Das Gebet (1)

Das persönliche Gebet für sich selbst

Im Gebet begegnen sich vor allem zwei Elemente: meine Bedürfnisse – und Gottes Gnade und Macht, die ihnen entsprechen können. Noch viele andere Vorteile sind mit dem Gebet verknüpft, doch werden diese beiden Dinge niemals darin fehlen.

Die Worte: «Siehe, er betet», waren daher ein Beweis, dass Saulus von Tarsus wirklich bekehrt war. Sein Gebet zeugte vom Gegenteil seines früheren Selbstvertrauens, das der Mensch seit dem Fall in sich herumträgt; es war die Sprache der Bekehrung. Das Vertrauen in Gott war erwacht, und Saulus hatte jetzt ein Bewusstsein, dass Er voller Güte ist und seine Liebe gegen uns sich darin erwiesen hat, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist. Der Anblick Jesu auf dem Kreuz liess auch im Herzen des Schächers das Vertrauen wach werden, und er wandte sich an Ihn mit der Bitte: «Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst.» Ist in meiner Seele das Vertrauen gegen Gott erwacht und gleichzeitig auch das Gefühl meiner Unfähigkeit, den Schwierigkeiten zu begegnen, so wende ich mich im Gebet zu Gott.

Auf ein solches Gebet hin gewährt Er mir nicht nur Hilfe in der Sache, die mich beschäftigt. Er gibt mir noch mehr. Durch mein Nahen zu Ihm erleuchtet Er mich auch. Der Gewinn, den ich im Gebet finde, ist grösser als der Anlass, der mich zum Beten trieb. Der verlorene Sohn erwartete viel weniger, als was die Gnade ihm gab; erst als er dem Vater nahte, lernte er sie kennen. So hat auch der Schächer eine viel weniger grosse Segnung erbeten, als die er tatsächlich empfing. Der Betende kommt zu dem, der alles zu geben hat. Der Abstand zwischen Gott und mir, seine in jeder Beziehung erhabene Grösse, ist unermesslich; daher wird mir das Nahen zu Ihm an sich schon Segnungen bringen, die ich nicht erwartete. Seine Gnade sagt: «Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen» (Jak 4,8) und: «Was hast du, dass du nicht empfangen hast?» (1. Kor 4,7). So bringt uns also das Nahen zu Ihm den grössten Gewinn darin, dass wir erkennen, wie Er ist.

Wir können das Gebet unter drei Gesichtspunkten betrachten:

  1. das persönliche, private Gebet für sich selbst
  2. das persönliche Gebet für andere oder für das Werk des Herrn
  3. das Gebet in der Versammlung

1. Das persönliche Gebet für sich selbst

Je grösser unser Vertrauen in Gott ist, desto mehr werden wir Ihm alle unsere Anliegen in jeder Einzelheit darlegen. Je mehr ich meine Unfähigkeit empfinde, irgendetwas zu tun, je mehr ich auch überzeugt bin, dass Gott für mich besorgt ist, desto mehr werde ich Ihm alle Dinge voll Vertrauen vorlegen. Habe ich dies wirklich getan, wird das Ergebnis, das daraus hervorgeht, deutlich spürbar sein. Je mehr ich meine Unfähigkeit fühle, werden mich die Umstände bedrücken; aber wenn ich alle meine Anliegen vor Gott bringe, wird «der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt», mein Herz und meinen Sinn in Christus Jesus bewahren. So besteht also ein grosser Gewinn darin, Gott zu nahen und Ihn in bewusster Weise zum Mitwisser meiner Sorgen zu machen, gemäss der Aufforderung: «Werft alle eure Sorge auf ihn; denn er ist besorgt für euch.» Weil wir in unserer Unfähigkeit in unserem Herzen das Bewusstsein haben, dass Er für uns besorgt ist, freuen wir uns über den Zugang zu Ihm, den Er uns gewährt.

Jeder Flecken auf meinem Gewissen, jedes Mich-Stützen auf eigene Kraft hindern mich, bei Gott Befreiung von der Last meiner Nöte und Schwierigkeiten zu suchen. Habe ich mich verunreinigt, werde ich zögern, Ihm zu nahen, und in dem Mass, wie ich auf meine eigene Kraft vertraue, werde ich mich weniger auf Ihn stützen.

Doch erinnert uns der 107. Psalm daran, dass der Schrei dessen, der sich in Not befindet oder ein tiefes Bedürfnis hat, gehört wird, wenn es dem Gläubigen auch scheinen mag, als ob der Herr weit von ihm entfernt sei. Manch ein Kind Gottes, das seinem eigenen Willen gefolgt und für den Augenblick vom Weg Gottes abgekommen ist, hat dennoch Hilfe bei Ihm gefunden, wenn es gebetet hat. Die Dinge wurden ihm gegeben, weil es darum gebeten hat, und damit es ermuntert werde, um mehr zu bitten.

Aber der Gläubige, der die Gemeinschaft mit Gott nicht verwirklicht, obwohl er oft erhört und ihm viel geholfen worden ist, tritt Gott nicht nahe genug, als dass er in seinem Herzen den Frieden Gottes hätte, der allen Verstand übersteigt und das Herz und den Sinn in Christus Jesus bewahrt. Wenn mich irgendetwas hindert, vertrauten Umgang mit Gott zu haben, kann ich mich Ihm nicht so nahen, dass ich eins bin mit Ihm in Bezug auf meinen Zustand, und als Folge davon seinen Frieden im Herzen habe.

Im persönlichen Gebet steht uns auch der Heilige Geist bei, der sich unserer Schwachheit annimmt. «Denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen, wie es sich gebührt, aber der Geist selbst verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern.» In meinem verborgenen Gebet habe ich die Zusicherung, dass der Geist Gottes, der in mir wohnt, sich so für mich interessiert, dass Er sich mit Inbrunst für mich verwendet. Und Gott, der mein Herz ergründet, stellt nicht so sehr nach meinen Worten, sondern nach der Fürbitte des Geistes fest, was ich wirklich nötig habe.

Ist es nicht wunderbar, dass ich jetzt durch die Gnade in solchen Beziehungen zu dem seligen Gott stehe, dass ich frei mit Ihm reden kann? Gott redet zu mir, und ich wende mich im Gebet zu Ihm. Wenn wir im Geist sind, lernen wir, was der Geist für uns bittet, und dann – so denke ich – erlangen wir die Erkenntnis des Willens Gottes bezüglich unserer Anliegen. Dann auch haben wir den Glauben, um etwas Bestimmtes zu bitten, den wir für etwas anderes nicht hätten. Das wird, wenn ich es so sagen darf, durch die Urim und die Tummim vorgebildet. Ich komme zum Herrn mit allen Anliegen und in jedem Fall empfange ich den Frieden Gottes. Darüber hinaus aber kann ich von einer bestimmten Sache wissen, dass sie nach seinem Willen ist. «wenn wir etwas nach seinem Willen bitten, er uns hört. Und wenn wir wissen, dass er uns hört, um was irgend wir bitten, so wissen wir, dass wir die Bitten haben, die wir von ihm erbeten haben» (1. Joh 5,14.15).

Wenn ich nicht zum Herrn gehe, so kann ich seine Gedanken über die betreffende Sache nicht wissen. Bleibe ich auf meinem eigenen Boden stehen, auf dem des Menschen, werde ich durch natürliche Gefühle beeinflusst. Erst wenn ich mich mit Gott in der Kammer einschliesse und frei bin von jeder äusseren Tätigkeit, empfange ich den Eindruck seiner Gedanken durch die Wirkung seiner vertrauten Nähe und meiner Vereinigung mit Ihm. Ich befinde mich dann am Fest der Weisheit; ich esse von seinem Brot und trinke von seinem Wein (Spr 9,1-5).

Ich bin im Heiligtum Gottes und werde da in der Gemeinschaft seiner Gedanken genährt. Alle eigene Weisheit verschwindet in der Gegenwart seiner Weisheit; ich werde von ihr beeinflusst und umgestaltet, so sehr, dass ich die Dinge nach seinem Wohlgefallen sehe. Wenn ich so besonders um eine Sache bete, so komme ich nicht nur zu Ihm, vertrauend seiner Liebe, sondern suche auch das, was Er über diese Sache denken mag. Ich habe es mit dem zu tun, der grösser ist als Salomo.

Man kann so mit Glauben bitten, im einfachen Vertrauen, dass Gott erhört, wie es die Apostel taten, als sie zu den Ihren zurückkehrten (Apg 4,23-31). Man kann in seinen Wünschen aber auch korrigiert werden, wie Paulus, nachdem er dreimal gefleht hatte, dass ihm der Dorn für das Fleisch weggenommen werde (2. Kor 12,8). Im ersten Fall waren sie hinsichtlich der Gedanken des Herrn ganz auf dem Laufenden. Im zweiten Fall aber war der Wille des Herrn nicht in Harmonie mit dem Wunsch des Apostels; aber sobald Paulus seinen Gedanken erkannte, war er ganz glücklich, und sein eigener Geist kam in völlige Übereinstimmung mit dem Gedanken des Herrn.

Wenn ich einfach auf den Herrn warte, werde ich so beeinflusst, dass ich mich schliesslich in Übereinstimmung mit seinen Gedanken befinde, sozusagen ohne es zu merken. Mose hatte auf dem Berg so gut gelernt, was Gott wohlgefiel, dass, als er geheissen wurde in die Mitte der Israeliten zurückzukehren, die in Götzendienst gefallen waren, er wusste, wie er für Gott handeln musste. So war es auch, als der beunruhigte Asaph in die Heiligtümer hineinging (Ps 73): Die Dinge erschienen ihm hier ganz anders, als da er noch draussen war.

Also nur, wenn wir uns viel im verborgenen, persönlichen Gebet in der Gegenwart Gottes aufhalten, lernen wir Ihn erkennen, und nur von da aus können wir – besonders öffentlich – auch für andere wirksame Fürbitte tun.