Fünf Dörfer (4)

Kapernaum (2)

Kapernaum (Fortsetzung)

Ihn sehen

Aber nicht nur das, was Er getan oder was Er gesagt hat, seine Wunder und seine Unterweisungen, sind es, die uns anziehen. Es ist vor allem seine Person. In Johannes 12,41 wird gesagt, dass Jesaja «seine Herrlichkeit sah und von Ihm redete«. Aber «wenn Jesaja in seinem Gesicht den Weg Jesu hätte verfolgen können, wie Er die Städte und Dörfer des Landes durchzog, in dem Er geboren wurde, hätte ihn dann dies nicht in Anbetung versetzt? Er hatte seine Herrlichkeit gesehen. Er hatte Ihn auf seinem hohen und erhabenen Thron betrachtet, wobei die Schleppen seines Kleides den Tempel erfüllten und die Seraphim ihr Angesicht verhüllten, indem sie in Jesus die Herrlichkeit der Gottheit erkannten. Wir haben nötig, Ihn durch Glauben so zu sehen – wir haben nötig, seine Person zu erfassen, ein Bewusstsein seiner Herrlichkeit zu haben, die hinter einem Vorhang verborgen war, dichter als der Flügel eines Seraphim, der dessen Angesicht verhüllte, der Vorhang eines demütigen und von der Welt verworfenen Galiläers» (John G. Bellett).

Mit welcher Bewegung konnte der alte Apostel, der, den Jesus liebte, an seinem Lebensabend schreiben: «was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das Wort des Lebens … was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch … damit eure Freude völlig sei» (1. Joh 1,1-4). Wir können Ihn nicht sehen, Ihn anschauen, Ihn betasten, wie der Apostel es getan hat. Aber aufgrund der Evangelien können die Augen unserer Herzen sich im Glauben auf Ihn richten, und seine Herrlichkeit erkennen. Welch anderes Thema vermöchte uns mit einer grösseren Freude zu erfüllen?

Petrus beschreibt seinen Dienst mit wenigen Worten: «Jesus, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm» (Apg 10,38). Betrachten wir Ihn, wie Er von Ort zu Ort umherging. Als die Jünger zu Ihm sagen: «Alle suchen dich», spricht Er zu ihnen: «Lasst uns woandershin gehen in die nächsten Ortschaften, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich ausgegangen. Und er predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus» (Mk 1,37-39). Und wenn Er sich beim Durchzug durch Nazareth «verwunderte über ihren Unglauben», wird Er nicht müde, seinen Dienst fortzusetzen, sondern «zog durch die Dörfer ringsum und lehrte» (Mk 6,6). Auch Lukas stellt Ihn uns vor, wie Er «nacheinander Stadt und Dorf durchzog, indem er predigte und das Reich Gottes verkündigte» (Lk 8,1). Trotz des Widerspruchs, dem Er begegnete, konnte Er zu den Pharisäern sagen: «Ich muss heute und morgen und am folgenden Tag weiterziehen» (Lk 13,33).

Wir haben nicht nur nötig, Ihn zu sehen, wie Er von Ort zu Ort zog, sondern auch an den verschiedenen Plätzen, wo Er seine Tage zubrachte. Als Er ermüdet «im Haus» war, «versammelten sich sogleich viele, so dass selbst an der Tür kein Raum mehr war; und er redete zu ihnen das Wort» (Mk 2,2). Ein wenig später «kommen sie in ein Haus. Und wieder kommt die Volksmenge zusammen, so dass sie nicht einmal Brot essen konnten» (Mk 3,20). Doch war es in dem Haus, wo Er sich mit den Jüngern gerne zusammenfand. Nach der Heilung des Kindes mit dem stummen Geist, «als er in ein Haus getreten war, fragten ihn seine Jünger für sich allein: Warum haben wir ihn nicht austreiben können?» (Mk 9,28.29).

Beim Durchzug durch Galiläa belehrte Er seine Jünger über die Leiden, die Ihn erwarteten; sie aber, statt zu erfassen, was Er ihnen da anvertraute, besprachen sich untereinander, wer der Grösste sei. Aber erst «als er in dem Haus war, fragte er sie: Was habt ihr auf dem Weg besprochen? Sie aber schwiegen … Und nachdem er sich gesetzt hatte, rief er die Zwölf» und redete zu ihnen über die Demut. Sehen wir Ihn so umhergehen, in das Haus eintreten, seine Frage stellen, mit Geduld darauf warten, dass das Gewissen der Jünger zu ihnen redet, dann sich setzen und sie zu sich rufen, um sie mit Sanftmut und Bestimmtheit zurechtzuweisen und zu ermahnen?

In Matthäus 13,36 ist es wiederum im «Haus», wo Er seinen Jüngern die Bedeutung der soeben ausgesprochenen Gleichnisse erklärt.

Aber besonders «am Ufer des Sees» war es, wo Er seinen öffentlichen Dienst ausübte. «Als er am See von Galiläa entlangging», berief Er Simon, Andreas, Jakobus, Johannes; und ein wenig später lesen wir: «Und er ging wieder hinaus an den See … und als er vorüberging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zollhaus sitzen, und er spricht zu ihm: Folge mir nach» (Mk 2,13.14).

Als aber die Pharisäer und die Herodianer Rat gegen Ihn hielten, wie sie Ihn umbrächten, entwich Er «mit seinen Jüngern an den See, und eine grosse Menge folgte …  Und er sagte seinen Jüngern, dass ein Boot für ihn bereit bleiben solle wegen der Volksmenge, damit sie ihn nicht bedrängten. Denn er heilte viele, so dass alle, die Plagen hatten, ihn überfielen, um ihn anrühren zu können. Und wenn die unreinen Geister ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder» (Mk 7-11). Welch ein Gemälde! Da war die Gnade unermüdlich, voller Erbarmen wirksam.

In Matthäus 13 sehen wir Ihn «aus dem Haus hinausgehen» und sich an den See setzen. Dort setzt Er sich in ein Schiff und redet vieles in Gleichnissen zu der Volksmenge am Ufer. Wieder am See kommt Jairus, fällt Ihm zu Füssen und bittet Ihn inständig für seine Tochter.

Aber wenn der Herr es auch liebte, am Ufer des Sees zu der Volksmenge zu reden, so fürchtete Er sich auch nicht, wenn nötig, in die Synagoge zu gehen. Er heilte dort einen Menschen mit einem unreinen Geist (Mk 1,23), und ohne sich durch den Widerstand gegen Ihn aufhalten zu lassen, tritt Er «wiederum» dort ein, um den Menschen mit der verdorrten Hand zu heilen, trotz der feindseligen Stille vonseiten derer, die Ihn umgaben (Mk 3,1-5).

Aber wenn Er mit seinen Jüngern allein sein wollte, dann ging Er auf den Berg. Da berief Er die Zwölf (Mk 3,13); da sprach Er die Glückseligpreisungen aus (Mt 5,1); da auch, am Abend eines Tages angestrengter Tätigkeit, ging Er allein hin, um zu beten, nachdem Er die Volksmenge gespiesen und die Jünger genötigt hatte, ins Schiff zu steigen und ans andere Ufer vorauszufahren (Mk 6,46). Und auf «einen hohen Berg» war es, wohin Er den Petrus und den Jakobus und Johannes «für sich allein» führte und wo Er «vor ihnen umgestaltet wurde» (Mk 9,2-8).

Liegt nicht ein besonderer Segen darin, dass man sich so allein zurückzieht, um «niemand mehr, sondern Jesus allein bei sich» zu sehen (Vers 8) und in der Stille, zu seinen Füssen, die Stunden vorübergehen zu lassen, um Ihn zu hören und seine Herrlichkeit zu sehen? Ohne Zweifel, jeden Tag ziemt es sich, zu seinen Füssen zu sitzen, wenn möglich einige Augenblicke in der ersten Morgenstunde; aber es ist auch wichtig, von Zeit zu Zeit, wenn es irgend geht, an ein oder zwei Tagen mehrere Stunden zu reservieren, um mit Ihm allein zu sein, zu schweigen und Ihn zu hören. Er selbst ermahnte seine Jünger: «Kommt ihr selbst her an einen öden Ort für euch allein und ruht ein wenig aus» (Mk 6,31). An «einen öden Ort» war es auch, wohin Er am Morgen, lange vor Tagesanbruch, hinausging, um allein zu beten.

Aber wenn Er sich im gegebenen Augenblick zurückzuziehen wusste, so ist es vor allem seine unermüdliche Tätigkeit, ganz besonders in Galiläa, die aus den Seiten der Evangelien hervorleuchtet. In Mk 1,33 war «die ganze Stadt an der Tür versammelt». Wie wir soeben sahen, «versammelten sich viele, so dass selbst an der Tür nicht mehr Raum war» (Mk 2,2), als Er in das Haus in Kapernaum hineinging. Am Ufer des Sees «kam die ganze Volksmenge zu Ihm». Von neuem im Haus, «kommt wiederum eine Volksmenge zusammen», so dass sie nicht einmal essen konnten. An einem anderen Tag, «als wieder eine grosse Volksmenge da war und sie nichts zu essen hatten», sagte Jesus zu den Jüngern: «Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge» (Mk 8,1.2).

Und selbst als Er, vom Berg der Verklärung herabsteigend, um die Jünger her eine grosse Volksmenge und Schriftgelehrte versammelt findet, die sich mit ihnen streiten, und Er sagen muss: «O ungläubiges Geschlecht! … bis wann soll ich euch ertragen?» – heilt Er das kranke Kind und gibt es seinem Vater zurück (Mk 9,14-27).

Das alles ging ohne Zweifel nicht ab ohne grösste Ermüdung. In Markus 4,36 haben wir ein Beispiel dafür, als die Jünger, nachdem Er die Volksmenge entlassen hatte, Ihn «wie Er war» in dem Schiff mitnahmen: trotz heftigem Sturmwind und den Wellen, die in das Schiff schlugen, «war Er im hinteren Teil und schlief auf dem Kopfkissen.» –»Er lag da wie ein ermüdeter Arbeiter, für den der Schlaf süss ist. Das war die Gestalt, in der Er sich offenbarte. Aber unter diesem Vorhang war ‹die Gestalt Gottes›. Er steht auf, und wie der, der den Wind in seine Fäuste gesammelt und die Wasser in ein Tuch gebunden hat (Spr 30,4), bedroht Er den Wind und spricht Er zum See: Schweig, verstumme!» (John G. Bellett).

Er war ein vollkommener, ein unermüdlicher Diener – und was noch bemerkenswerter ist – ein freiwilliger Diener. Ein Mensch als Geschöpf, ein Gläubiger als vom Herrn erlöst, ist ein Knecht. Er aber hat Knecht werden wollen. «Seine Person verlieh seinem ganzen Dienst und seinem Gehorsam eine Herrlichkeit, die ihnen einen unendlichen Wert gab» (John G. Bellett).

Ist es daher nicht ergreifend, Ihn am Ende seiner irdischen Laufbahn, als alle Ihn verlassen hatten, als der eine der Seinen Ihn verraten, ein anderer Ihn verleugnet hatte und die übrigen geflohen waren, durch die Stimme des Propheten sagen zu hören: «Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt» (Jes 49,4). Aber die göttliche Antwort sagt Ihm: «Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten … Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde.» Und Er selbst konnte sagen: «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht» (Joh 12,24).

Ruft uns dies nicht Psalm 126,6 in Erinnerung, wo der Psalmist, nachdem er von den Knechten geredet hat, «die mit Tränen säen und mit Jubel ernten», von dem Knecht spricht: «Er geht hin unter Weinen und trägt den Samen zur Aussaat; er kommt heim mit Jubel», wie jene Knechte; aber da ist noch etwas, das nur Ihm vorbehalten ist: «und trägt seine Garben».