Die Vertrautheit zwischen dem Herrn und seinem Auserwählten hat, so können wir wohl sagen, nicht ihresgleichen. Die Engel führen sein Wohlgefallen aus, warten in seiner Gegenwart, haben ihren ersten Zustand bewahrt und dienen Ihm in der Kraft, die ihnen gegeben ist. Aber sie sind nicht in der Stellung der auserwählten Sünder. Sie lernen durch die Versammlung die mannigfaltige Weisheit Gottes kennen – uns aber hat der Sohn all das, was der Vater Ihm gegeben hat, offenbart.
Der Heiland macht sich selbst mit den Geheimnissen des Herzens des Sünders bekannt und teilt ihm die Geheimnisse des göttlichen Herzens mit. Das ist in der Tat Vertrautheit. Wie wurde dies am Brunnen von Sichar so deutlich illustriert! Auch in den Geschichten von Abraham, Mose, David und anderen tritt dies zutage. Es scheint unfasslich, und doch ist es so. Wir sind nicht berufen, dies zu beweisen – die Schrift tut es selbst in genügender Weise durch Lehre und durch Bilder. Wir sind berufen, dies im Glauben zu erfassen und uns darüber zu freuen.
Wir sehen, wie der Geist Gottes durch den Apostel die Heiligen im Brief an die Römer auf zweierlei Wegen führt – den Weg der Gnade, in den Kapiteln 1 – 8, und den Weg der Erkenntnis, in den Kapiteln 9 – 11.
Gott fand uns am Anfang in unserem Verderben. Wir wurden als Sünder angenommen, die von uns aus seine Herrlichkeit nicht erreichten, die sich gegen Ihn empörten und von Ihm getrennt waren. Von diesem Punkt aus begann unser Weg. Aber Er führte uns von unseren Tiefen zu seinen Höhen, von unserem Verderben zu den Wundern und Reichtümern seiner Gnade. Und schliesslich versetzte Er uns zu einer Höhe, von wo aus wir über alle unsere Feinde triumphieren können und wo wir erhaben sind über alles, was gegen uns sein könnte. «Wer gegen uns?» ist die Sprache des Herzens an diesem Platz. Wer kann anklagen, wer kann verdammen, wer kann uns scheiden?
Nachdem Er uns so den ganzen Weg der Gnade entlang geführt und unsere eigenen Fragen für immer gelöst hat, nimmt Er uns noch einmal bei der Hand, um uns auf einen anderen Pfad zu leiten, den Pfad der Weisheit und der Erkenntnis, wo es nicht um unsere eigenen Interessen als Sünder geht, sondern wo wir die verschiedenen Reichtümer und Geheimnisse seiner eigenen Pläne erkennen, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er lässt die Hand der erretteten Seele, die Er zum vollen Heil leitete, nicht los, bis Er sie auch auf eine andere Höhe geführt hat, zu einem anderen Entzücken des Geistes – nicht nur zu einem Frohlocken in ihren eigenen Segnungen und in all den Gaben der Gnade, deren sie sich am Ende des ersten Pfades rühmen kann, sondern zum Triumph über die Wege und Ziele Gottes, die sie durch das Licht der ihr gegebenen göttlichen Mitteilungen erkennen darf.
Ist das nicht Vertrautheit? Zuerst wird ein aus der Gegenwart Gottes Verbannter heimgebracht, ein Sünder für seine Gegenwart passend gemacht, in die Freiheit, in die Kraft und in die Freude versetzt, und dann teilt Er ihm alle seine Ratschlüsse mit.
Die Frau am Jakobsbrunnen wurde mit dem ersten Weg bekannt gemacht, nicht mit dem zweiten, wenigstens nicht in dieser Begegnung mit dem Herrn. Das war ihr angepasst. Der Heiland sagte ihr alles in Bezug auf sie selbst, und dann tat Er ihr sich selbst kund, so dass ihr Geist mit dem Frohlocken erfüllt wurde, das wir am Ende des ersten Weges finden und das am Schluss von Römer 8 beschrieben wird. Der Augenblick war noch nicht gekommen, sie auf den zweiten Pfad zu führen.
Aber wenn wir weiter zurückblicken, auf das, was uns in 1. Mose 18 und 19 berichtet wird, so finden wir dort eine gläubige Seele, einen Heiligen Gottes, der auf jeden dieser beiden Pfade geführt wurde. Als er am Ende des einen Pfades stand, wurde er von diesem Standpunkt aus auch den ganzen anderen Weg entlang geführt.
Der Herr kam zu Abraham, als dieser am Eingang seines Zeltes sass, in der Nähe von Hebron. Wie einer, der Ihn wohl kannte, erhebt sich Abraham und beugt sich vor Ihm zur Erde nieder. Er bietet Ihm an, einige Erfrischungen für Ihn vorzubereiten. Dies wird angenommen, das Mahl wird bereitet und vorgesetzt. Abraham erfreut sich der Gnade, in der er steht. Die Gegenwart Gottes ist sein Heim. Er ist das Bild eines Gläubigen, der in Römer 8,31-39 angelangt ist. Hier stehend, ist er bereit, in Gemeinschaft mit seinem göttlichen Meister einen weiteren Gang zu machen. Und so geht er. Sie verlassen die Bäume, unter denen das Mahl eingenommen wurde, und während sie nebeneinander hergehen, teilt der HERR Abraham seine Geheimnisse mit.
Kann es noch eine grössere Vertrautheit geben? «Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört habe, euch kundgetan habe» (Joh 15,15). Die Engel, ich wiederhole es, werden uns nicht in einem solchen Vertrauensverhältnis vorgestellt, und auch Adam im Garten Eden, in seiner Unschuld, war nicht in dieser Stellung. Aber errettete Sünder nehmen diesen Platz ein, ohne ihn geraubt zu haben. Sie durften den weissen Stein entgegennehmen, auf dem sie ihren neuen Namen lesen können, den niemand kennt, als wer ihn empfängt.
Auch im Evangelium und in der Offenbarung des Johannes finden wir Illustrationen für die Vertrautheit zwischen Gott und den Erlösten. In diesem Evangelium wird ein Sünder nach dem anderen durch den Pfad der Gnade geführt, von seinen eigenen Tiefen des Verderbens zu Gottes eigenen Höhen des Heils und des Friedens, um dann im Geist in den Dingen zu frohlocken, womit Römer 8 schliesst. In der Offenbarung aber wird Johannes (in sich selbst ein geretteter Sünder, aber am Ende des Pfades der Gnade stehend) auf den ganzen Weg der göttlichen Ratschlüsse geführt und in die Geheimnisse der Siegel, der Posaunen, der Zornschalen eingeweiht, bis er zum Anblick der heiligen Stadt Jerusalem gelangt, zu der bewundernden Anbetung, womit Römer 11 abschliesst.
Welch ein Glanz ruht doch auf diesen Pfaden! Der Sünder frohlockt am Ende des einen in seinen eigenen Umständen, als ein mit einem sicheren und ewigen Heil Geretteter – am Ende des anderen frohlockt der Heilige in den Ratschlüssen Gottes, die ihm nun enthüllt sind, so dass er in dem Licht wandeln kann, wie Gott in dem Licht ist. Was ist dem Auserwählten zu tun, an dessen Ehre der Herr Wohlgefallen hat? – So können wir fragen.
Nun möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Psalmen 23 und 24 Äusserungen einer Seele sind, die sich auf den beiden Pfaden befindet, die wir betrachtet haben. Im 23. Psalm wandelt der Gläubige auf dem Pfad, auf den die Gnade ihn gestellt hat. Er darf sich daher aller Gaben rühmen. Ihm gehört alles; es mangelt ihm an nichts. Er weiss, dass er unter der Führung und Pflege eines Hirten steht, der ihm alles geben kann: Auferbauung, Erfrischung, Wiederherstellung, einen Stecken und einen Stab für das Tal des Todesschattens, einen Tisch, einen überfliessenden Becher und Salböl angesichts der Feinde, und Fülle von Güte und Huld, bis der Lauf im Haus des Herrn endet, bis wir seine Hirtenpflege in der Heimstätte der Herrlichkeit nicht mehr nötig haben. So bleibt der erlöste Sünder hier vor seinen eigenen Segnungen stehen und freut sich an ihnen im Verborgenen seines eigenen Geistes, so wie er in Römer 1 – 8 darüber belehrt wird. Er wird in diesem Psalm auf dem Pfad gesehen, den diese Verse beschreiben.
Im 24. Psalm wandelt der Heilige einer Fährte wunderbaren Lichts entlang, auf die der Geist der Weisheit und der Offenbarung ihn gesetzt hat. Er betrachtet da nicht die eigenen Segnungen, die eigene Glückseligkeit, wie er es im 23. Psalm getan hat, sondern die Vorsätze Gottes, die Geheimnisse der göttlichen Ratschlüsse, die Herrlichkeiten Christi, seine Taten, seine Gerichte, seine Tugenden, seine Rechte, seine Bestimmung. Er hört im Geist auf den Willkommensgruss, der Ihn erwartet, nachdem die Gerichte zum Abschluss gekommen sind, die Er ausführen musste, und nachdem Er den Charakter dargestellt hat, den Er aufrechthalten musste. Nun öffnen sich die Tore der Herrlichkeit unter dem Zuruf derer, die ihre Wonne darin finden, immer und immer wieder die Geschichte seiner Taten und seiner Verherrlichung zu hören.
Hier sinnt das Kind Gottes also über die Weisheit und die Wege Gottes, nicht über die Gnade, die ihn selbst besucht hat, sondern über die Ratschlüsse, die Christus seinen Platz und seine Herrlichkeiten gegeben haben. Hier wird Er auf dem Pfad gesehen, der in Römer 9 – 11 beschrieben wird.