Unser Herr Jesus, der «grosse Hirte der Schafe», hat dafür gesorgt, dass es in seiner Versammlung von Anfang an Hirten gab, die für das Wohlergehen seiner Herde besorgt waren.
Unter den geistlichen Gaben, die Er zur Auferbauung seines Leibes gegeben hat (Eph 4,11), ist auch die der Hirten und Lehrer. Diese werden hier zusammengefasst, weil sie beide zur Vollendung der Heiligen dienen und oft durch denselben Diener ausgeübt werden. Ein solcher Bruder wird die Lehre des Wortes in einer Weise darstellen, dass er dabei auch an die Zustände der Herde denkt. Er wird auch im vertrauten, persönlichen Gespräch mit den Geschwistern die vorliegenden praktischen Bedürfnisse und Fragen im Zusammenhang mit der Lehre zu beantworten suchen.
Es handelt sich in dieser Schriftstelle des Epheserbriefes um Gaben, die dem Leib Christi gegeben und nicht nur für eine örtliche Versammlung oder ein Zeugnis bestimmt waren oder sind. Auch Hirten und Lehrer sollen daher, in Abhängigkeit vom Herrn, an manchen Orten dienen, so wie Er sie führt, Apollos zum Beispiel diente in verschiedenen Gegenden (1. Kor 16,12; Apg 18,24-28).
Da stellt sich nun die Frage: Genügt ein solcher Hirtendienst, der nur dann und wann im gleichen örtlichen Zeugnis ausgeübt wird, vielleicht nur während wenigen Tagen? Sollte eine solche Pflege nicht andauern? Der Apostel Paulus, dem ja unter anderen auch diese Gabe geschenkt war, sah, dass eine fortwährende Hirtenpflege notwendig war. So sagte er zu den Ältesten von Ephesus: «Denkt daran, dass ich drei Jahre lang Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeden mit Tränen zu ermahnen» (Apg 20,31). Er, der vom Herrn geleitet worden war, den Ephesern das Evangelium und herrliche Wahrheiten zu verkündigen, wusste wohl, dass es Zeit und viel Hilfe brauchte, bis der einzelne Gläubige das alles erfassen konnte und praktisch darin wandelte.
Als der Apostel von Ephesus schied, um nach Mazedonien zu reisen (Apg 20,1.17), da liess er in der dortigen Versammlung Älteste zurück. So hatten er und Barnabas früher schon in jeder Versammlung, die in Kleinasien entstanden war, Älteste gewählt (Apg 14,23). Diese hatten überall, wo sie eingesetzt waren, die wichtige Aufgabe, die in Apostelgeschichte 20,28 bezeichnet wird: «Habt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung Gottes zu hüten, die er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen» (siehe auch 1. Pet 5,14). Paulus sah voraus, dass nach seinem Abschied reissende Wölfe, falsche Lehrer und Männer auftreten würden, die verkehrte Dinge redeten, um die Jünger abzuziehen hinter sich her. Die Ältesten sollten darum darüber wachen, dass keiner von der Herde mitfortgerissen wurde, sondern alle treu in der Wahrheit wandelten und treu dem Herrn Jesus, ihrem Hirten, nachfolgten. Den Ältesten von Ephesus war der Dienst des Apostels darin ein leuchtendes Vorbild.
Aber zwischen diesen Ältesten und den in Epheser 4,11 erwähnten Gaben besteht ein grosser Unterschied. Der Herr selbst ist es, der jene Gaben zur Auferbauung des Leibes Christi durch öffentlichen Dienst in den verschiedenen Versammlungen oder Zeugnissen gegeben hat. Die Ältesten jedoch wurden vom Apostel und seinen Bevollmächtigten Timotheus und Titus für die einzelnen örtlichen Versammlungen angestellt. Da sollten sie ihren Aufseherdienst tun, wobei es nicht unbedingt erforderlich war, dass sie öffentlich in Wort und Lehre dienten (1. Tim 5,17). Aber der Älteste musste «dem zuverlässigen Wort nach der Lehre anhangen, damit er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen». Die Voraussetzungen für das Werk der Ältesten werden in 1. Timotheus 3,1-7 und Titus 1,5-9 ausführlich beschrieben.
Diese Ältesten konnten an ihrem Ort eine grosse Hilfe sein. Sie kannten die einzelnen Brüder und Schwestern, um für sie zu beten und in Demut treuen Hirtendienst an ihnen zu tun. Dazu war ihnen eine gewisse Autorität gegeben worden. Sie mussten aber auch untadelig sein als Gottes Verwalter, gute Beispiele in ihrem ganzen Wandel vor dem Herrn.
Der Dienst der vom Herrn geschenkten Lehrgaben der Hirten und Lehrer wurde also damals in den meisten örtlichen Versammlungen durch das Wirken der angestellten Ältesten oder Aufseher ergänzt. Wenn diese auch nicht vom Herrn direkt gegeben waren, so wurden sie doch vom Heiligen Geist benützt, um an ihrem Ort die Versammlung Gottes zu hüten.
Bei der Wahl solcher Brüder sollten Timotheus und Titus darauf achten, dass sie nicht nur den geistlichen und moralischen Anforderungen entsprachen. Sie sollten nicht nur lehrfähig sein, sondern den Herrn und seine Versammlung lieben. Bevor sie zu Aufsehern eingesetzt wurden, sollten sie sich also dadurch auszeichnen, dass sie sich um das Wohl aller Brüder und Schwestern kümmerten, die zum örtlichen Zeugnis gehörten. Besonders in jenen ersten Tagen des Christentums, als die Gläubigen nicht die ganze Bibel in Händen hatten, war dieser besondere Dienst in den jungen Versammlungen nötig.
Heute ist niemand mehr da, weder ein Apostel noch seine Vertreter, die befugt wären, solche Älteste einzusetzen und ihnen entsprechende Autorität zu geben. Aber das dringende Bedürfnis nach einem wirkungsvollen Hirtendienst bleibt, und in den Gebetszusammenkünften wird oft darum gebetet.
Denkt man dabei nur an die Gabe der «Hirten und Lehrer», die der Herr auch heute noch seiner Versammlung gibt? An Brüder, die die verschiedenen Zeugnisse und die Geschwister besuchen? Ja, der Herr, der Erzhirte der Schafe, möge auch uns immer wieder solche Gaben geben!
Lasst uns dabei aber eines nicht vergessen: Fast in allen Briefen des Neuen Testaments, die an Versammlungen gerichtet sind, finden sich Ermahnungen, die das gegenseitige Verhalten unter den Geschwistern betreffen, und jedem einzelnen Gläubigen gelten. Als Glieder am Leib Christi sind wir zusammengefügt, «um dieselbe Sorge füreinander zu haben» (1. Kor 12,25) und darauf zu achten, dass «nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide.» Wenn das Wort des Christus reichlich in uns wohnt, sind wir imstande, «in aller Weisheit uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen» (Heb 12,15; Kol 3,16; usw.). – Wir sind jedoch leicht geneigt, diesen unseren persönlichen Anteil an der Verantwortung, einander in Liebe zu dienen, auf einzelne Diener abzuladen, die «ganz im Werk des Herrn stehen«. Das soll nicht so sein.
Werfen wir da zu unserem Ansporn in dieser Hinsicht einen Blick auf die junge Versammlung in Thessalonich. Sie hatte wohl ein paarmal den Besuch des Apostels oder seiner Mitarbeiter, wenn sie durch Mazedonien reisten. Wir können aber nicht feststellen, dass dies oft geschah. Auch lesen wir nicht von Ältesten, die hier als Aufseher offiziell eingesetzt worden wären. Doch gab es da ansässige Brüder, die von Herzen und aus freien Stücken für das Wohl der Herde Gottes in Thessalonich besorgt waren. In Bezug auf diese bat der Apostel die Brüder, «dass ihr die erkennt, die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen». Wer gab denn solchen die Autorität dazu? Paulus sagt: «und dass ihr sie über die Massen in Liebe achtet, um ihres Werkes willen» (1. Thes 5,12.13). Ihr ganzer Wandel, ihre Gesinnung und ihr Werk, das im Herrn geschah, gab ihnen bei allen Vertrauen und bevollmächtigte sie zu diesem Hirtendienst. – Wie gut, dass es in örtlichen Zeugnissen der Versammlung auch heute Brüder gibt, von denen dies gesagt werden kann! Sie mögen keine besondere Lehrgabe haben, müssen aber doch mit der Lehre des Wortes vertraut sein, um andere überführen zu können (1. Tim 5,17; Tit 1,9).
Was aber in Thessalonich auch viel dazu beitrug, dass niemand übersehen wurde und jeder die nötige Pflege empfing, war die Tatsache, dass bei ihnen allen «die Liebe jedes Einzelnen von euch allen zueinander überströmend war» (2. Thes 1,3). Zeigten sich bei einem Gläubigen unter ihnen Anzeichen einer Not oder ein Abweichen vom Herrn und seinem Weg, so waren seitens bewährter Christen «Bemühungen der Liebe» (1. Thes 1,3) da, um einem solchen in aller Demut zu helfen. Der Apostel unterstützte sie in dieser Tätigkeit, indem er im ersten Brief an alle Brüder schrieb: «Deshalb ermuntert einander und erbaut einer den anderen, wie ihr auch tut … Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, nehmt euch der Schwachen an, seid langmütig zu allen» (1. Thes 5,11.14).
Möchte dieses Beispiel der Thessalonicher zu unseren Herzen reden und ihre erste Liebe gegenüber dem Herrn und den Seinen auch bei uns ihren Ausdruck finden!