Das Wesen des ewigen Lebens
Jeder Mensch bekommt bei seiner Geburt natürliches Leben. Die Äusserungen dieses Lebens in den ersten Monaten des Kindes sind zierlich und drollig, und manche sehen in ihm ein unschuldiges kleines Wesen. Aber das ändert bald. Schon früh zeigt sich, dass die Sünde, die durch einen Menschen in die Welt gekommen und zu allen Menschen durchgedrungen ist, auch in ihm wurzelt. Diese Wurzel breitet sich in allen Lebensgebieten aus und kann, je nach Umständen und Einflüssen, selbst bei einer unbescholtenen Person zu den schlimmsten Auswüchsen führen, die man ihr nie zugetraut hätte.
Der Erlöste hat bei seiner Bekehrung im Licht Gottes die Sündhaftigkeit seines Lebens, in der er der Gewalt Satans unterworfen war, eingesehen. Er hat darüber Buße getan und durfte durch Glauben an den Herrn Jesus und sein Erlösungswerk am Kreuz ein anderes, das ewige Leben bekommen. Besonders im Evangelium nach Johannes bezeugt der Sohn Gottes selbst an manchen Stellen, dass, wer an Ihn glaubt, ewiges Leben empfängt.
Das Wesen des ewigen Lebens besteht nicht nur darin, dass es kein Ende hat und in Ewigkeit fortbesteht. Gottes Wort sagt das auch vom natürlichen Leben der Menschen, die im Unglauben verharren. Ihr Dasein hört mit dem Tod nicht auf, wenn sie es schon nicht wahrhaben wollen.
Es ist wichtig, dass wir den grossen, wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Lebensarten erfassen: Das ewige Leben ist göttlicher Natur, und wir empfangen es aus Gott, wogegen wir das natürliche Leben auf dem Weg menschlich sündiger Abstammung erhalten haben. Das Wesen des ewigen Lebens wird uns deutlich, wenn wir über den Sohn Gottes nachsinnen, von dem gesagt wird:
«Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben» (1. Joh 5,20).
Das ewige Leben ist in der ganzen Lebenszeit Jesu auf der Erde, unvermischt mit andern Elementen, sichtbar geworden. Damals hat es sich gezeigt, als Er in Knechtsgestalt unter uns Menschen war; einst werden wir es in Ihm, dem Verherrlichten, sehen.
Nie sah man in seiner Menschheit irgendeine Regung des Lebens aus Adam. Es war bei ihm nicht vorhanden. Er wurde vom Heiligen Geist gezeugt, als «das Heilige» geboren, und «Sünde ist nicht in ihm» (Mt 1,20; Lk 1(35; 1. Joh 3,5).
Johannes konnte im Namen der anderen Apostel, die einst das Vorrecht hatten, dreieinhalb Jahre mit dem Herrn Jesus zusammenzuleben, voll tiefer Bewunderung ausrufen: «Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das Wort des Lebens (und das Leben ist offenbart worden, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das bei dem Vater war und uns offenbart worden ist)» (1. Joh 1,1.2).
Schon damals, als die Zwölf mit Ihm durch die Strassen von Judäa und Galiläa wanderten, mussten sie immer wieder über sein Leben staunen. Sie konnten es «hören»; ihre Augen konnten es «sehen» und eingehend «anschauen».
Obwohl sie es in jenen Tagen noch nicht in seiner vollen Bedeutung zu erfassen vermochten, so konnten sie doch wahrnehmen, dass das Leben Jesu so ganz anders war, als das der Menschen ringsumher. Wie oft mussten sie auch feststellen, dass Er in den verschiedenen Umständen, die sie mit Ihm durchlebten, ganz anders reagierte als sie, die doch an Ihn glaubten. Nur ein paar Beispiele:
- Mehrmals besprachen sie untereinander, wer wohl der Grösste sei. Geduldig erklärte Er immer wieder: «Wenn jemand der Erste sein will, so soll er der Letzte von allen und der Diener aller sein» (Mk 9,35). In der Tat, sie sahen bei Ihm jeden Tag, wie Er so lebte und «sanftmütig und von Herzen demütig war» (Mt 11,29). Das machte ihnen auch klar, weshalb Er denen, die Ihn verachteten und schmähten, in solcher Sanftmut begegnen konnte.
- Ein anderes Mal waren die hungrigen Jünger in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen. Unterdessen hatte der Herr, ermüdet von der Reise, durstig und wohl auch hungrig, die Begegnung mit der Frau von Sichar. Als die Jünger mit dem Eingekauften zurückkamen, baten sie Ihn: «Rabbi, iss! Er aber sprach zu ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt … Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe» (Joh 4,31.34). Das gab ihnen, bei denen noch der eigene Wille zuvorderst war, zu denken. Aber Ihn betrachtend, lernten sie später, den Willen Gottes für ihren Weg besser zu erkennen, zu tun und zu lieben.
- Zweifellos fiel den Zwölfen auf, dass ihr Meister sich jeden Tag und oft zum Gebet zurückzog. Kam ihnen da nicht das Wort aus Psalm 109,4 in den Sinn: «Ich aber bin stets im Gebet»? Meistens hörten sie die Worte nicht, die Er zu seinem Vater sprach. Aber wenn Er mit ihnen betete, wurden sie tief beeindruckt von seiner völligen Abhängigkeit von Gott, die dabei zum Ausdruck kam. Kein Wunder, dass einer seiner Jünger Ihn nachher bat: «Herr, lehre uns beten!» (Lk 11,1).
- Die Jünger, die den gläubigen Überrest aus den Juden darstellten, träumten in einem fort vom Reich. Jakobus und Johannes wollten dann gern zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen in seiner Herrlichkeit (Mk 10,35-40). Jesus Christus aber redete zu ihnen vom Kelch des Leidens, den Er trinken würde. Er wollte am Kreuz seinem Leben der Gnade und der hingebenden Liebe unter den Menschen die Krone aufsetzen. Zur Verherrlichung Gottes und zum Heil und ewigen Leben der an Ihn Glaubenden wollte Er dort das Werk vollbringen, das Ihm der Vater gegeben hatte.
Ja, in Ihm, dem Fleisch gewordenen Wort, wurde der Ausspruch in Johannes 1,4 Wirklichkeit: «In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.» Sein Vorbild beleuchtet auch heute allezeit die Wege derer, die jetzt an den Sohn glauben und ewiges Leben haben. So können wir sie durch seine Gnade nach seinem Beispiel ausrichten.
Hindernisse für das ewige Leben in unserem Alltag
Wenn wir nun in Christus dasselbe ewige Leben besitzen, das sich in Ihm in so wunderbarer Weise offenbart hat, warum ist es dann bei uns Gläubigen oft nur so schwach sichtbar?
Oh, wir wissen die Antwort: So leicht geschieht es, dass wir dem Fleisch in uns, dem Leben unserer alten Natur, Raum lassen. Das ist besonders bei dem der Fall, der deren Verdorbenheit zu wenig erkannt hat oder sie vergisst. Aber alles, was aus dieser Quelle kommt, verunreinigt uns, unterbricht die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott und schwächt die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in uns. Wie kann uns da das Leben aus Gott erfüllen?
Wer länger in diesem Zustand dahinlebt, verfällt in einen geistlichen Schlaf, worin er denen gleicht, die noch geistlich tot sind. Einem solchen ruft das Wort zu:
«Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!» (Eph 5,14). «Also lasst uns nun nicht schlafen wie die Übrigen, sondern wachen und nüchtern sein» (1. Thes 5,6).
Wer in dieser Verfassung ist, hat alle Ursache, sich vor Gott tief zu beugen und seine Gnade neu in Anspruch zu nehmen, um zu verwirklichen, was uns Römer 6,11.13.14 sagt:
«Stellt euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit … denn ihr seid … unter Gnade.» «So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid, Gott aber lebend in Christus Jesus.»
Im Zusammenhang mit den schon erwähnten Bibelstellen machen uns die ersten Verse in Kolosser 3 noch auf eine andere Gefahr aufmerksam. Wir sind mit dem Christus auferweckt und sollen daher «das suchen, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.» Wir haben zwar unsere Arbeit, unsere Aufgaben und unseren Dienst auf der Erde; doch soll unser Herz dabei nach oben gerichtet sein, über Christus sinnen, in der reinen und friedlichen Atmosphäre des Himmels leben, als solche, die sein Leben besitzen. Sobald sich aber unser Herz auf das Irdische einstellt, werden uns die Gedanken, die Wünsche, die Beweggründe des alten Menschen erfüllen, den wir doch «ausgezogen haben». Wir können nicht das Trachten nach diesen Dingen mit dem Suchen der Dinge, die droben sind, verbinden. Das dürfen wir nicht vergessen.
In die Praxis umsetzen
Zu unserer Ermunterung stellt Gott im Neuen Testament manche schönen Beispiele von Brüdern und Schwestern vor uns hin, die dem Bild des Herrn Jesus, dem sie in Treue nachfolgten, ähnlich waren, indem sein Leben an ihnen sichtbar wurde. Das war so, obwohl auch sie von sich selbst sagen mussten: «Ich weiss, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.» Und können wir bei den Geschwistern, mit denen wir zusammenleben oder denen wir begegnen, nicht manche liebliche Äusserungen des ewigen Lebens sehen?
«Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen» (Joh 17,3).
So beschreibt der Herr Jesus selbst das ewige Leben, wie es sich in uns Gläubigen, den Kindern Gottes, im Blick auf unsere Beziehung zu Gott kundgibt. Schon hier auf der Erde können wir sie so geniessen. Das «Erkennen», von dem hier die Rede ist, beschränkt sich nicht auf das einmalige Erfassen von Tatsachen und Wahrheiten, die Gott und Jesus Christus betreffen. Dieses «Erkennen» hat begonnen, als wir von neuem geboren wurden und dauert fort (siehe die Anmerkung zu 1. Joh 2,3). Wir dürfen schon jetzt auf der Erde jeden Augenblick durch den Heiligen Geist Gott so vor unseren Herzen haben, wie Er sich in seinem Sohn offenbart hat: als Licht und Liebe. Auch dürfen wir allezeit Jesus Christus durch den Glauben erkennen, damit Er in unseren Herzen wohne. Das herrliche Wissen von der Liebe des Vaters zum Sohn und des Sohnes zum Vater, wie auch der Tatsache, dass wir der Stellung nach schon zu diesem «Reich des Sohnes seiner Liebe» gehören, darf uns ständig begleiten und beglücken.
Ein solch dauerndes «Erkennen» hat praktische Folgen. Im 1. Johannesbrief wird uns gesagt: – «Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht; jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen noch ihn erkannt.» – «Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe» (1. Joh 3,6; 4,7,8).
So sehen wir, dass die lebendige Verwirklichung des ewigen Lebens im Gläubigen einerseits die «Werke des Fleisches» zurückhält und anderseits die praktische Herzensverbindung mit Gott ermöglicht.
In der Ewigkeit
Wie ist doch die vor uns liegende Ewigkeit, wo wir «allezeit bei dem Herrn», im «Haus des Vaters» sein werden, ein grosser Ansporn! Dann wird ohne jede Störung das ewige Leben in uns pulsieren.
Unser Leib ist dann dem Leib der Herrlichkeit Christi gleichförmig (Phil 3,21). Er ist nicht wie hier ein Gefäss, in dem das Fleisch mit seinen bösen und unreinen Gedanken so oft wirken konnte. Die Myriaden der Erlösten, die hier auf der Erde getrennte Wege gingen, werden dann nur von göttlicher, heiliger Liebe erfüllt und für immer ein Herz und eine Seele sein.
Wir werden dann ganz auf die Liebe des Vaters, offenbart im Herrn Jesus, gerichtet sein und sie in ihrer Fülle erkennen. So wenig wie sie abnehmen kann, so wenig werden unsere Herzen erkalten oder abgelenkt werden. In immer frischer Anbetung bringen wir dann dem Vater die Herrlichkeiten Christi dar, die wir dort unaufhörlich betrachten und völlig erfassen können. Und dem Lamm, wie geschlachtet, bringen die Tausende mal Tausende in tiefer Liebe die Ehre und den Ruhm, die seiner würdig sind. Oh, wann wird diese herrliche Ewigkeit anbrechen?