Mose hatte eine gewaltige Lebensaufgabe: Er war berufen, das Volk Gottes aus der Sklaverei Ägyptens zum verheissenen Land zu bringen. Die Reise dauerte vierzig Jahre. Sie führte durchs Rote Meer und durch öde, unfruchtbare, scheinbar endlose Wüste. Das Volk bestand aus 600'000 gemusterten Männern, die zum Heer auszogen. Zählen wir noch ihre Frauen, die Alten und die zahlreichen Kinder bis zu zwanzig Jahren dazu, so kommen wir auf mehrere Millionen – ein riesiger Zug, der Familienzelte sowie zahlloses Gross- und Kleinvieh mitführte.
Mose hatte viele Funktionen auszuüben. Er war der sichtbare Führer Israels. Er war Mittler zwischen Gott und dem Volk. Als solcher überbrachte er ihm das Gesetz, Gottes Gebote und Anweisungen. In allen Uneinigkeiten und Verfehlungen unter ihnen, wenigstens in «jeder grossen Sache», musste er ihr Richter sein (2. Mo 18,13-27). Im Kriegsfall war er der oberste Feldherr. Es lag ihm ob, das ganze Leben des Volkes zu überwachen.
Nicht Mose hatte nach dieser Aufgabe von einem solchen Ausmass gegriffen. Geltungstrieb und Machtgelüste lagen ihm fern. Die vierzig Jahre in der Wüste, in der Schule Gottes, hatten ihn klein gemacht. Am liebsten hätte er fortgefahren, die Herde Jethros in der beschaulichen Stille der Wüste zu weiden. Es zog ihn nicht nach Ägypten, zu seinen unverständigen und undankbaren Volksgenossen (Apg 7,24-29).
Aber eben, Gott verfügt über uns Gläubige. Wir gehören Ihm. Wenn Er uns als seine Werkzeuge gebrauchen will, wer darf dann entgegnen: «Lieber nicht!»?
So war Mose zu seinem ausserordentlichen Dienst berufen worden. Zu jeder Zeit, in allen Mühen, Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Widerständen konnte er sich sagen: Gott hat mich an diesen Platz gestellt.
War Mose imstande, diese Aufgabe zu erfüllen? Hatte er Weisheit, Kraft und alle Voraussetzungen dazu? Diese Frage war von Anfang an geklärt. Gott sagte zu ihm: «Ich werde mit dir sein» (2. Mo 3,12). Das war viel wichtiger als die natürlichen Fähigkeiten und die staatsmännische Ausbildung seines Dieners am Hof des Pharaos. Er leistet ja den Hauptteil an den Aufgaben, die Er uns zuteilt.
Das hatte Mose schon in den ersten zwei Jahren seines Dienstes feststellen können. Gott war mit seinem Mund und lehrte ihn, was er reden sollte, vor dem Volk und vor dem Pharao (2. Mo 4,12). Er war es, der Ägypten mit grossen Wundern schlug und Israel so aus der Knechtschaft befreite. Am Schilfmeer war Er der Handelnde; Er stritt für das Volk; sie konnten still sein (2. Mo 14,14). In der Wüste gab Er ihnen jeden Morgen «Brot aus dem Himmel» und tränkte sie aus dem Felsen, «der nachfolgte». Gott leitete sie; Er zog vor ihnen her in der Wolke und in der Nacht in einer Feuersäule. Er sorgte dafür, dass ihre Kleider nicht zerfielen und ihr Fuss beim langen Wandern nicht geschwollen wurde (5. Mo 8,4). Gerieten sie mit den Feinden in Konflikt, so war Er es, der «die grossen Könige schlug».
Wie wahr ist doch, was der HERR seinem Volk mehrmals zurufen liess: «Ihr habt gesehen … wie ich euch auf Adlersflügeln getragen und euch zu mir gebracht habe» (2. Mo 19,4). – «In der Wüste, wo du gesehen hast, dass der HERR, dein Gott, dich getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Weg, den ihr gezogen seid» (5. Mose 1,31).
Mose blieb in der Ausübung seines Dienstes in steter Verbindung mit Gott. Und so ging es gut. «Er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren» (Heb 11,27). Gott redete mit ihm von Mund zu Mund, und deutlich und nicht in Rätseln, und das Bild des HERRN schaute er (4. Mo 12,8). Unterwürfigkeit unter Gottes Gesetz, Liebe zu seinem Volk und ein grosses Verantwortungsbewusstsein kennzeichneten ihn. Mit ganzer Hingabe suchte er seine Aufgaben zu erfüllen, und Gott gab ihm mehrmals das Zeugnis: «Mose ist treu in meinem ganzen Haus» (4. Mo 12,7; Heb 3,2.5).
Aber nun kam ein böser Tag für diesen treuen Knecht (4. Mo 11). Der Unglaube und die Widerspenstigkeit des Volkes trieben einem Höhepunkt zu und traten beim Bericht der Kundschafter voll zu Tage (4. Mose 13 und 14). Schon in Tabera hatte sich das Volk beklagt; der Zorn des HERRN war erglüht, und ein Feuer hatte unter ihnen gebrannt (4. Mo 11,1-3). Doch die Unzufriedenheit dauerte an. Angeführt vom «Mischvolk» in ihrer Mitte, wurden auch die Israeliten lüstern nach der Speise Ägyptens. Ohne diese fühlte sich ihre Seele dürr. Das tägliche Manna konnten sie nicht mehr ausstehen.
Ging Mose jetzt durchs Lager, hörte er jeden am Eingang seines Zeltes weinen. Überall erhoben sich Fäuste gegen ihn, den sichtbaren Führer. Jeder rief: «Gib uns Fleisch, dass wir essen!» Und zu all dem entbrannte der Zorn des HERRN aufs Neue.
Da war es «übel in den Augen Moses». Sein Verantwortungsbewusstsein als Führer zersprengte ihn fast. Er meinte, ihm mit Worten gegen Gott Luft machen zu müssen: «Warum hast du an deinem Knecht übel getan, und warum habe ich nicht Gnade gefunden in deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Bin ich mit diesem ganzen Volk schwanger gegangen, oder habe ich es geboren, dass du zu mir sprichst: Trag es in deinem Gewandbausch … in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? … Ich allein vermag dieses ganze Volk nicht zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und wenn du so mit mir tust, so bring mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe» (4. Mo 11,12,14,15).
Überrascht uns diese Sprache, diese ungerechte Anklage? Ist sie uns fremd? – Es ist die Sprache des Unglaubens. Das geht daraus hervor, dass Mose im gleichen Atemzug Gott vorrechnen will, wie es Ihm doch unmöglich sei, nur schon für «600'000 Mann zu Fuss» Fleisch zu beschaffen.
Einbrüche des Unglaubens in das Herz des Erlösten machen so unglücklich! Er verschliesst die Sicht auf den unsichtbaren und doch allezeit gegenwärtigen Gott, dessen Macht und Weisheit und Liebe grenzenlos sind. Dafür stellt er das erbärmliche «Ich» in den Vordergrund, das sich so leicht angegriffen und verletzt fühlt, das an die eigene Ehre denkt, aber den gestellten Anforderungen niemals entsprechen kann. In den wenigen Sätzen, die Mose hier ausspricht, wimmelt es nur so von «Ich … mich … mir … mein»!
Hier geht es nicht um Unglauben in Verbindung mit persönlichen Bedürfnissen, sondern im Zusammenhang mit dem von Gott auferlegten Dienst und der damit verbundenen Verantwortung. Solche Anfälle des Feindes erleben nicht die Gleichgültigen, die für sich selbst leben. Er will die entmutigen, die sich vom Herrn brauchen lassen.
Der uns gegebene bescheidene Dienst unter dem Volk Gottes, in unserer Umgebung, in der Familie, mag uns im Vergleich mit Moses grosser Aufgabe geringfügig erscheinen. Doch dürfen auch wir im Glauben festhalten, dass unser Herr die Hauptlast unserer Aufgaben auf seine Schultern nimmt. Was Er darin wirkt, was Er dabei tut, auf das kommt es an. Er ruft uns zu: «Nehmt auf euch mein Joch … mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.» Es ist, wie wenn er sagen wollte: «Ich helfe euch dabei, so dass es euch nicht drücken wird.» Auch die Last der Verantwortung gehört zu «jeder Bürde», die wir ablegen und auf Ihn werfen sollen (Heb 12,1). Ohne Glauben wird sie zu einem unerträglichen Pflichtgefühl.
Als Antwort auf die heftigen Worte Moses stellte ihm Gott siebzig Älteste zur Seite. Sie sollten ihm helfen, «an der Last des Volkes zu tragen». Gott nahm von dem Geist, der auf Mose war und legte ihn auf sie. Die Kraft von oben war schon in Fülle da, sie musste nicht vermehrt werden. Aber wenn die Glaubenskraft Moses zurzeit nicht ausreichte, so wollte ihm der Herr erfahrene Männer zur Seite geben, die ihm helfen konnten. Wie sehnlich schaut oft unser Herz nach einer menschlichen Hilfe aus! Aber lesen wir etwas davon, dass jene Siebzig Mose wirklich zum Beistand waren?
Es scheint, dass Mose die Lektion begriffen hat: Gott trägt alles, auch mich selbst, mitsamt meinen Aufgaben und Lasten. Nicht ich bin der Tragende! – Mit Ausnahme jenes ähnlichen Vorfalls beim Felsen in Meriba (4. Mo 20), ist dieser treue Knecht in den weiteren achtunddreissig Jahren seines schwierigen Dienstes in unerschütterlichem Vertrauen zu Gott vorangegangen. Auch er wurde hindurchgetragen.