dinge hier zusammengefügt sind, ähnlich wie im Lukas-Evangelium, am Schluss des zehnten Kapitels und am Anfang des elften Kapitels. Je besser ich mit den Absichten Gottes mit seinem Volk vertraut bin, je besser ich weiss, was das Herz Christi im Blick auf die Seinen bewegt, desto mehr werde ich mich auch an Ihn wenden, damit Er ihre Herzen öffne, um das aufzunehmen, was Er mitgeteilt hat. In dieser Weise also sehen wir die Apostel für die Heiligen beten. Auch Paulus verbindet in seinen Gebeten diese beiden Dinge, besonders im Brief an die Epheser, d.h. er betet für sie, damit sie die Wahrheit erfassen möchten, die er ihnen mitteilt. Wenn auch niemand von uns den hohen Stand des Apostels erreichen kann, so können wir doch aus seinen Gebeten eine Lehre ziehen.
Wir werden aufgefordert, für alle Heiligen im Gebet einzustehen und Fürbitte zu tun, und gewiss gibt es für jeden, den wir kennen, einen besonderen Anlass dazu. Welch ein Vorrecht, einen Bruder dem anbefehlen zu dürfen, der ihn besser kennt und ihn unendlich mehr liebt als wir. in dieser Weise für andere zu beten, ist auch für uns selbst ein grosser Gewinn. Denn wer sich nahe beim Herrn aufhält, nimmt teil an dem, das Ihn interessiert und beschäftigt. Und diese Bäche seiner Liebe, die durch unser Herz zu den Seinen fliessen, erfrischen es und erzeugen darin eine Vielfalt göttlicher Gefühle, die es zu einem befruchteten Boden machen, der immer produktiver wird. So sollte jeder von uns von Herzen mit Samuel sagen können: «Auch ich – fern sei es von mir, gegen den HERRN zu sündigen und aufzuhören, für euch zu bitten» (1. Sam 12,23). Jeder weiss, wie ganz anders er handeln wird gegenüber einem Gläubigen, für den er betet, als gegenüber einem anderen, für den er dieses Interesse nicht aufbringt.
Das Gebet ist der Ausdruck unserer Abhängigkeit von Gott und unseres Vertrauens in Ihn. Es geschieht im Bewusstsein der eigenen Kraftlosigkeit, wie auch in der Gewissheit, dass Gott antwortet und hilft. Wenn schon die strahlenden Tage der Vergangenheit, an denen Gott seine Macht zugunsten seines Volkes ungehindert entfaltete, durch Gebet gekennzeichnet waren, wie viel mehr sollte dies in den Tagen unserer Schwachheit der Fall sein!
Es gibt zwei besondere Fälle, worüber ich ein Wort sagen möchte: Die Kranken und die Sünder.
In Bezug auf einen Kranken kann ich gegebenenfalls den Glauben haben, dass er wiederhergestellt wird, aber das «Gebet des Glaubens» in diesem Zusammenhang ist den Ältesten vorbehalten. Ich denke, dass dieser Titel den Charakter derer bezeichnet, die aufgrund ihrer Urteilsfähigkeit und ihrer Erfahrung fähig sind, diesen kostbaren Dienst zu tun (Jak 5,14.15). Er setzt grosse Einsicht in die Absichten Gottes und in den sittlichen Zustand des Kranken voraus. Um mit Glaubensgewissheit um die Genesung eines Kranken bitten zu können, müssten diese Brüder wissen,
- dass dieser den Lauf noch nicht vollendet hat
- dass die Schule der Leiden und Übungen, in die Gott den Kranken um seiner selbst oder um der Angehörigen willen gebracht hat, zu Ende ist, und
- dass der sittliche Zustand des Kranken ein solches Gebet nicht verhindert
Das führt uns zum zweiten Fall, zu dem des Sünders. Wir lesen in 1. Johannes 5,16: «Wenn jemand seinen Bruder sündigen sieht, eine Sünde nicht zum Tod, so wird er bitten, und er wird ihm das Leben geben, denen, die nicht zum Tod sündigen. Es gibt Sünde zum Tod; nicht für diese sage ich, dass er bitten solle.» Hier wird uns gesagt, dass wir zwischen begangenen Sünden unterscheiden sollen. Die eine ist «nicht zum Tod» und hindert uns nicht, für den Bruder zu bitten. Aber es gibt «Sünde zum Tod», die eine solche Fürbitte verunmöglicht. Ich denke, dass es sich bei einer solchen Sünde um eine gewollte und eingewurzelte Gebundenheit an das Böse handelt. Ich weiss nichts, was auf dem Weg der Gnade für den Geist schmerzlicher ist, ob das Gebet für einen anmassenden Ungläubigen oder das Gebet für jemand, der seine Schuldhaftigkeit zugibt, aber nicht unter ihr zusammenbricht. Aber auch hier, wie in jedem anderen Fall, werden wir den Gedanken des Herrn im Blick auf eine solche Person umso besser erkennen, je näher wir uns beim Herrn aufhalten.
Aber es gibt eine besondere Ermunterung, für solche zu bitten, die gut wandeln, gemäss dem Wort: «Betet für uns; denn wir sind überzeugt, dass wir ein gutes Gewissen haben, da wir in allem ehrbar zu wandeln begehren» (Heb 13,18).
3. Das öffentliche Gebet
Jeder Bruder hat die Freiheit, öffentlich zu beten. Man kann dies aus der folgenden Stelle entnehmen: «Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort beten, indem sie heilige Hände aufheben, ohne Zorn und zweifelnde Überlegung» (1. Tim 2,8). Ich glaube auch, dass der Mann, der seine Flügel zuerst im Gebet in der Öffentlichkeit gebrauchen lernte, am besten geeignet ist, das Wort Gottes anderen vorzustellen, sei es durch die Wortverkündigung oder durch persönliche Unterweisung. Sein öffentlicher Dienst hat in den Gebetsversammlungen begonnen. Ich bin zurückhaltend gegenüber dem Mann, der predigen will, aber seine Stimme noch nie im Gebet hören liess. Der Eifrigste in den Gebetsversammlungen wird auch der Gesegnetste sein in der Erweckung von Seelen.
In der Gebetsversammlung wenden wir uns zu Gott, in der Erwartung, dass Er uns zu seiner Ehre in unserem Tun leite und dass unsere Aufmerksamkeit völlig auf die Interessen Christi gerichtet werde. Da beschäftigen wir uns vor Ihm mit dem Zustand der Seelen in jedem Umstand, im Schmerz, in der Krankheit oder auch in der Sünde. Da legt sich auch das tiefe Gefühl der Verantwortlichkeit auf unsere Herzen, die Wahrheit des Evangeliums auszubreiten und bekannt zu machen, nicht nur einen Teil davon, sondern die ganze Wahrheit, das Geheimnis des Evangeliums. Machen wir mit ganzem Herzen bei der Gebetsversammlung mit, so wird das innige Flehen zu Gott emporsteigen, dass die Seelen gesegnet werden und dass das Wohlgefallen seines Willens erkannt und von den Heiligen befolgt werden möchte. So wird von Epaphras gesagt: «Der allezeit für euch ringt in den Gebeten, damit ihr vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes steht» (Kol 4,12).
Ich kann in der Versammlung nicht über die Erkenntnis hinaus beten, die ich besitze, aber es wäre ein ernster Irrtum zu denken, dass andere nichts beten sollten, was über das Mass meiner Erkenntnis hinausgeht. Ich kann verstehen, dass sich der Hirte vor allem darauf beschränkt, in seinem Gebet den Zustand der Seelen, um die er sich müht, darzustellen, dass der Lehrer von den Gegenständen redet, die ihm für die Gläubigen am meisten am Herzen liegen, und dass der Evangelist besonders für die Bekehrung der Seelen betet. Jeder tut gut daran; dies ist ihr eigentlicher Dienst. Aber wenn der eine von ihnen sagen würde, dass das, wofür er sich interessiert, und was ihm am Herzen liegt, alles umschliesse, so hiesse das, den Geist auslöschen. Im Gegenteil, der Diener, der in der Aufgabe, die ihm gegeben ist, treu ist, freut sich tief, wenn er sieht, wie auch jede andere Arbeit gelingt, weil es das Werk des Herrn ist; und er wünscht, die Absichten des Herrn immer besser zu erkennen.
Die Gebetsversammlung wird immer gut sein, wenn die Seelen dazu gebracht werden, sozusagen wie Mose auf dem Berg Pisga, das Feld der Absichten Gottes zu sehen, um «völlig zu erfassen … mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt sein mögt zu der ganzen Fülle Gottes». Dann wird der Gebetskampf für die Heiligen intensiver, und es wird dann darum gerungen, dass sie das Geheimnis Gottes erkennen möchten gemäss der Ermahnung des Apostels: Und betet für mich «damit mir Rede verliehen werde im Auftun meines Mundes, um mit Freimütigkeit kundzutun das Geheimnis des Evangeliums» (Eph 3,18 und 6,19).
Der Herr möge es schenken.