2. Die Leiden in der Ebene (1)
Der Berg, mit seinem Vorgeschmack zukünftiger Herrlichkeiten, ist für die Seele ein glücklicher Ort, den sie aufsuchen darf. Aber die Ebene, mit ihren Leiden, ist unser tägliches Los, während wir unseren Weg durch diese Welt gehen. Doch obwohl wir den Berg verlassen und uns der Ebene zuwenden müssen, werden wir nicht veranlasst, uns vom Herrn Jesus zu trennen; denn wir lesen: «Und als die Stimme erging, wurde Jesus allein gefunden.» Die Vision der Herrlichkeit verblasst, die Wolke hat sich erhoben, die Stimme ist verstummt, aber der Herr Jesus bleibt, und Er bleibt allein mit seinen Jüngern.
Der Herr Jesus hatte die Jünger mit sich auf den Berg genommen; nun werden die Jünger Ihn in der Ebene bei sich haben. Sie begegnen dem, was in der Ebene auf sie zukommt, mit dem Geheimnis dessen in ihren Herzen, was sie auf dem Berg erlebt haben: ein Geheimnis, das sie in jenen Tagen für sich behalten, denn sie erzählen niemand etwas von dem, was sie gesehen haben. Die Herrlichkeiten, auf die sie vorausschauten, der Ort, an dem sie sich aufgehalten, und die Stimme, die sie gehört hatten, übersteigen das Fassungsvermögen und die Wünsche des natürlichen Verstandes. Doch der Tag wird kommen, an dem Petrus dieses Erlebnis nicht mehr geheim hält, sondern denen, die einen gleich kostbaren Glauben empfangen haben, von der Majestät des Herrn, der prachtvollen Herrlichkeit und der Stimme des Vaters berichten wird. Die Enthüllung dieses Geheimnisses durch Petrus wird auch von dem bleibenden Eindruck reden, den der Besuch auf dem Berg auf die Seelen der Jünger gemacht hat. Fortan ist der demütige Jesus, dem sie nachfolgen, einer, den sie in Macht und Herrlichkeit gesehen haben, und obwohl ihr Pilgerpfad manchmal dunkel sein mag, wird er von dem Licht der Herrlichkeit erhellt, zu der er führt. Welch einen Unterschied macht es auch für uns aus, wenn wir den König in seiner Schönheit gesehen haben und unseren Weg durch die Leiden der Ebene im Licht des Christus auf dem Berg gehen.
So sind die Jünger und auch wir bereit, der Ebene mit ihren Leiden mutig entgegenzublicken. Als sie vom Berg herabsteigen, kommt ihnen «eine grosse Volksmenge» entgegen, sie begegnen einem Kind, dem einzigen Sohn seines Vaters, das unter der Macht des Teufels steht, und treffen auf ungläubige Jünger (V. 37-41). Sie sehen sich einer notleidenden Welt, der Macht des Teufels und dem Unglauben des Fleisches gegenübergestellt.
Diese Leiden der Ebene finden ihren Ausdruck in dem mitleiderregenden Fall des Mannes, der den Herrn anfleht, auf seinen einzigen Sohn zu blicken. Das Herz des Vaters ist von Kummer gequält, der Körper seines Sohnes wird vom Teufel gezerrt, die Volksmenge ist gleichgültig, und die Jünger des Herrn sind hilflos! Welch ein treffendes Bild von der Welt, in der wir leben! Eine notleidende, aber gefühllose Welt um uns her, der Teufel gegen uns, und das Fleisch in uns. Und doch haben wir, wie die Jünger, den Herrn in all seiner Gnade bei uns, und den Herrn mit seiner zukünftigen Herrlichkeit vor uns. Es ist, als würde Er sagen: Ich habe euch auf dem Berg die Herrlichkeit gezeigt, zu der ich euch bringen werde; nun will ich euch in der Ebene die Gnade zeigen, die euch bei jedem Schritt auf dem Weg zur Herrlichkeit bewahren kann.
Um jedoch die überströmende Gnade seines Herzens kennenzulernen, müssen wir sowohl unsere Schwachheit erkennen, um uns auf seine Kraft zu stützen, als auch unsere Bedürfnisse sehen, um seine Gnade in Anspruch zu nehmen. Daher enthüllt der Herr den Jüngern und uns
- den wahren Charakter des Fleisches (V. 41-45);
- die verschiedenen Formen der Selbstsucht, die es annimmt (V. 46-56);
- und zeigt schliesslich, wie wir durch unsere alte Natur auf verschiedene Art und Weise gehindert werden können (V. 57-62).
Zuerst haben wir die Darstellung des Fleisches in seinem Unglauben (V. 40,41). Angesichts der Unfähigkeit der Jünger, den Dämon auszutreiben, muss der Herr sagen: «O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Bis wann soll ich bei euch sein und euch ertragen?» (V. 41). Wir sehen hoffnungslose Not bei dem besessenen Kind; in der Person des Herrn Jesus ist Gnade vorhanden, um dieser Not zu begegnen; die berufenen Jünger des Herrn sind da, aber ach, die Welt blickt vergeblich zu ihnen auf. Sie sind hilflos wegen des Unglaubens des Fleisches, der sie unfähig macht, die Macht des Herrn zu gebrauchen, die zu ihrer Verfügung steht, und wegen der Verdorbenheit des Fleisches, die aus all den wunderbaren Beweisen seiner Macht und Gnade keinen Nutzen ziehen kann.
In einem einzigen kurzen Satz fasst der Herr das ernste Ergebnis des Unglaubens seiner berufenen Jünger zusammen. Er fragt: «Bis wann soll ich bei euch sein und euch ertragen?» Diese Worte deuten darauf hin, dass die Zeit der Gegenwart des Herrn in Gnade ihrem Ende entgegenging, und dass das Ende kommen würde, nicht durch das Böse in der Welt, noch durch die schreckliche Macht Satans, sondern weil die, die seinen Namen bekannten, unfähig waren, die Gnade und Macht zu gebrauchen, die Christus in die Welt gebracht hatte. Der Herr sagt nicht: «O bedürftige Welt, wie lange soll ich bei dir sein?», denn es war ihre Not, die Ihn in die Welt brachte, sondern Er fragt die ungläubigen Jünger: «Bis wann soll ich bei euch sein und euch ertragen?» Das sollte auch uns zu ernstem Nachdenken bringen, denn es ist heute, am Tag der Gnade, nicht anders. Es ist das Versagen der bekennenden Christenheit auf dieser Erde, das diese Zeitperiode zu einem Ende bringen wird; denn wir lesen: «Gegen dich (bekennende Christenheit) aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden» (Röm 11,22). Diese Zeitspanne begann mit der Macht und Güte Gottes; sie wird abgeschlossen werden, weil jene, die sich zum Namen des Christus bekannt haben, unfähig sind, seine Macht und Gnade zu gebrauchen.
Doch zu unserem Trost sei bemerkt, dass das Versagen derer, die den Namen Christi tragen, nur dazu dient, die unfehlbaren Hilfsquellen des Herrn Jesus für die ans Licht zu bringen, die Ihm vertrauen. Das kommt in dieser bemerkenswerten Szene sehr schön zum Ausdruck. Nachdem der Herr von unserem Unglauben und unserer Verkehrtheit gesprochen hat, fügt Er sogleich hinzu: «Führe deinen Sohn her.» Der erste Teil des Verses stellt unsere Herzen bloss, der zweite Teil offenbart sein Herz. Es ist, als sagte Er: «Euer Versagen mag noch so gross sein, in mir werdet ihr eine unfehlbare Quelle der Hilfe finden. Darum, was immer ihr auch in euren Herzen finden mögt und was immer eure Bedürfnisse sind, kommt zu mir, bringt alles zu mir.»
Diese Zeitperiode ging ihrem Ende entgegen, doch, solange der Herr gegenwärtig war, konnten alle, die ihre Bedürfnisse zu Ihm brachten, seine Gnade und Macht in Anspruch nehmen. So ist es auch heute. Wieder eilt die Zeitperiode ihrem Ende entgegen, die Schatten werden länger und die Finsternis wird immer dunkler, aber wie jemand richtig gesagt hat: «Solange die Gnade Christi am Werk ist, und wäre nur ein einziger Heiliger auf der Erde, während alles um ihn her versagte, so würde dieser doch erfahren, dass die Macht Christi bereit ist, sich für ihn zu entfalten.» Wie tröstlich ist somit die Wahrheit, die den Worten des Herrn: «Führe deinen Sohn her», zugrunde liegt. Möge es unser glückliches Teil sein, in deren Genuss zu kommen, indem wir unsere Bedürfnisse, unsere Sorgen, Nöte und Schwierigkeiten zu Christus bringen. Die Tatsache jedoch, dass wir unsere Nöte zu Christus bringen, mag die Schwierigkeiten manchmal noch grösser erscheinen lassen. So war es in diesem Fall, denn als sie auf das Wort des Herrn hin den Knaben zu Ihm brachten, lesen wir: «Der Dämon riss und zerrte ihn hin und her.» Nichts macht den Teufel so wütend, wie wenn sich ein Gläubiger im Gebet an den Herrn wendet. Dies mag dem Teufel sogar Gelegenheit zu einem erneuten und heftigen Ausbruch des Widerstands geben, was die eigentliche Not, von der wir befreit zu werden wünschen, noch betont. Aber das Endergebnis wird nur die Verherrlichung der Gnade und Macht sein, die zu unserer Befreiung wirksam werden.
Leider wird die Offenbarung der Gnade und Macht des Herrn eine neue Gelegenheit, den Unglauben des menschlichen Herzens zu zeigen, denn wir lesen: «Sie erstaunten aber alle sehr über die herrliche Grösse Gottes.» Und wiederum: «Als sich aber alle verwunderten über alles, was Jesus tat …» Wie demütigend waren dieses Erstaunen und diese Verwunderung. Wie weit muss sich doch der Mensch von Gott entfernt haben, wenn er keine Verwunderung über die Macht des Teufels zeigt, aber erstaunt ist, wenn Gott seine Macht entfaltet. Da Gott in der Person des Herrn Jesus gegenwärtig war, wäre es zum Verwundern gewesen, hätte Er nicht in Macht gehandelt. Wir mögen wohl über die Macht des Teufels und die Ohnmacht der Jünger erstaunt sein, aber nur der Unglaube konnte sich über die Macht Gottes verwundern.
So hat uns der Herr den Unglauben des Fleisches vorgestellt. Dann, nachdem Er in Macht gehandelt und den Dämon ausgetrieben hatte, benützt der Herr die Gelegenheit, uns vor einer anderen Form des Fleisches zu warnen, nämlich der Überheblichkeit des Fleisches, die die Gelegenheit der Machtentfaltung gern benützen würde, um sich selbst zu rühmen (Verse 43,44). Diese Machtentfaltung könnte zu dem Gedanken führen, dass Christus in dieser Welt geehrt sei, und vergessen lassen, dass Er von den Menschen verworfen wurde. Der Herr verhindert diesen Gedanken, indem Er zu seinen Jüngern sagt: «Fasst ihr diese Worte in eure Ohren! Denn der Sohn des Menschen wird in die Hände der Menschen überliefert werden.» Die Jünger schauten nach einem Königreich in Macht aus. Der Herr hatte seine Kreuzigung in Schwachheit vor sich. Ihre Gesinnung war, sich in der Herrlichkeit und Macht des Königreiches zu rühmen. Seine demütige Gesinnung war, sich selbst zu erniedrigen, selbst bis in den Tod. Sie erwarteten die Machtentfaltung vor den Menschen; Er erwartete die Verwerfung seitens der Menschen. Das Königreich in Macht wird kommen, wie die Szene auf dem Berg uns mit Sicherheit sagt, aber es wird durch die Verwerfung seitens der Menschen und die Leiden des Kreuzes erreicht.
Zudem steht hinter der Überheblichkeit des Fleisches die Unwissenheit des Fleisches; denn wir lesen: «Sie aber verstanden dieses Wort nicht» (V. 45). Wie wenig werden die Worte des Herrn sogar jetzt von vielen ernsten Christen verstanden. Wie viele Anstrengungen werden doch von Christen gemacht, um durch äusserliche Machtentfaltung Anziehungskraft auszuüben – die Macht imposanter Gebäude, die Macht der Musik, die Macht der Redegewandtheit, die Macht der Gelehrsamkeit. Wie wenig sind wir bereit, das Kreuz und die Verwerfung Christi anzunehmen, und den Platz der Schmach und der Schwachheit ausserhalb des Lagers, in Gesellschaft der Armen, Schwachen und Verachteten dieser Welt einzunehmen.
Überdies steht hinter der Unwissenheit des Fleisches das Misstrauen des Fleisches. Die Jünger waren nicht nur unwissend, sondern wir lesen auch: «Und sie fürchteten sich, ihn über dieses Wort zu fragen.» Das Vertrauen zu Christus, das sie dazu geführt hätte, Ihm ihre Schwierigkeiten vorzubringen, fehlte ihnen. Aber leider geht es uns oft wie Petrus im Obersaal, dass wir nicht nahe genug beim Herrn sind, um Ihm all unsere Schwierigkeiten zu sagen. Wenn wir, wie Johannes, in seiner Liebe ruhten, wie leicht wäre es dann, alle unsere ungelösten Fragen zu Ihm zu bringen.
So wird uns in diesem kurzen Abschnitt das Fleisch in seinem Unglauben, seiner Überheblichkeit, seiner Unwissenheit und seinem Misstrauen vorgestellt. Die Jünger waren ungläubig gegenüber der Macht und Gnade Christi, unwissend über die Gesinnung Christi, und hatten kein Zutrauen zum Herzen Christi, Trotzdem ist es tröstlich für uns zu sehen, dass, wenn Christus die Leiden der Ebene dazu benützt, unsere Herzen blosszulegen, es nur geschieht, damit Er die Gnade seines Herzens offenbaren kann. Wenn Er all das Böse in uns aufdeckt, so geschieht es in Gegenwart einer Gnade, die diesem allem entgegentritt.