«Er sprach aber zu den Geladenen ein Gleichnis, da er bemerkte, wie sie die ersten Plätze wählten» (Lukas 14,7-11).
Die Natur liebt die ersten Plätze. Die Menschen dieser Welt, die in keiner Verbindung mit Gott stehen, suchen sich selbst zu erheben und Ihn beiseite zu lassen. Das eigene Ich begehrt für sich selbst zu erlangen, was ihm gefällt, und vergisst Gott dabei. Der Mensch trifft für sich selbst eigene Massnahmen und strebt vorwärts – aber gegen Gott. Er meint dies freilich nicht, sondern denkt, er gebrauche nur seine Fähigkeiten. Aber tut er dies etwa zu Gottes Ehre? Sucht er dabei nicht vielmehr sich selbst zu gefallen? Es tut ihm weh, wenn er in eine Ecke geschoben und verachtet wird. Das Fleisch liebt es nicht, zurückgesetzt zu werden. Aber dieses Suchen nach einem Platz in dieser Welt ist ein Suchen nach einem Ort, wo Christus keinen Raum hat. Er sagt daher: «Wenn du geladen bist, so geh hin und lege dich auf den letzten Platz.»
In den Versen 8-11 finden wir den Hauptpunkt dieses Gleichnisses, denn hier wird das Herz zu dem Herrn selbst hingewiesen, zu dem, «der dich geladen hat». Wenn ich weiss, welch ein Sünder ich bin und dass ich gar nichts verdiene, so werde ich gewiss keinen Platz für mich suchen, sondern warten, bis Gott mir einen gibt und dann werde ich in der Tat Ehre haben. Richte dein Auge auf Gott, überlass Ihm alles und suche nichts als den niedrigsten Platz, wie Christus es tat. Nur so – mit auf Gott gerichteten Augen – können wir uns selbst vergessen, und wir würden vollkommen sein, wenn wir überhaupt nicht an uns dächten. Bleibt aber das Auge an unserer eigenen Person haften, werden wir immer ein empfindsames Gefühl für irgendwelche Geringschätzung haben, mit der man uns begegnet, wobei weder Glaube noch Gnade bei uns in Tätigkeit sind.
Der, der die Gäste geladen hat, vermag sie auch am besten einzuschätzen und weiss, welche Ehre jedem gebührt. Die Plätze des Evangelisten, des Hirten, des Lehrers waren und sind auch jetzt noch alle von Gott bestimmt. Gibt Er einen Platz, dann ist die Kraft, die ein Aufenthalt in seiner Nähe gibt, damit verbunden. Wählt sich aber jemand selbst einen Platz, so werden sich Schwäche und Entfernung von Gott breitmachen, denn das eigene Ich bestimmt die Wahl.
Wir müssen uns aber hüten, bloss deshalb keinen Platz für uns selbst In der Welt zu suchen, weil wir wissen, dass es sich für die Nachfolger dessen, der verworfen worden ist, nicht schickt. Ein bloss geistlicher Begriff über recht oder unrecht kann niemals auf die Dauer den Wandel bestimmen. Die Erkenntnis dessen, was recht ist, gibt uns keine Ausdauer zu seiner Verwirklichung und keine Kraft, das Fleisch unterworfen zu halten. Das Gesetz gab das Gefühl der Verantwortlichkeit, aber es gab dem Herzen keinen Gegenstand, durch den es angezogen werden konnte; es brachte weder Gott zum Menschen, noch den Menschen zu Gott.
Wer aber erkannt hat, dass er nichts und dass Gott alles ist, der wird sich gern mit dem niedrigsten Platz zufriedengeben, denn Gott ist der Gegenstand seines Herzens und sein Ziel. Er selbst führt mich vorwärts, und wenn Herz und Zuneigungen auf Ihn gerichtet sind, so wird mich auch das, was zuerst schwer schien, beim Vorwärtsschreiten keine Anstrengung mehr kosten. Seine Liebe, die mich am Anfang anzog und mir Kraft gab, diese Stellung einzunehmen, erscheint mir umso herrlicher und grösser, je länger ich sie kenne, und was zuerst mit Zittern getan wurde, wird dem wachsenden Mut leicht. Nur wenn Christus vor meiner Seele ist, bin ich fähig, in dieser Weise voranzugehen, und nur so kann ich glücklich sein.
Wenn ich mir selbst wichtig bin, dann ärgere ich mich über tausend Dinge, die mich gar nicht berühren würden, wäre ich frei von mir selbst. Die Leidenschaften des Fleisches plagen uns nicht, wenn wir mit Gott wandeln; aber an wie vielem reiben wir uns, wenn wir von uns selbst erfüllt sind. Keine Wichtigkeit mehr in seinen eigenen Augen zu haben, das ist eine grosse Befreiung! Ja, nur so können wir vor Gott glücklich sein.
Christus erniedrigte sich selbst wegen der Sünde, die in der Welt war. Dann aber tat die Welt, was sie konnte, um Ihn noch mehr zu erniedrigen. Je tiefer Er hinabstieg, desto mehr suchten sie Ihn zu unterdrücken. In der Welt sorgt keiner für den andern, so dass, wenn jemand nicht für sich selbst sorgt, er sicher immer weiter hinuntergestossen wird.
Unsere Herzen sind trügerisch. Möglicherweise erniedrigen wir uns gern, wenn wir dabei etwas gewinnen, z.B. den Beifall der Menschen. Aber es handelt sich nicht nur darum, Christus im gewöhnlichen Sinn des Wortes nachzuahmen. Das wäre eine Anstrengung gesetzlicher Art. «Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war», lesen wir in Philipper 2. «Er machte sich selbst zu nichts», Er entäusserte sich seiner Herrlichkeit und verliess zugleich die Herrlichkeit seines Vaters, um ein Mensch zu werden. Welch ein Hinuntersteigen war dies (obschon wir so viel von uns Menschen halten)! Aber das war noch nicht alles. Nein, Er erniedrigte sich selbst bis zum Tod am Kreuz. Er verwirklichte den Grundsatz: «Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.»
Wirkliche Niedriggesinntheit heisst, bereit sein, jedermann und allen zu dienen. Obschon dies dem Auge des Menschen sehr gering erscheinen mag, so ist es in Wirklichkeit doch etwas sehr Hohes, denn es ist die Frucht der göttlichen Liebe, die in unseren Herzen wirkt, die Frucht der Arbeit Gottes selbst, die uns selbstlos macht. Dieser Dienst ist es, was in dieser Welt am meisten nötig ist, und etwas Höheres gibt es nicht, ausser die Gemeinschaft mit Gott selbst.
«Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.» Das will nicht heissen, gedemütigt werden, sondern sich selbst demütigen, und dies nicht etwa nur vor solchen, die uns deswegen nur umso mehr ehren würden. Paulus konnte von sich und andern sagen: «Wir sind eure Knechte um Jesu willen.» Er fühlte, dass er das Vorrecht hatte, in Gnade zu dienen, und in dem Grad, wie er diesen niedrigen Platz einnahm, wird er an dem kommenden Tag erhöht werden.