Mose ist nicht von heute auf morgen ein brauchbarer Diener Gottes geworden. Gott musste ihn zubereiten. Jedem von uns, der sich «zu Gott bekehrt hat, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten», bietet daher der Werdegang dieses Mannes im Hinblick auf einen Gott wohlgefälligen Dienst nützliche Belehrung.
Wie die meisten unter uns, hatte auch Mose gottesfürchtige Eltern. Aber er durfte nur die ersten paar Lebensjahre unter ihrer Obhut sein, und sie haben daher diese kurze Frist gut ausgenützt. Sie erzählten ihm vom allein wahren Gott und seinem Volk, das jetzt unter der Knechtschaft der Ägypter seufzte, dem aber grosse Verheissungen gegeben waren. Ihre Unterweisungen hinterliessen in dem weichen Knabenherzen bleibende Eindrücke, und durch Gottes Gnade keimte aus diesem Samen früh ein lebendiger Glaube hervor, der selbst in heidnischer Umgebung standhielt. Welche Ermunterung für die Eltern, den Kindern schon in ihrem zartesten Alter das Wort Gottes lieb zu machen!
Dann musste er schon in die Welt hinaus. Die wohlmeinende Tochter Pharaos hielt ihn wie einen Sohn und liess ihn «in aller Weisheit der Ägypter» unterweisen. Vielen jungen Gläubigen nach ihm hat solch ein Studium «aller Weisheit» der Menschen nicht gut getan, weil sie dabei den persönlichen Umgang mit dem Herrn und das Sinnen über Gottes Wort vernachlässigt haben. Wie können sie da den geistigen und fleischlichen Versuchungen zum Abgleiten widerstehen? «Behüte dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist; denn von ihm aus sind die Ausgänge des Lebens» (Spr 4,23). Mit was für einem Herzen kam nun Mose aus der Hochschule Ägyptens und aus dem Palast Pharaos hervor, in dem er sich zwangsweise mehr als dreissig Jahre lang hatte aufhalten müssen? «Als er aber ein Alter von vierzig Jahren erreicht hatte, kam es in seinem Herzen auf, sich nach seinen Brüdern, den Söhnen Israels, umzusehen.» Oh, Wunder der Gnade Gottes! Sein Herz zog ihn zu seinen armen, geknechteten Brüdern, auch wenn er sich dadurch am Hof Pharaos unmöglich machte. «Durch Glauben weigerte sich Mose, als er gross geworden war, ein Sohn der Tochter des Pharaos zu heissen, und wählte lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, als den zeitlichen Genuss der Sünde zu haben, indem er die Schmach des Christus für grösseren Reichtum hielt als die Schätze Ägyptens.» Dass es doch mehr solcher Herzen gäbe, die sich um das Wohl des Volkes Gottes kümmerten, auch wenn dafür der Preis eigener Vorteile und Annehmlichkeiten bezahlt werden muss! «Auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben», sagt das Wort (1. Joh 3,16).
Ja, man darf wohl sagen, Liebe zum Herrn und zu seinem Volk ist das Erste und Wichtigste, was Er bei seinen Dienern sucht. So hat Er auch Petrus gefragt: «Liebst du mich?», bevor Er ihn zum Hüter seiner Schafe einsetzte.
Aber wenn auch diese Liebe bei Mose vorhanden war, und Gott ihn für einen künftigen Dienst mit vielen Gaben ausgerüstet hatte, so musste Mose doch noch Verschiedenes lernen.
Ein Bauer mag eine seiner Wiesen verpachten und dieses Landstück dem Pächter überlassen, ohne sich weiter viel darum zu kümmern, wenn dieser ihm nur den Zins pünktlich zahlt. So gibt es Diener Gottes, die glauben, von Gott ein Stück seines Weinbergs zur selbständigen Bearbeitung zugewiesen erhalten zu haben; und auch Mose handelte anfangs impulsiv und auf eigene Faust. «Er sah einen ägyptischen Mann, der einen hebräischen Mann von seinen Brüdern schlug. Und er wandte sich hierhin und dorthin, und als er sah, dass kein Mensch da war, erschlug er den Ägypter und verscharrte ihn im Sand.»
Eine solche Selbständigkeit darf es im Dienst Gottes nicht geben. Gott behält alles in seiner Hand, und seine Ratschlüsse sollen zustande kommen. Wenn Er uns zu deren Ausführungen brauchen will, so müssen wir uns in demütiger Abhängigkeit von Ihm leiten lassen. «Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen» (Eph 2,10). Die vierhundert Jahre der Bedrückung des Volkes Israel, von denen Gott schon zu Abraham gesprochen hatte (1. Mo 15,14), waren noch nicht um, und Gott wird dann schon im richtigen Augenblick Mose seine Weisungen erteilen.
Gott in Unabhängigkeit zu dienen, ist übrigens ein Beweis von Vertrauen in die eigene Weisheit und die eigene Kraft. Solch ein Dienst ist aber nicht zur Verherrlichung Gottes, sondern möchte den eigenen Namen erheben. Wenn das Werk gelingt, so tönt es im eigenen Herzen: Das habe ich, mit Namen Soundso, zustande gebracht!
So scheint auch Mose bis dahin gedacht zu haben: Ich bin etwas.
Jetzt kam Mose in eine ganz andere Umgebung in der Stille des Landes Midian. Dort wurde ihm die bescheidene Aufgabe gestellt, die Kleinviehherde Jethros zu weiden, nicht nur ein, nicht nur zwei, sondern vierzig Jahre lang, bis er ein Alter von achtzig Jahren erreicht hatte! Nach seinen eigenen Worten (Psalm 90) ist dies ja das Höchstalter eines kräftigen Mannes. Wie schade! Ein Mann mit solch glänzenden Gaben und einer so gründlichen Ausbildung hätte doch an einen ganz anderen Platz gehört. Was hätte er dort nicht alles leisten können! So denken wir vielleicht.
Ja, Gott versetzte ihn zu den Schafen und Ziegen, und Er weiss warum. Hier, in der feierlichen Stille der Gegenwart Gottes, sollte Mose eine schmerzliche Lektion lernen: Er sollte klein werden in seinen eigenen Augen. Wie sehr hatte er sich an den Menschen gemessen und hatte dabei in jeder Hinsicht gut abgeschnitten; aber nun sollte er sich im wahren Licht, im Licht Gottes sehen. Da ist alles «bloss und aufgedeckt», und beim Erkennen der Grösse Gottes und seines Wesens wird der Mensch so klein und alles Eigene so verabscheuungswürdig. Wer sich viel in der Gegenwart Gottes aufhält, kommt mit Hiob zur Erkenntnis: «Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich und bereue in Staub und Asche» (Hiob 42,5.6). Wer in dieser Erkenntnis vorangeht, ist geschickt, Gott zu dienen, denn nur ein solcher ist bereit, den untersten Platz eines Dieners einzunehmen, auf die Stimme Gottes zu lauschen und ihr zu gehorchen. Im Reich der Menschen ist der der Grösste, der die anderen an Weisheit und Gaben, Macht und Reichtum überragt. Im Reich Gottes aber: «Wer unter euch gross werden will, soll euer Diener sein; und wer irgend unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein. Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele» (Mk 10,43-45).
Petrus war geschickt, seine Hirtengabe auszuüben, weil die Erinnerung an seinen eigenen Fall ihn in der Demut bewahrte; Paulus war ein so nützliches Werkzeug in der Hand des Herrn, weil er sich als der «Allergeringste von allen Heiligen» und als der «erste der Sünder» vorkam; und Mose wurde erst dann zu seinem grossen Dienst berufen, als er am Ende der vierzigjährigen Lektion in der Schule Gottes ausrief: «Ich bin kein Mann der Rede … ich bin schwer von Mund», oder mit anderen Worten: Ich bin nichts.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo Gott seinen Ratschluss zur Ausführung bringen wollte. Im Begriff, sein Volk aus der Hand der Ägypter zu erretten und in das gute Land hinaufzuführen, das Er ihren Vätern verheissen hatte, erschien Er Mose im Dornbusch, um ihn als Führer an die Spitze des Volkes zu stellen. Mose war nun zerbrochen, und nur zerbrochene Gefässe können Gott wohlgefällige Diener sein.
Aber Mose war nicht nur zerbrochen, Er war auch entmutigt. Er war zu lange bei sich selbst, bei seinem «Ich bin nicht» stehengeblieben. Im Grund genommen ist das Stehenbleiben bei seinem eigenen Unvermögen ebenso verwerflich wie das Sich-rühmen seiner Kräfte. Beides schliesst Gott aus. Der grosse, ewige «Ich bin, der ich bin» stand doch jetzt vor ihm. Wenn Er ihn beruft, kann Mose getrost gehen.
Vielleicht warst auch du, lieber Bruder, in der ersten Zeit nach deiner Bekehrung eifrig für den Herrn. Auch in deinem Herzen war es aufgekommen, dieses und jenes Werk für Ihn zu tun, und du hast es verschiedene Jahre lang durchgeführt. Aber dann bist auch du in die Wüste Midians gekommen. In deinem Dienst war noch so manches Eigene und der Herr hat es dir zeigen müssen. Auch du wurdest zerbrochen und – entmutigt. Und du hast dich in deine Familie zurückgezogen und in deinen Beruf. Da lebst du denn nun Jahr für Jahr und vergisst, dass es im Werk des Herrn so viel zu tun gibt, dass in der Welt draussen so viele unter der Knechtschaft Satans seufzen …
Mose gehorchte im Glauben. Er stand auf und ging mit Gott nach Ägypten auf den Platz des Dienstes zurück. Der HERR war es ja, der sein Volk nach Kanaan führte. Er tat alle Wunder. Mose war nur sein Knecht und hatte täglich seine Anweisungen auszuführen.
- Der Herr hat stets in uns getan,
was Er zu tun verlangt.
Wie ganz anders tat nun Mose seinen Dienst. Nicht mehr impulsiv und nach eigenen Ideen, sondern gemäss dem Wort des HERRN und in Abhängigkeit von seinem Willen. Sollten sie wandern oder sich lagern: Er folgte der Wolke (4. Mo 9,15-23). Sollten sie dem HERRN eine Wohnung machen? Mose liess alles anfertigen nach dem Muster, das ihm auf dem Berg Gottes gezeigt worden war (2. Mo 39,41-43).
Dabei hat es aber Mose in seinem Dienst unter dem Volk Israel wahrlich nicht an Schwierigkeiten gemangelt, und man wird beim Weiterlesen lebhaft an die Liste erinnert, in der Paulus die vielerlei Übungen und Prüfungen aufzählt, durch die ein Diener Gottes hindurchgehen muss (2. Kor 6). Aber all diese Schwierigkeiten machten es nur offenbar, dass Mose seine Quellen in Gott hatte und durch seine Gnade von der eigenen Person gelöst worden war.
Als zum Beispiel auf zwei Männer der Geist Gottes kam und sie im Lager weissagten, da rief Josua aus: «Mein Herr Mose, wehre ihnen!» Aber Mose erwiderte ihm ganz erstaunt: «Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des HERRN Propheten sein, dass der HERR seinen Geist auf sie legte!» (4. Mo 11,24-29). Und als gar Mirjam und Aaron in Eifersucht gegen Mose redeten, da kann er schweigen, weil er weiss, dass er in seinem Dienst nicht die eigene Ehre gesucht hat. Dafür aber antwortet Gott ihnen und sagt den beiden, was Er von seinem Knecht Mose hält: «Er ist treu in meinem ganzen Haus; mit ihm rede ich von Mund zu Mund, und deutlich und nicht in Rätseln, und das Bild des HERRN schaut er» (4. Mo 12,8). Ist das nicht ein schönes Zeugnis aus dem Mund Gottes selbst? Dass Er es doch auch von uns sagen könnte!
Während der ersten 40 Jahre dachte Mose bei sich selbst: «Ich bin etwas», am Ende der zweiten 40 Jahre «ich bin nichts». In den letzten 40 Jahren aber stützte er sich ganz auf den, der von sich gesagt hat: «Ich bin, der ich bin», und ehrte Ihn durch Gehorsam, durch Glauben und Vertrauen.