Als der Diener Elisas eines Morgens früh aufstand und hinaustrat, sah er mit Schrecken, dass ein starkes feindliches Heer mit Pferden und Wagen die Stadt umzingelte, und er sagte voll Bangigkeit: «Ach, mein Herr! Was sollen wir tun?» – Der Prophet jedoch hatte keinerlei Angst, obwohl auch er die gerüsteten Krieger wahrnahm, die die Mauern umgaben. Er hatte vertrauten Umgang mit Gott und sah daher noch mehr: Der Berg rings um Elisa her war voll feuriger Pferde und Wagen! Mit einem solchen Rückhalt, unter einem solchen Schutz brauchte er sich wahrlich nicht zu fürchten und konnte getrost dem kommenden Tag entgegensehen! (2. Kön 6,14-17).
Dürfen auch wir beim Voranschreiten durch eine dunkle Welt allezeit mit Gottes Gegenwart, mit seinem Geleit rechnen?
Da sind gewisse Voraussetzungen. Im Wort werden wir zum Beispiel mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass Er uns nur nahe sein kann, wenn wir ein zerbrochenes Herz und einen zerschlagenen Geist haben. «Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt und dessen Name der Heilige ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen» (Jes 57,15; siehe auch Psalm 34,19; 51,19; 147,3; Jes 66,2). Dieser Bedingung sollten wir ernste Beachtung schenken.
Die darin enthaltenen Ausdrücke setzen voraus, dass vorher ein böser Zustand vorgeherrscht hat, der ein züchtigendes Eingreifen Gottes notwendig machte. Er musste zerbrechen, zerschlagen und beugen.
In der Tat, das Herz des Menschen ist von Natur aus überheblich; es widersetzt sich Gott und hält im Eigenwillen und mit Starrsinn an eigenen Wegen fest, die Gott nicht gefallen.
Aber weshalb werden in diesen Stellen Geist und Herz zusammen genannt? Ist es nicht so, dass der Geist oft unbewusst vom Herzen dirigiert wird? «Vom Herzen aus sind die Ausgänge des Lebens», und der Geist führt seinen Willen aus. Auf alle Einwände sucht und findet er Gründe und Entschuldigungen, um das zu rechtfertigen, was das Herz festhalten will.
Gott zerschlägt und stellt wieder her
Das wird uns am Beispiel Davids gezeigt.
David hat sich in seinem Leben mehr als einmal schwer vergangen. Aber er ist jedes Mal völlig wiederhergestellt worden, weil er aufrichtige und gottgemässe Buße getan hat.
Doch gerade in seinem Leben wird offenbar, wie diese Buße durch die Einwirkung Gottes zustande gekommen ist.
Denken wir nur an den schweren Fall mit Bathseba! Er bekannte seine Sünde nicht sofort. Zuerst wartete er manche Tage die Folgen ab. Und als er davon in Kenntnis gesetzt wurde, suchte er die Sache zunächst zu vertuschen. Als dies nicht gelang, fügte er zu seiner Sünde noch Blutschuld hinzu, indem er Urija im Streit umkommen liess. Dann nahm er sich dessen Frau zur Frau, nachdem die Zeit ihrer Trauer vorüber war. So gingen verschiedene Wochen dahin, ohne dass David Selbstgericht übte. Wäre es überhaupt zustande gekommen, wenn Gott nicht in Treue eingegriffen hätte? Wie ist doch der ganze traurige Bericht in 2. Samuel 11 ein Zeugnis für das Böse, dessen das Fleisch im Gläubigen fähig ist!
Zunächst musste ihn der Prophet Nathan durch die Erzählung vom gleichartigen, aber lange nicht so schwerwiegenden Vergehen eines anderen dazu bringen, die ganze Hässlichkeit seiner Verfehlungen zu sehen und zu verurteilen. Da erst kam aus seinem Mund das Bekenntnis: «Ich habe gegen den HERRN gesündigt.» Psalm 51, der Bußpsalm Davids, entstand erst, «als der Prophet Nathan zu ihm kam».
Psalm 32, den wir auch mit dieser Verfehlung Davids in Zusammenhang bringen können, zeigt, dass es Gott nicht an diesem einmaligen Dazwischentreten durch Nathan bewenden liess. Auch im Verborgenen wirkte Er auf dessen Seele ein. David sagt hier: «Als ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und Nacht lastete auf mir deine Hand; verwandelt wurde mein Saft in Sommerdürre.»
Als er «schwieg», also schon vor dem Eintreffen des Propheten, lastete die Hand Gottes auf ihm: Sie liess sein Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Ungerichtete Sünde stand zwischen Gott und ihm. Sie hatte jede Gemeinschaft mit dem Heiligen unterbrochen. Friede und Freude waren dahin. Das Gewissen redete immer lauter, ja, es stöhnte «den ganzen Tag» unter dem ständigen Druck der Hand Gottes, doch so, dass die Menschen es nicht hören konnten; denn David schwieg immer noch. Die Last beugte seinen Leib; statt von Kraft und Freude durchdrungen zu sein, litt er innerlich unter einer grossen Dürre. Was war er da noch für Gott, für die anderen? Wie konnte er da noch das ihm anvertraute königliche Amt erfüllen?
Auch nach der Begebenheit mit dem Propheten und nach dem Bekenntnis Davids: «Ich habe gegen den HERRN gesündigt» blieb die Hand Gottes noch auf ihm liegen; denn er war noch nicht ganz wiederhergestellt. Verschiedene Ausdrücke in Psalm 51, der auf diesen Augenblick Bezug nimmt, lassen darauf schliessen: «Entsündige mich … wasche mich … tilge meine Ungerechtigkeiten … schaffe mir, Gott, ein reines Herz … verwirf mich nicht von deinem Angesicht … lass mir wiederkehren die Freude deines Heils …» Je länger der Zustand der Unbußfertigkeit im Gläubigen andauert, desto länger währt auch der Prozess der inneren Genesung. Das Licht Gottes muss in jeden Winkel seines Herzens eindringen, der Finger Gottes muss ihn auf jede Ungerechtigkeit aufmerksam machen, Gottes Hand muss ihn zu der Wurzel aller seiner Vergehungen führen, damit er alles mit den Augen Gottes sehen lernt und sich eine tief empfundene, allesumfassende Buße auf sein Herz und seine Lippen legt. Dann erst wird ihn das kostbare Bewusstsein der vergebenden Gnade und der Liebe Gottes wieder erfüllen.
In Psalm 32, den David nach einer völligen Wiederherstellung verfasst hat, finden wir daher ganz andere Ausdrucke: «Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! … Du bist ein Bergungsort für mich … Du umgibst mich mit Rettungsjubel.» Freude und Jubel erfüllen ihn: «Freut euch im HERRN und frohlockt, ihr Gerechten, und jubelt, alle ihr von Herzen Aufrichtigen!»
Die Anwendung auf uns
Wenn die Wege Gottes mit David zu diesem herrlichen Ergebnis führten und er schliesslich aus voller Überzeugung sagen konnte: «Nahe ist der HERR denen, die zerbrochenen Herzens sind, und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er» (Ps 34,19), dann haben wir allen Grund, uns zu fragen: Ist das auch meine ständige, persönliche Erfahrung? Sind Glückseligkeit, Freude und Jubel auch die Grundtöne unserer Zusammenkünfte? Ist die Nähe des Herrn für uns eine belebende Wirklichkeit?
Müssen wir bei dieser Selbstprüfung jedoch feststellen, wie David vor seinem Bekenntnis begangener Sünden, dass stattdessen «unser Saft verwandelt ist in Sommerdürre», dass mehr Gestöhn als Rettungsjubel bei uns zu finden ist, dann muss auch bei uns etwas nicht stimmen.
Gewiss, gegenüber den erwähnten Sünden Davids – Ehebruch und Blutschuld – scheinen unsere Verfehlungen gering zu sein. Auch haben wir wohl alle die Angewohnheit, das uns bewusst gewordene Böse sogleich zu verurteilen und zu bekennen.
Dürre und Kraftlosigkeit können aber auch Anzeichen eines schlechten geistlichen Zustandes sein, der uns vielleicht schon jahrelang kennzeichnet und an den wir uns gewöhnt haben. Der Versammlung in Ephesus (Off 2,1-7) warf der Herr nicht einzelne Sünden vor; im Gegenteil, sie konnten Böse nicht ertragen. Sie gingen voran in der Lehre, die ihnen der Apostel verkündet hatte. Der Herr sah bei ihnen Werke, Arbeit und Ausharren; sie hatten um seines Namens willen Verantwortung, Mühsal und Widerstand «getragen». Aber dabei hatten sie «die erste Liebe verlassen».
Das ist es, was auch wir unter anderem bekennen müssen: Wir stehen nicht «in der ersten Liebe»! Und hat uns dies nicht in gewissem Mass zu irdischer Gesinnung, zu den trüben Quellen der Welt, zur Anpassung an ihre Grundsätze und Formen, zur Trägheit im Werk des Herrn geführt? Das alles kann ja neben einem äusseren Festhalten an der Wahrheit bestehen.
Ist dieses Urteil zu hart? «Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tu Buße», rief der Herr der Versammlung in Ephesus zu. Wenn auch wir unseren Zustand im Licht Gottes in Aufrichtigkeit prüfen, werden wir das Urteil unterschreiben und von Herzen darüber Buße tun. Dann werden wir uns aber auch in grösserem Mass als bisher vom Herrn nähren und uns seiner Liebe erfreuen. Auf diese Weise kehren wir zur «ersten Liebe» und zu den «ersten Werken» zurück. In vertrauter Abhängigkeit von Ihm werden wir uns «von seinen Augen leiten lassen».
Sagen wir es noch einmal: Gott wohnt «bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen».