Im Anfang war das Wort (2)

Johannes 1,4-5

Der dritte Vers hat uns «das Wort» in seinen Beziehungen zur Schöpfung gezeigt: Es ist der Schöpfer.

Der vierte Vers beschreibt nun seine Beziehungen zu den Menschen, die ein Teil der Schöpfung sind, aber besondere Gegenstände der Ratschlüsse Gottes, wie auch der Gedanken und Zuneigungen dessen, der sich «das Wort» nennt. In den Sprüchen finden wir in der Tat diese Worte der ewigen Weisheit: «Meine Wonne war bei den Menschenkindern» (Spr 8,31).

«In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen»

Im vorangehenden Vers sahen wir einerseits das nichterschaffene, ewige Wort, anderseits aber die Dinge, die durch das Wort geworden sind und nun ausser Ihm bestehen. Hier nun ist etwas, das in Ihm ist: das Leben. Auch das ist ein Kennzeichen der Göttlichkeit seiner Person; denn im Gegensatz zu Ihm kann jedes geschaffene Wesen das Leben nur von aussen her empfangen. Die Aussage: «In ihm war Leben» macht also den dritten Vers noch besser verständlich, indem sie ihm gleichzeitig einen tieferen Sinn gibt. «Das Wort» ist nicht ein blosser Begriff, sondern eine Wirklichkeit, eine lebendige Person und – was noch mehr ist – es besitzt in sich selbst das Leben, in absoluter, unabhängiger Weise. «Das Wort» ist somit die Quelle allen Lebens.

Aber was ist das Leben? Wodurch kennzeichnet es sich?

Dass ein Ding besteht, ist noch kein Beweis dafür, dass es Leben besitzt. Ein Stein oder ein Stern bestehen, aber man kann nicht sagen, dass sie leben. Leben ist ein tätiges Bestehen, vereint mit dem Bewusstsein und dem Genuss der Existenz in dem ihm zugewiesenen Bereich.

Die Pflanzen leben, denn ihre Entstehung und ihre Entfaltung zeugen von einer gewissen Aktivität. Aber sie haben kein Bewusstsein und wissen nicht, dass sie leben.

Die Tiere leben – ich rede vor allem von den höheren Tieren, denn viele von ihnen haben nur ein vegetatives, unbewusstes Leben. Sie leben, wenn sich ihre Funktionen gemäss den Gesetzen ihres Organismus erfüllen, und sie haben den Instinkt, für den Unterhalt ihres Lebens zu sorgen, es zu verteidigen und vor allem zu fliehen, was ihm schaden könnte. Man kann ihnen nicht eine gewisse Intelligenz und den Genuss des Lebens absprechen, das sie besitzen. Aber ihr Leben ist von Dunkelheit umhüllt und beschränkt sich auf die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse.

Über diesem allem aber besteht das mit Verstand begabte, sittliche und religiöse Leben, diese kostbare, dem Menschen verliehene Gabe. Er ist nicht, wie die Tiere, durch ein Wort des Schöpfers aus der Erde geboren. Er ist vielmehr das Ergebnis der Ratschlüsse Gottes, entsprechend dem Wort: «Lasst uns Menschen machen in unserem Bild.» In seinen durch Gottes Hände gebildeten Leib hat Gott den Odem des Lebens gehaucht. Er besitzt also das Leben einer tätigen Existenz, hat das Bewusstsein davon und geniesst es. Sein denkendes Wesen lebt durch die Ausübung seiner Fähigkeit, zu erkennen und zu verstehen. Sein sittliches Wesen, das nicht ohne den Verstand bestehen kann, lebt, wenn seine Handlungen bestimmt werden durch die rechten Beweggründe, und seine Zuneigungen auf ihren wahren Gegenstand gerichtet sind. Sein religiöses Wesen lebt durch die Erkenntnis und den Genuss Gottes und seiner Beziehungen zu Ihm: Das ist das ewige Leben. Aber, um welche Art von Leben es sich auch handeln mag – das Wort ist dessen Quelle; in Ihm ist die Fülle des Lebens. Um mich an das Höchste und Wichtigste zu halten, führe ich die Stelle an: «Gott hat uns ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in seinem Sohn» (1. Joh 5,11). Dem Menschen, als dem denkenden und sittlichen Wesen ist das göttliche, das ewige Leben mitgeteilt worden. Er ist das bevorzugte Geschöpf, das allein dieses Leben geniessen kann. Wie man dazu gelangt, gehört jetzt nicht zu meinem Thema.

So war also das Leben, das ganze Leben im Wort. Als Er, der das Wort ist, die Wesen schuf, hat Er ihre Lebensbedingungen bestimmt, und dies besonders für den Menschen. Das dem Menschen mitgeteilte Leben umfasst: wahre Erkenntnis, Tätigkeit zum wahrhaft Guten hin, völlige, unveränderliche Glückseligkeit, die noch zunehmen kann. Dieses glückliche Leben, das einzige, das diesen Namen verdient, ist also in Ihm; Er besitzt es in Fülle, ohne dass es Ihm je mitgeteilt worden wäre.

Ich sagte, eines der Merkmale des Lebens sei die Tätigkeit. Um sich zu entfalten, benötigt es einen Gegenstand, gegen den es sich ausübt. So sahen wir, dass der Ausdruck «das Wort war bei Gott» eine Bewegung zu Gott hin voraussetzt, eine Wirksamkeit des Lebens, das zu seinem Gegenstand hin drängt, indem es sich in der Liebe und somit in der Gemeinschaft zwischen dem Sohn und dem Vater offenbart.

Die Tätigkeit des Lebens, das im «Wort» ist, hat sich aber auch nach aussen hin ausgebreitet, und dies nicht nur in der Schöpfung; es gab sich gegenüber den Menschen kund – seine Wonne war bei den Menschenkindern. Es hat sich offenbart, um sie zu erleuchten. Das Leben war das Licht der Menschen. Was wäre das Leben ohne das Licht?

Nachdem uns also das Wort in seiner Beziehung zu Gott und zur Schöpfung gezeigt wurde, sehen wir es hier in Beziehung zur Menschheit. In Ihm war Leben, das sich mitteilte, und dieses göttliche Leben war das Licht der Menschen. Diese Beziehung zwischen Leben und Licht, die aus derselben Quelle kommen, findet sich auch in Psalm 36,10: «Denn bei dir ist der Quell des Lebens, in deinem Licht werden wir das Licht sehen», hier im Johannes-Evangelium aber in einem tieferen Sinn.

Das Licht ist hier nicht die Intelligenz, die der Mensch besitzt und ihn befähigt, in seiner Reichweite die Dinge zu erkennen und zu unterscheiden. Wenn Jesus sagt: «Ich bin das Licht der Welt», so geht es um unendlich viel mehr. Das Leben, das im Wort war und den Menschen mitgeteilt wird, kommt in ihren Verstand und in ihr sittliches Wesen, um ihnen die Wahrheit zu bringen. Es setzt sie in den Stand, Gott zu erkennen, und gibt ihnen gleichzeitig die wahre Erkenntnis der Dinge, ihrer Beziehungen unter sich und zu Gott. Dieses Licht ist also die Wahrheit, die die Seele der Menschen erleuchtet. Jesus, der das Licht ist, sagt auch «Ich bin die Wahrheit». Man kann das Leben Gottes nicht vom Licht trennen. Wer dieses Leben lebt, erkennt Gott; aber dieses Leben und diese Erkenntnis sind nicht nur im Verstand, sondern umfassen das ganze sittliche Wesen.

Das also war es, was die Seele des aus Gottes Händen hervorgegangenen Menschen erleuchtet. Im Wort, das ihn erschuf, hat er das Leben, und in diesem Leben die Erkenntnis Gottes. Wenn die Sünde jetzt die Finsternis und den Tod eingeführt hat, so lasst uns daran denken, dass das Leben immer noch im Sohn ist und dass Er immer noch das in die Welt gekommene Leben ist. Das Leben, das Er jetzt dem mitteilt, der an Ihn glaubt, ist das ewige Leben; der Glaubende besitzt es schon hier auf der Erde, und bald wird es das ewige Leben in der Herrlichkeit sein. «Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen» (Joh 1,3).

Im fünften Vers wird etwas Neues eingeführt, das vorher nicht bestand: die Finsternis.

«Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst»

Es wird nicht gesagt, dass das Licht in der Finsternis schien (Vergangenheit), was vermuten liesse, dass die Finsternis – wie das Licht – immer bestanden habe. Das würde zur Lehre führen, dass die zwei Grundsätze: der Grundsatz des Guten und der Grundsatz des Bösen, die einander entgegengesetzt sind, immer bestanden hätten, wie es Irrlehrer gelehrt haben. Nein, das Licht scheint in der Finsternis.

Es handelt sich hier um sittliche Finsternis, um Unwissenheit in Bezug auf Gott und auf das wahrhaft Gute, das zur Verkehrtheit der Gedanken und der Zuneigungen führt (Eph 4,18; Röm 1,21). Diese Finsternis ist eingeführt und verbreitet worden im Verstand, in der Vernunft und im Herzen des Menschen, durch die Sünde, die ihn von Gott, der Quelle des Lichts und des Lebens, entfernt hat. Die Finsternis ist das Reich des Todes. Die ganze Welt wird von ihr eingehüllt; sie bedeckt sie wie ein Leichentuch.

Wohl hat der Mensch wunderbare Fähigkeiten, die er im weiten Gebiet der Schöpfung ausübt. Wie viele Dinge entdeckt und ergründet doch sein Verstand! Aber sein ständig wachsendes Wissen, das er «Licht» nennt, führt ihn nicht aus der Finsternis heraus, in die die Sünde ihn eingetaucht hat: Unwissenheit über Gott und seine Gedanken, Entfernung von Ihm, Zustand des Todes bezüglich der geistlichen und göttlichen Dinge.

Doch gibt es ein Licht, aber nur ein einziges, das diese Finsternis verscheuchen kann. Es ist nicht im Menschen und seinen Fähigkeiten; seine Anstrengungen verhelfen ihm nicht dazu; selbst die höchste Wissenschaft wird es nicht herbeiführen. Es besteht ausserhalb des Menschen; es ist das «Licht des Lebens», Christus, das göttliche Leben.

Dieses Licht scheint in der Finsternis; aber die Finsternis hat es nicht erfasst oder begriffen. Das ist charakteristisch für den Zustand des Menschen. Wenn im physischen Bereich das Licht scheint, entflieht die Finsternis. Hier aber handelt es sich um einen sittlichen Zustand, und da wird das Licht, durch seine Wirkung allein, die Finsternis, die seiner Natur entgegengesetzt ist, nicht vertreiben. Es macht nur die Unvereinbarkeit und Gegensätzlichkeit zwischen Ihm und der Finsternis sichtbar und deutlich. Mit der sittlichen Finsternis ist beim natürlichen Menschen ein Wille verbunden, der dem Willen Gottes entgegensteht; er liebt die Finsternis mehr als das Licht, weil er sich in seinen bösen Werken gefällt, den Früchten seines sittlichen Wesens, die seinen Leidenschaften und Begierden dienen (Joh 3,19.20). Darum lesen wir in Johannes 1,10.11: «Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht. Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an.» – «Der natürliche Mensch … nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist» (1. Kor 2,14); es ist ein göttliches Werk nötig, damit, was Finsternis war, zu Licht wird; er muss eine neue Schöpfung werden.

Die Tatsache bleibt bestehen: «Das Licht scheint in der Finsternis; und die Finsternis hat es nicht erfasst.» Die Welt als Ganzes liegt in der Finsternis. Das ist ihr Zustand, und sie hat das Licht – Christus – nicht erfasst. Sehen wir nicht, wie die beiden Sphären völlig unvereinbar sind? Welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis? Ernste Warnung für die, die durch die Gnade Licht geworden sind im Herrn!

Welch wunderbare Steigerung in diesen fünf Versen! Von der Unendlichkeit der Ewigkeit steigen wir zum Zustand herab, in dem sich der Mensch befindet. Gott, das Wort, der Mensch, das alles finden wir darin. Gott ist durch das ewige Wort in seiner Fülle hervorgetreten, um zu erschaffen und indem Er sich durch das Wort den Menschen als Leben und als Licht kundgab. Dann die Feststellung der tieftraurigen Tatsache der Finsternis: der Mensch in seinem sündigen Zustand begreift und erfasst das Licht nicht. Aber nichts vermag den Strom der göttlichen Gnade aufzuhalten. Und durch diese mächtige Gnade treten Menschen aus der Finsternis hervor, sondern sich davon ab und kommen zu dem Licht. Dafür haben wir auch im Johannes-Evangelium manche Beispiele.