Siehe, mein Knecht! (2)

Jesaja 53,1-3

In den ersten Versen dieses Kapitels legt der Geist Gottes dem Propheten das in den Mund, was der gläubige Überrest aus den Juden in künftigen Tagen empfinden wird, wenn er der unaussprechlichen Leiden und der tiefen Schmach gedenkt, die einst inmitten seines Volkes über den Knecht des HERRN, über Jesus Christus gekommen sind.

In der kommenden Zeit der Drangsal wird sich in einem Teil des jüdischen Volkes ein gewaltiger Gesinnungswechsel vollziehen. Der HERR wird «den dritten Teil ins Feuer bringen» und sie «läutern, wie man das Silber läutert, und sie prüfen, wie man das Gold prüft» (Sach 13,9). Sie werden durch tiefe Übungen des Herzens und Gewissens gehen und, belehrt durch den Geist, endlich verstehen, dass der, den Israel verworfen und gekreuzigt hat, der ihm von Gott verheissene und gesandte Messias war. Wegen dieses schrecklichen Vergehens werden sie in eine grosse Wehklage ausbrechen (Sach 12,10-14). Mit gläubigen Herzen und geöffneten Augen betrachten sie dann das Leben, den Dienst und die Leiden des Knechtes des HERRN und werden Ihn bewundernd anbeten. Jesaja 53 zeigt, zu welchen Schlussfolgerungen sie kommen.

Vers 1

«Wer hat unserer Verkündigung geglaubt?» fragt hier Jesaja und macht sich eins mit den übrigen Propheten, die den Kindern Israel das Kommen dessen ankündigten, der «sein Volk erretten würde von ihren Sünden» (Mt 1,21). Auf dieser Grundlage würde Er sie später in sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit einführen.

Aber die Mehrzahl des Volkes hatte kein Verlangen nach einer solchen Errettung und Erlösung. Einen mächtigen Fürsten, der sie ohne diese Vorbedingung der Errettung aus ihrem sündigen Zustand zur ersten der Nationen dieser Erde machen würde – den hätten sie willkommen geheissen, aber nicht diesen Jesus von Nazareth in seiner Niedrigkeit. Als Er geboren war und die Menge der himmlischen Heerscharen voll Freude seine Geburt ankündigten, da nahmen Ihn die Seinen nicht an (Joh 1,11). Nur die geringen Hirten glaubten der Verkündigung, wie auch ein Simeon, eine Prophetin Anna und einige andere, «die auf Erlösung warteten in Jerusalem» (Lukas 2).

«Und wem ist der Arm des HERRN offenbar geworden?» – In vielen Stellen des Alten Testaments (z.B. 5. Mose 11,2-5) wird zum Ausdruck gebracht, dass der Arm des HERRN die Kinder Israel durch viele Wunder und durch das Passah aus der Knechtschaft Ägyptens und vom Gericht erlöst und sie durch den ausgetrockneten Pfad im Schilfmeer von ihrem Feind befreit habe. Als aber der Knecht des HERRN auf der Erde war, bewirkte der Arm Gottes durch Ihn noch viel Grösseres und Herrlicheres. Da konnte nun nach dem ewigen Ratschluss Gottes das Werk der Erlösung und Befreiung geschehen, wodurch das Volk Israel nicht nur äusserlich und zeitlich errettet werden sollte. Durch Glauben an dieses Werk wird der Überrest eine ewige Erlösung erleben, durch den Geist von neuem geboren werden und neues Leben empfangen. Der neue Bund Israels mit seinem Gott wird einzig auf der Grundlage des Blutes ruhen, das am Kreuz Christi für das Volk (Lk 22,20) vergossen wurde. Das allein gibt ihm das Anrecht auf die Segnungen des Tausendjährigen Reiches. Ja, wie unfassbar gross ist doch das Werk, das der «Arm des HERRN» auf diese Weise zustande gebracht hat! Es ist gewaltiger noch als seine Schöpfung (Jer 27,5). Damals hat Er seine grosse Kraft, seine Weisheit und Göttlichkeit kundgetan; am Kreuz auf Golgatha aber seine Heiligkeit, wie auch seine unendliche Liebe und Gnade für ein sündiges Menschengeschlecht, sowohl für Israel als auch für die Nationen. In Jesaja 49,6 sagt Gott zu seinem Knecht: «Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde.»

Aber «wem» ist der Arm des HERRN offenbar geworden? Wer hat das in Christus bewirkte Heil Gottes erkannt und im Glauben angenommen? Als der Herr Jesus auf der Erde war, folgte Ihm nur eine «kleine Herde» nach. Und bei seiner Erscheinung für sein Volk nach den Gerichten wird es nur ein Überrest sein, der übrig bleibt, um Ihn aufzunehmen. Aber dieser kleinen Herde hat der Vater das Reich gegeben (Lk 12,32), das dann auch die Erlösten aus den zehn Stämmen und die aus den Nationen umfassen wird, die dem Evangelium des Reiches glauben werden.

Vers 2

«Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.» Für Gott ist das ganze Geschlecht Adams, des ersten Menschen, ein dürres Erdreich ohne Leben. Auch Israel macht da keine Ausnahme (vgl. Röm 3,9-20). Als aber Jesus als Sohn des Menschen geboren wurde und auf der Erde lebte, sah Gott in Ihm einen ganz anderen Menschen vor sich aufwachsen: In Ihm war Leben (Joh 1,4), das ewige Leben, das bei dem Vater war und uns offenbart worden ist» (1. Joh 1,2). Alle seine Gedanken, Worte und Werke waren Äusserungen dieses Lebens; Er tat daher allezeit das Gott Wohlgefällige (Joh 8,29). Und Er ist gekommen, «damit sie – alle Menschen, die zum dürren Erdreich gehören, durch den Glauben an Ihn – Leben haben und es in Überfluss haben» (Joh 10,10), ob sie nun aus Israel oder aus den Nationen sind. Welch ein Wunder der Gnade Gottes!

«Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten.» Das ist das menschliche Werturteil über den Sohn des Menschen und steht im krassen Gegensatz zu dem, was Er, gemäss dem ersten Teil dieses Verses, für Gott ist. Oh, der Mensch blickt auf das Äussere, auf die sichtbare Entfaltung von Macht, Pracht und Schönheit. Für die moralische Herrlichkeit, in der der Herr Jesus das Wesen Gottes im Fleisch offenbarte, hat er kein Interesse. Das muss auch der künftige gläubige Überrest bekennen, wenn er sich rückblickend einsmacht mit den Juden zur Zeit Jesu. Er wird dann aber eine ganz andere Wertschätzung für Ihn haben und voll Bewunderung ausrufen: «Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern … Alles an ihm ist lieblich» (Hld 5,15.16).

Vers 3

«Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt; er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet» – Dieser Vers versetzt uns wieder in die Leidensstunden des Knechtes Gottes, in denen Er in die Hände sündiger Menschen überliefert war. Da kamen das Böse und die Feindschaft gegen Ihn ungehindert aus ihren Herzen hervor. Kaum hatte der Hohepriester vor dem Synedrium sein freventliches Todesurteil gegen den ausgesprochen, der sich vor Ihm als Sohn Gottes bezeugt hatte (Mt 26,63-68), so brach eine ununterbrochene Flut von Verachtung, Hass und Grausamkeit über Ihn herein, die erst verebbte, als Er sein Leben in den Tod gab. Sofort spien sie Ihm ins Angesicht, schlugen Ihn mit Fäusten, schlugen ihm ins Angesicht und verspotteten Ihn als Propheten.

Vor allem waren es die «hochgestellten Männer» (siehe Fussnote in unserem Vers), also die Führer des Volkes, die Jesus verachteten. Sie gingen darin den anderen voran und waren die treibende Kraft zu seiner Verwerfung.

Was war denn so verächtlich an Ihm? Dass Er – wie wir sahen – als Christus ohne glänzende Gestalt und Pracht zu ihnen gekommen war? Das war nur ein nebensächlicher Grund ihrer feindseligen Geringschätzung. Auch konnten sie Ihn keiner Sünde überführen. Er hatte nichts getan, was bei ihnen gerechterweise Verachtung hätte hervorrufen können. Sie mussten ja falsche Zeugen aufbieten, um gegen Ihn Anklage erheben zu können. Nein, da waren andere Dinge, die bei ihnen diese böse Reaktion hervorriefen:

  • Sie wollten die ersten sein unter dem Volk, und wenn unser Herr in seinem Dienst göttliche Wunder tat und durch seine Verkündigung grosse Menschenmengen anzog, dann besprachen sie sich immer wieder, wie sie Ihn umbringen könnten (z.B. Joh 11,45-54). Selbst Pilatus wusste dann, dass sie Ihn aus Neid überliefert hatten.
  • Als das wahrhaftige Licht hatte der treue Zeuge vor den Volksmengen den Pharisäern und Schriftgelehrten die Maske der religiösen Heuchelei vom Gesicht gezogen (Mt 23). Das konnten sie Ihm nicht vergessen. Sie hassten dieses Licht, das ihre Werke blossstellte (Joh 3,19.20).
  • Der tiefste Grund ihrer Verachtung aber wird in Psalm 69,8.10 genannt: «Deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht … und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.» Der Sünder ist als Sklave Satans ein Feind Gottes (Röm 5,10; Joh 8,44) und daher auch seines Sohnes, der Ihn offenbarte.

Aus allen diesen Gründen war es den Obersten des Volkes ein Wohlbehagen, den Knecht Gottes in die tiefste Tiefe hinabzustossen. Sie wollten oben sein. Aber Jesaja, der hier die Stimme des sich anklagenden gläubigen Überrestes der Zukunft ist, redet nicht nur von den Führern, sondern ebenso vom Volk. Dieser sagt auch: «Er war verachtet und wir haben ihn für nichts geachtet.» Das Volk schrie: «Er werde gekreuzigt! … sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!»

In der Tat, der heilige Dulder fühlte sich von allen Menschen «verlassen». Da war keine einzige Stimme, die sich vor Pilatus für Ihn einsetzte. Vor dem Kreuz sah Er nur eine schaulustige Menge.

Welche menschliche Feder vermöchte die Grösse seiner Schmerzen und die Tiefe seiner Leiden zu beschreiben? Sie begannen nicht erst nach seiner Gefangennahme in Gethsemane:

  • Die grosse Bosheit des Menschen, die nach dessen Fall zutage trat, hatte Ihn von jeher «in sein Herz hinein geschmerzt» (1. Mo 6,6). Und dieser Bosheit und Sünde sah Er sich als Mensch hier auf der Erde täglich gegenübergestellt. Viel mehr als wir Erlöste, litt Er, der Reine und Heilige darunter. Er weinte am Grab des Lazarus, dass durch die Sünde der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist.
  • Er empfand es tief, dass Ihm für die unbeschreibliche göttliche Liebe, die Er unter den Menschen fortwährend offenbarte, immer wieder Feindschaft zuteilwurde (Ps 109,4).
  • Auch der alltägliche «grosse Widerspruch der Sünder» gegen seine Person, seine Worte und Werke, war eine Quelle von Leiden, die Er ununterbrochen erdulden musste (Heb 12,3).

Aber in seinen letzten Tagen und besonders am Kreuz, wo einzelne wie vor einem Hingerichteten ihr Angesicht vor Ihm verbargen, erreichten seine Schmerzen und Leiden, die Er um unsertwillen auf sich genommen hat, ihren schrecklichen Höhepunkt. Wie ist doch der «Mann der Schmerzen» unserer ewigen Anbetung würdig!