2. Die Leiden in der Ebene (2)
Wie kommt es, dass wir in unserer Zeit mit ihren grossen Vorrechten immer noch so oft von Unglauben, Überheblichkeit, Unwissenheit und Mangel an Vertrauen zum Herrn gekennzeichnet sind? Ist es nicht, weil unser Ich anstatt Christus im Vordergrund steht? Das wird uns im nächsten Abschnitt unseres Kapitels (V. 46-56) eindrucksvoll gezeigt. In diesen Versen stellt der Heilige Geist uns vor, wie die Selbstsucht in verschiedener Weise zum Ausdruck kommen kann.
Die erste Art ist persönliche Selbstsucht (V. 46-48). Die Jünger überlegten bei sich selbst, wer von ihnen wohl der Grösste sei. Sie massen die Grösse nach Menschenweise; aber wie gross ist der Unterschied zwischen der Grösse des Menschen und der Grösse Gottes! Die Grösse des Menschen findet ihren Ausdruck darin, dass man sucht, sich selbst auf Kosten anderer zum höchsten Platz zu erheben, in Gesellschaft mit den angesehensten Personen. Die Grösse Gottes findet ihren Ausdruck in einem Menschen, der sich auf den untersten Platz erniedrigt und sich mit den Unbedeutenden und Verachteten vereinigt. Dies ist der Weg zu wahrer Grösse, und diesen Weg ging Christus in Vollkommenheit. Darum hat Gott Ihn hoch erhoben und Ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist (Phil 2,5-9).
Die zweite Form der Selbstsucht ist Parteisucht (V. 49,50). Wir lesen, dass Johannes antwortete und sprach: «Meister, wir sahen jemand Dämonen austreiben in deinem Namen, und wir wehrten ihm, weil er dir nicht mit uns nachfolgt.» Offensichtlich denkt Johannes hier nicht an sich persönlich, sondern an alle, die mit ihm waren, denn er sagt «uns». Das ist eine verfeinerte Art von Selbstsucht gegenüber der ersten, denn sie macht den Anschein, als ob man das Ich zugunsten der Gruppe, in deren Gesellschaft man sich befindet, ignoriere. In Wirklichkeit steht gewöhnlich der Wunsch dahinter, die Gruppe zu erheben, um etwas aus sich selbst zu machen. Das ist in der Tat Parteisucht. Johannes und die andern, die mit ihm waren, verboten dem Mann, Dämonen auszutreiben, nicht weil das etwas Unrechtes war, das man nicht tun sollte, sondern weil er nicht mit ihnen nachfolgte. Was der Mann tat, mochte tatsächlich zur Verherrlichung Christi und zum Segen der Menschen gewesen sein, aber es geschah nicht in Verbindung mit «uns», und brachte daher keinen Vorteil für «uns»; und so musste es in den Augen von Johannes verurteilt werden. Aber indem er so dachte und sprach, hatte Johannes die Jünger und ihre Wichtigkeit vor sich, statt Christus und seine Ehre. In seiner Antwort benützt der Herr in zärtlicher Gnade die Worte des Johannes, tadelt aber den Gedanken des Johannes. «Wehrt nicht; denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch». Der Herr sagt nicht, der Mann ist «mit euch», sondern «für euch». Die Jünger waren tatsächlich beides: «mit Christus» und «für Christus». Der Mann war «für» Christus, und in diesem Sinn war er «für» die Jünger, denn auch sie waren «für» Christus. Es ist gesegnet, wie die Jünger in wahrem Sinn mit Christus am Platz der Schmach zu sein. Wenn wir solche sind, dann lasst uns auf der Hut sein, andere, die «für» Christus sind, nicht geringschätzig zu behandeln, selbst wenn wir wegen ihren Verbindungen nicht mit ihnen zusammengehen können.
Die letzte Art von Selbstsucht ist der Selbstruhm unter dem Vorwand des Eifers für den Herrn (V. 51-56). Wir haben Selbstsucht im Eifer für sich selbst gesehen; dann Selbstsucht, die sich hinter dem Eifer für eine Gruppe verbirgt; nun haben wir die Selbstsucht, die sich unter dem Deckmantel des Eifers für den Herrn versteckt. Diese ist von allen Formen der Selbstsucht die heimtückischste und schwierig festzustellen, denn wer kann Eifer für den Herrn bemängeln oder sagen, er sei falsch? Und doch kann hinter dem Eifer für den Herrn ein Eifer für sich selbst verborgen sein. In dem Fall, den wir hier vor uns haben, war es so. Der Weg des Herrn auf dieser Erde ging seinem Ende entgegen. Er stand im Begriff, in den Himmel aufgenommen zu werden, und hatte sein Angesicht festgestellt, nach Jerusalem hinaufzugehen. Sein Pfad führte Ihn durch die Dörfer der Samariter, und sie wollten ihn nicht aufnehmen. Ihre Väter hatten einst Elia verworfen, nun verwarfen die Kinder den Herrn und Meister des Elia. Die Jünger, die über die Beleidigung, die ihrem Meister zuteilwurde, aufgebracht waren, wollten das Gericht des Himmels auf diese Christus-Verwerfer herabbeschwören, so wie Elia das Feuer vom Himmel auf seine Feinde herabfallen liess. Der Eifer für Christus wünschte die Bestrafung seiner Feinde, Gerechtigkeit schien dies zu verlangen, und ein vorangegangenes Schriftwort schien einen solchen Verlauf zu unterstützen; doch der Herr tadelt seine Jünger. indem Er sagt: «Ihr wisst nicht, wes Geistes ihr seid.» Unter ihrem Eifer verborgen, entdeckt und entblösst der Herr einen Geist, der Ihm völlig fremd ist. Der Herr offenbarte seine Macht in Gnade, um der Not des Menschen zu begegnen. Die Jünger wollten Macht im Gericht ausüben, um ihre eigene Wichtigkeit zu unterstreichen. Er wollte zum Segen anderer Gnade erweisen. Sie waren bereit, um ihrer Selbsterhöhung willen Gericht auszuüben.
Die Verwerfung ihres Herrn und Meisters, mit all seiner Gnade und Macht, durch diese unreinen Samariter, erregte den Ärger und die Ablehnung der Jünger, denn sie hatten ihre eigene Wichtigkeit zu bewahren, und diese Selbstbedeutung war durch die Beleidigung, die ihrem Meister zugefügt worden war, missachtet worden. Die Jünger wollten die Bosheit dieser Leute ausnützen, um ein Gericht auszuüben, das sie verdient hatten, aber sie wollten dies in einem Geist der Rache tun. Das eigene Ich stand hinter ihrem Vorschlag, aber versteckt unter dem Deckmantel des Eifers für den Herrn.
Welch ein Unterschied gegenüber der Gesinnung des Herrn, des Einen, dessen Gnade so verächtlich gemacht worden war! Obwohl Herr über alles, war Er mit einem zartfühlenden Herzen und einer demütigen Gesinnung hier und hatte keine Selbstbedeutung aufrechtzuerhalten. Daher offenbarte die Verwerfung, die bei den Jüngern Entrüstung hervorrief, nur seine Geduld und stille Unterwürfigkeit, so wie etwas später seine Verwerfung in Jerusalem seine Tränen verursachte. Jakobus und Johannes hätten die Menschen, die ihren Meister verwarfen, gern vom Feuer verzehren lassen, so wie Petrus später mit dem Schwert gegen sie kämpfte. Aber Christus geht ohne Groll und ohne Vergeltungsabsichten weiter nach einem anderen Dorf.
Es gibt noch ein weiteres grosses Hindernis für unseren Dienst und unser Zeugnis für den Herrn. Nicht nur das Fleisch mit seinen verschiedenen Formen von Selbstsucht, sondern auch die Natur mit ihren Ansprüchen kann ein wirkliches Hindernis darstellen. Das sehen wir in den Versen 57-62 unseres Kapitels.
Zuerst lernen wir, dass die Energie der menschlichen Natur für den Weg wahrer Jüngerschaft nicht genügt. Es kommt einer zum Herrn und sagt: «Ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst, Herr.» Das war vielleicht das Ergebnis eines edlen Impulses, der den Mann zum Herrn hinzog. Gleichzeitig verrät es den Leichtsinn des natürlichen Menschen, der nicht begriff, wer der Herr war, wohin Er ging, oder auf welchem Weg Er wandelte. Er war tatsächlich der verworfene Mensch; Er war «auf dem Weg», um in eine Welt der Herrlichkeit aufgenommen zu werden, aber auf dem Weg in dieser gegenwärtigen Welt hatte Er kein Zuhause. Nur ein Kreuz und ein Grab standen vor Ihm. Es wäre klüger, zu den Füchsen für eine Höhle oder zu den Vögeln für ein Nest zu gehen, statt für ein Heim auf der Erde zum Sohn des Menschen zu kommen. Die Energie der menschlichen Natur, mochte sie noch so echt sein, war für einen solchen Weg nicht gerüstet. Die Natur vermag vieles, aber sie kann sich selbst nicht verleugnen, nicht auf ihre Behaglichkeit und ihre Annehmlichkeiten verzichten, um einem verworfenen Herrn nachzufolgen. Und daher hören wir nichts mehr von diesem Freiwilligen, nachdem ihm der Weg vorgestellt worden war.
Ferner lernen wir, dass die natürlichen Familienbande ein wirkliches Hindernis im Dienst für den Herrn sein können (V. 59-60). In diesem Fall ruft der Herr selbst den Mann, Ihm nachzufolgen. Der erste Mann handelt im Leichtsinn seiner Natur und sieht keine Schwierigkeiten; dieser hier, der vom Herr gerufen wird, ist sich sofort der Schwierigkeiten bewusst. Das erinnert uns an Mose in früheren Zeiten, als er in der Energie der eigenen Natur handelte und dachte, es wäre eine einfache Sache, die Angelegenheiten unter dem Volk Gottes richtigzustellen; als er jedoch von Gott berufen wurde, konnte er nichts als Schwierigkeiten sehen. So ist es bei diesem Mann hier zur Zeit des Herrn Jesus; sein Problem scheint gross zu sein – ein betagter Vater, dem Grab nahe, und von seinem Sohn abhängig. Angesichts dieser Schwierigkeit sagt der Mann gewissermassen: «Ich bin bereit, deinem Ruf Folge zu leisten, doch erlaube mir, damit zu warten, bis mein Vater gestorben ist und ich meine letzten Pflichten in Verbindung mit diesem natürlichen Anspruch erfüllt habe.» Das tönt tatsächlich vernünftig, denn was das natürliche Leben betrifft, hatte der Vater den Vorrang. Im neuen Leben jedoch muss Christus den Vorrang haben; und es war eine Frage von Leben und Tod. Wie jemand gesagt hat: Der Herr erhob seinen Anspruch für das Leben, das Er gegeben hatte, ein Leben, das verlangte, dass Christus und seine Ansprüche an erster Stelle standen. Der Mann stellt die Ansprüche des Toten voran, wenn er sagt: «Erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben.» Der Herr stellt die natürlichen Ansprüche weder in Abrede noch hebt Er sie auf, aber Er macht seine Ansprüche an erster Stelle geltend. Der Mann sah nicht, dass, wenn der Herr ruft, seine Ansprüche vorangestellt werden müssen, und dass der, der ruft, gleichzeitig für den zurückgelassenen Vater sorgen kann.
Schliesslich erfahren wir, dass natürliche Zuneigung zu einem echten Hindernis im Dienst für den Herrn werden kann (V. 61-62). Dieser Mann hat auch den Wunsch, dem Herrn nachzufolgen, möchte aber vorher von seinen Angehörigen Abschied nehmen. Obwohl dies ganz natürlich scheint, zeigt es dem alles erforschenden Blick des Herrn, dass sein Herz sich nicht von seinem Heim losreissen kann. Er würde gern seine Hand an den Pflug legen – sich im Dienst betätigen –, aber sein Herz «blickte zurück» nach seinem Haus, und wir gehen in der Richtung, in der wir blicken. Es ist unmöglich für einen Landarbeiter, seine Furchen gerade zu pflügen, wenn er in eine andere Richtung schaut als jene, in die er geht. Der Dienst für den Herrn verlangt ein ungeteiltes Herz.
So werden wir darauf hingewiesen, dass natürliche Beziehungen ein echtes Hindernis im Dienst für den Herrn werden können. Der Herr setzt die Wohltat eines Heims auf dieser Erde nicht beiseite, auch nicht die Ansprüche und Pflichten, die mit natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind, oder die damit verbundenen Zuneigungen, aber Er stellt seine Ansprüche voran und schaut nach einer Hingabe aus, die Ihm zuliebe auf alles verzichtet. Nur so werden die Jünger «zum Reich Gottes tauglich sein». Dieses letzte Wort versetzt uns auf den Berg zurück, wo die Jünger das Reich Gottes in seiner Herrlichkeit gesehen hatten (V. 27). Nur im Licht der Herrlichkeit Christi im Reich Gottes und in der Kraft der Gnade Christi in der Ebene werden wir fähig sein, dem Fleisch in seinen verschiedenen Formen, der Selbstsucht unserer Herzen und den Ansprüchen der Natur zu entsagen.