Selbstverleugnung

«Wenn wir nur jeden Tag ein wenig Selbstverleugnung übten, würden wir auf dem Weg zum Himmel ungehindert vorankommen.» Dieser kurze Ausspruch enthält eine Fülle nützlicher, praktischer Wahrheit.

Der Weg der Selbstverleugnung ist des Christen wahrer Weg. Christus sagt: «Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf und folge mir nach» (Lk 9,23). Wohlgemerkt, es heisst nicht, «der verleugne gewisse Dinge, die ihm gehören». Nein, er muss «sich selbst verleugnen»; und das ist eine tägliche Übung. Jeden Morgen, wenn wir aufstehen und aufs Neue den Pfad des täglichen Lebens betreten, steht die gleiche grosse und äusserst wichtige Aufgabe vor uns, nämlich diese: uns selbst zu verleugnen.

Dieses hassenswerte Ich wird uns auf jedem Schritt begegnen; denn obwohl wir durch Gnade wissen, dass «unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist» – dass er tot und begraben ist, entfernt aus der Sicht Gottes, gilt dies doch nur für unsere Stellung in Christus, wie Gott uns in Ihm sieht. Wir wissen leider, dass das Ich täglich, stündlich, ja jeden Augenblick verleugnet, gerichtet und unterworfen werden muss. Der Grundsatz unserer Stellung muss sich in der Praxis auswirken. Gott sieht uns vollkommen in Christus. Wir sind nicht im Fleisch, aber das Fleisch ist in uns, und es muss verleugnet und für gekreuzigt gehalten werden in der Kraft des Heiligen Geistes.

Zudem sei daran erinnert, dass nicht nur die groben Seiten des Ichs verleugnet werden müssen, sondern auch die vornehmen und gebildeten – nicht allein die schlechten Gewohnheiten, sondern auch die kultivierten Neigungen – nicht nur das Ich in seiner Rauheit und Grobheit, sondern auch in seinen geschliffensten und elegantesten Formen.

Das sieht man nicht immer. Nur zu oft geschieht es, dass wir, wie Saul, das, was wir für «das Beste» halten, verschonen und die Schärfe des Schwertes nur über «das Geringe und Schwächliche» bringen. Das wird niemals genügen. Das Ich muss verleugnet werden. Ja, das Ich in der ganzen Länge und Breite, die es umfassen. Nicht nur einige Zweige, auch der grosse Hauptstamm – nicht bloss einige Zusätze der Natur, sondern die Natur selbst. Es ist verhältnismässig einfach, gewisse Dinge, die zum Ich gehören, zu verleugnen, während das Ich die ganze Zeit genährt und befriedigt wird. Ich mag meiner Esslust widerstehen, um meinen religiösen Stolz zu nähren. Ich mag selbst Hunger leiden, um meiner Liebe zum Geld zu dienen. Ich mag abgenutzte Kleider tragen, während ich stolz bin auf kostbare Möbel und eine prächtige Wohnungsausstattung. Daher die Notwendigkeit erinnert zu werden, dass wir uns selbst zu verleugnen haben.

Und wer kann ermessen, was in diesem schwerwiegenden Ausdruck Selbstverleugnung alles enthalten ist? Das Ich betätigt sich überall. In der eigenen Kammer, in der Familie, im Laden, im Eisenbahn-Abteil, auf der Strasse – überall, zu allen Zeiten und unter allen Umständen. Es hat seine Neigungen und seine Gewohnheiten, seine Vorurteile und Vorliebe, seine Zuneigungen und Abneigungen. In all diesem muss es verleugnet werden. Wir mögen uns oft dabei ertappen, dass wir unser eigenes Ebenbild lieben. Das muss mit ungewöhnlicher Entschlossenheit verleugnet werden.

In religiösen Dingen lieben wir jene, die uns passen, die mit uns einverstanden und uns gleichgesinnt sind, die unsere Meinung schätzen oder die Art und Weise bewundern, wie wir sie vorbringen. Alles dieses muss unter die scharfe Klinge des Messers der Selbstverleugnung kommen. Wenn das nicht der Fall ist, kann es sein, dass wir einen lieben treuen Gläubigen verachten, nur wegen etwas, das uns nicht passt. Anderseits werden wir einen leeren, wertlosen Charakter über alles rühmen, nur weil er einige Eigenschaften hat, die wir gern haben.

Tatsächlich gibt es unter all den Zehntausenden von Formen, die das Ich annehmen kann, keine, die so hassenswert ist wie die religiöse. Gekleidet in dieses Gewand, wird es sich – anstelle des Herrn – zum Mittelpunkt einer Gruppe machen, seine Zuneigungen auf diesen engen Kreis beschränken und das christliche Gemeinschaft nennen. Weiter wird es jeden von diesem verengten Kreis gewissenhaft ausschliessen, der zufällig in einem Punkt anderer Meinung ist oder einen anderen Blickwinkel hat. Es wird sich hartnäckig weigern, sich den Bedenken und Schwachheiten anderer anzupassen. Es wird diesen gegenüber nicht um Haaresbreite nachgeben, während es zur gleichen Zeit jede Menge an Wahrheit aufgeben wird, um mit seinesgleichen Gemeinschaft halten zu können. Alles dieses ist schrecklich und wir sollten sehr wachsam sein dagegen.

Beim sorgfältigen Lesen von 1. Korinther 8 – 10 werden wir eine sehr wertvolle Lektion über die Selbstverleugnung finden. Diesen ganzen Abschnitt könnte man mit den Worten überschreiben: «Sich selbst in jeder Hinsicht aufgeben, aber keinen Zollbreit der Wahrheit.» Das sollte das Motto jedes gläubigen Christen sein. Wenn es um das Ich geht, gilt es auf alles zu verzichten; handelt es sich aber um die Wahrheit, darf nichts aufgegeben werden. «Wenn eine Speise meinem Bruder Anstoss gibt, so will ich für immer kein Fleisch essen, um meinem Bruder keinen Anstoss zu geben» (1. Kor 8,13). Ein edler Entschluss! Mögen wir Gnade haben, ihn auch durchzuführen!

Und weiter: «Denn obwohl ich von allen frei bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich so viele wie möglich gewinne … Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige errette» (1. Kor 9,19-22). «Niemand suche das Seine.» Gerade das, was wir so gerne bereit sind zu suchen. «Sondern das des anderen.» Das letzte, wozu wir uns geneigt fühlen.

Es ist wichtig und sehr nötig zu beachten, dass, wenn der Apostel erklärt, dass er «allen alles geworden» sei, es sich ausschliesslich um eine Sache der Selbstverleugnung und nicht um ein «Schwimmen mit dem Strom» handelte. Er war weder nachsichtig gegen sich selbst, noch gab er ein einziges Jota der Wahrheit Gottes auf. Vielmehr machte er sich zum Knecht aller zu ihrem Wohl und zu Gottes Verherrlichung. Das ist unser Vorbild. Möge uns der Herr mit Gnade ausstatten, um es nachzuahmen! Wir sind berufen, nicht nur unsere Ansichten und Gesichtswinkel, unsere Vorurteile und Vorliebe aufzugeben, sondern auch unsere persönlichen Rechte zum Vorteil von anderen. Das ist des Christen tägliches Geschäft, und indem er befähigt ist, dieser Aufgabe nachzukommen, wandelt er in den Fussstapfen des Herrn Jesus und kommt auf dem Weg zum Himmel leicht voran.