Den beiden Jüngern, die nach Emmaus gingen, erklärte Jesus Christus, der auferstandene Herr, von Mose und von allen Propheten anfangend, in allen Schriften das, was Ihn betraf, um ihnen begreiflich zu machen, dass «der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen musste» (Lk 24,26.27). Da muss Er gewiss auch auf Joseph, den Sohn Jakobs, zu sprechen gekommen sein; denn in wie manchen Zügen ist die Lebensgeschichte dieses Mannes ein vorausgehender Schatten «von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach» (1. Pet 1,11)!
Von Joseph ist schon oft geredet und geschrieben worden. Wir möchten hier nur einige Punkte seines Lebens herausgreifen und sie mit den entsprechenden Umständen der Geschichte des Mensch gewordenen Sohnes Gottes vergleichen. Das regt an, über seine Person nachzusinnen, was wir nie genug tun können und was uns grossen Gewinn bringt. Wie bei allen Bildern, die auf Ihn hindeuten, werden wir dabei sowohl auf Ähnlichkeiten als auch auf Gegensätze stossen.
«Dies ist die Geschichte Jakobs: Joseph …» (1. Mo 37,2)
Jakobs Geschichte hatte schon früher begonnen. Die bisherigen Kapitel sprachen von seinen persönlichen Erfahrungen, von seinem Tun und der Ausbreitung seiner Nachkommen, die schliesslich in eine grosse Hungersnot gerieten. In dieser Not wurde ihnen Joseph zum «Zaphnat-Pahneach», zum «Retter der Welt» oder zum «Erhalter des Lebens». Zu denen, die in ihrer Not zum Pharao kamen und um Brot schrien, sagte dieser: «Geht zu Joseph; tut, was er euch sagt!» (1. Mo 41,55).
So ist auch in Jesus Christus, und dies in einem unvergleichlich tieferen und umfassenderen Sinn, die ganze Geschichte des Heiland-Gottes zu Tage getreten und Wirklichkeit geworden, die Geschichte von einem Heil, das zuerst für das Volk Israel bestimmt war, nun aber der ganzen Schöpfung gepredigt werden soll (Mk 16,15). Vom ersten bis zum letzten Blatt der Bibel tritt uns diese Geschichte entgegen, zunächst durch Hinweise in bildhafter Sprache auf das Kommende, dann die Erfüllung in Christus Jesus und schliesslich die Beschreibung der mannigfachen Ergebnisse dieses Heils für Israel und für die Versammlung im Neuen Testament. Wie ist doch diese «Geschichte» voller Wunder!
«Israel liebte Joseph mehr als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war; und er machte ihm ein langes Ärmelkleid» (1. Mo 37,3).
Dass sich Israel besonders zu Joseph, dem Sohn Rahels, hingezogen fühlte, können wir gut verstehen: Ausser den natürlichen Banden bestand da noch ein inneres Band der Gemeinschaft; denn durch Glauben liebten sie beide – so geht es aus Vers 2 hervor – die Gerechtigkeit. Das lange Ärmelkleid, der Beweis der Liebe des Vaters zu ihm, war Joseph kostbar, und er trug es ständig, auch wenn er unter den Brüdern war.
So schön diese Beziehungen zwischen Jakob und Joseph auch waren, so sind sie im Vergleich zu der Gemeinschaft zwischen Gott, dem Vater, und seinem Sohn Jesus Christus, doch nur schwach und unvollkommen. Jene bestanden erst seit wenigen Jahren, diese aber besteht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Jesus sagte in seinem Gebet zum Vater: «Du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt» (Joh 17,24). Dies wird schon in der oft angeführten Stelle in Sprüche 8 angedeutet, wo von der im Sohn personifizierten Weisheit gesagt ist: «Der HERR besass mich im Anfang seines Weges, vor seinen Werken von jeher. Ich war eingesetzt von Ewigkeit her …», und «als er die Grundfesten der Erde feststellte, da war ich Werkmeister bei ihm und war Tag für Tag seine Wonne, vor ihm mich ergötzend …»
Diese gegenseitigen, tiefen Beziehungen der Liebe zeigten sich in der völligen Übereinstimmung in allen Werken: Gott hat durch Ihn die Welten gemacht (Heb 1,2), das ganze ungeheure Sechstagewerk der Schöpfung. Alles wurde durch das Wort, «und ohne dasselbe wurde auch nicht eins, das geworden ist» (Joh 1,1-3). Vor der Erschaffung des Menschen sprach Gott: Lasst uns Menschen machen» (1. Mo 1,26).
Welche Übereinstimmung war auch zwischen dem Vater und dem Sohn in der Frage der Erlösung, die nötig sein würde nach dem Fall des Menschen! Schon «vor Grundlegung der Welt» war der Sohn, der kommende Christus, als das Lamm ohne Fehl und ohne Flecken «zuvor erkannt» (1. Pet 1,19.20), ja, Gott hat schon vor Grundlegung der Welt die Menschen in Ihm auserwählt, die an Christus glauben würden (Eph 1,4). – Der Sohn anderseits fand in völliger Harmonie mit den Gedanken Gottes «seine Wonne bei den Menschenkindern» (Spr 8,31). Sein Geist, der Geist Christi, redete schon zum Voraus durch die Propheten «von den Leiden, die auf Christus kommen sollten» (1. Pet 1,11) und gab Gott durch den Mund Davids die Erklärung ab: «An Schlacht- und Speisopfer hattest du kein Gefallen; Ohren hast du mir bereitet: Brand- und Sündopfer hast du nicht gefordert. Da sprach ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens» (Ps 40,7-9).
Als der Sohn «Fleisch wurde» und auf der Erde lebte, da fanden die Beziehungen der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn in diesen völlig andersartigen Umständen weiteren Anlass zur gegenseitigen Bezeugung. Der Vater hatte an Gehorsam und an der Abhängigkeit des Sohnes, an dessen völliger Hingabe an Ihn und an dessen andauerndem Bestreben, den Vater zu verherrlichen uneingeschränktes Wohlgefallen. Und dass der Sohn zuletzt sein Leben hingab, war und ist für den Vater ein ewiger Grund zur Liebe (Joh 10,17).
Der Sohn anderseits blieb ununterbrochen in der Liebe des Vaters, indem Er dessen Gebote hielt; das war «seine Freude» auf dem ganzen Wege hier auf der Erde (Joh 15,10.11). Auch als Sohn des Menschen war Er auf diese Weise «im Himmel» (Joh 3,13). Immer wieder redete Er von der Liebe des Vaters zu Ihm (Joh 3,35; 5,20; 10,17; 17,26). Aus diesem «Bach» trank Er auf dem Weg seines Dienstes, auf dem Er seine Kraft verzehrte, und darum konnte Er «sein Haupt erheben» (Ps 110,7), in allen Leiden, bei allem Widerspruch von den Sündern, bei allem Unverstand des Volkes.
«Und Israel sprach zu Joseph: Weiden nicht deine Brüder bei Sichem? Komm, dass ich dich zu ihnen sende! Und er sprach zu ihm: Hier bin ich. Und er sprach zu ihm: Geh doch hin, sieh nach dem Wohlergehen deiner Brüder und nach dem Wohlergehen der Herde und bring mir Antwort. Und er sandte ihn» (1. Mo 37,13.14).
Israel sandte seinen geliebten Sohn Joseph zu dessen Brüdern, weil er sich um «das Wohlergehen seiner Brüder» und um «das Wohlergehen der Herde» kümmerte. Er sandte ihn, obwohl er ihren bösen Zustand kannte und wusste, dass sie Joseph hassten. Joseph sprach: «Hier bin ich» und ging ohne Widerrede. Er sagte später zu den Brüdern: «Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch einen Überrest zu setzen auf der Erde und euch am Leben zu erhalten für eine grosse Errettung» (1. Mo 45,7). Durch seine Sendung wurde er aber auch zum Retter und Erhalter des Lebens der ganzen damaligen Welt, die unter der Hungersnot litt (1. Mo 41).
In den Evangelien und den Schriften des Neuen Testaments wird immer wieder gesagt und bestätigt, dass Gott, dass der Vater seinen geliebten Sohn gesandt hat, im Evangelium Johannes allein etwa vierzigmal. Er sandte Ihn, gerade weil Er den Zustand der hoffnungslosen Verdorbenheit seines Volkes kannte, und obwohl Er wusste, dass sie Ihn verwerfen und töten würden. Der Sohn liess sich senden, obwohl Er den ganzen Weg der tiefen Erniedrigung und der Leiden ohnegleichen, der Ihn ans Kreuz und ins Gericht Gottes führen würde, in allen Einzelheiten vor sich sah.
Wann wurde Er gesandt? «Als die Fülle der Zeit gekommen war» (Gal 4,4), zu dem Zeitpunkt also, den Gott bei sich festgesetzt hatte, um seine vor Grundlegung der Welt in Christus, seinem Sohn, gefassten Ratschlüsse zur Ausführung zu bringen. Sein Kommen ist in voller Übereinstimmung mit dem Zeitplan der Jahrwochen, der Daniel in einem Gesicht mitgeteilt wurde (Dan 9,24-27).
Zu wem wurde Er gesandt? – Zunächst zu Israel, zu seinen «Brüdern». Jesus war, als Mensch aus den Nachkommen Abrahams und Davids (Mt 1,2-17), also ein Israelit. Sein Kommen sollte zur grossen Freude «für das ganze Volk» sein, weil Er ihr Erretter werden würde (Lk 2,10.11). Zu der kananäischen Frau, einer Ausländerin, sagte Er: «Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt» (Mt 15,24).
Aber seine Sendung blieb nicht auf das irdische Volk Gottes beschränkt. Schon Jesaja hat ja von Christus geweissagt: «Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde» (Jes 49,6). Nachdem Er in das Seine gekommen ist und die Seinen sowohl Ihn als nachher auch das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen haben, ist dies nun Tatsache geworden. Der Apostel schreibt in 1. Johannes 4,14: «Wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als «Heiland der Welt.» Aber nach der Entrückung der Versammlung wird auch ein Überrest aus Israel durch Christus Errettung finden und in sein Friedensreich auf der Erde eingehen.
Wozu wurde Er gesandt? Welches ist der Charakter seines ersten Kommens? – «Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn errettet werde» (Joh 3,17). Er wurde gesandt, um die, die unter Gesetz waren, loszukaufen, damit sie die Sohnschaft empfingen (Gal 4,4.5). Er ist gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben (Joh 10,10). Er wurde nicht nur gesandt, um nach dem äusseren Wohlergehen der «Brüder» zu fragen, auch noch nicht, um Israel vom Joch der Nationen zu befreien, sondern um als das Lamm Gottes am Kreuz, das Erlösungswerk zu vollbringen, das für die Glaubenden die unerschütterliche Grundlage ewigen Wohlergehens, ewiger Segnungen und ewiger Glückseligkeit bildet. Nur in Ihm ist jetzt das Heil aufgerichtet; nur in seinem Namen können und müssen die Menschen errettet werden (Apg 4,12).
«Und als seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, da hassten sie ihn und vermochten nicht, ihn zu grüssen» (1. Mo 37,4)
Als einziger Grund für den Hass der Brüder wird hier der Umstand angeführt, dass Jakob ihn lieber hatte als sie alle. Sie waren «neidisch auf Joseph» (Apg 7,9).
Hinsichtlich des Herrn Jesus war es ähnlich. Die Zeichen und Werke, die Er vor dem ganzen Volke tat, zeugten davon, dass Er «von Gott gekommen», dass «Gott mit Ihm» war und dass der Vater «Ihn gesandt» hatte (Joh 3,2; 5,36). Die religiösen Führer des Volkes der Juden wurden eifersüchtig auf Ihn, weil die Zeichen, die Er tat, Ihn vor dem Volk auszeichneten und bewirkten, dass «die Welt Ihm nachging» (Joh 12,18.19). «Aus Neid» überlieferten sie Ihn schliesslich dem Pilatus, damit Er gekreuzigt würde (Mt 27,18).
Als Jesus vor dem Synedrium stand, um verurteilt zu werden, da forderte Ihn der Hohepriester heraus: «Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes.» Da antwortete Er: «Du hast es gesagt. Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen» (Mt 26,63-68). Diese Weissagung, die sich in der Zukunft herrlich erfüllen wird, fachte ihren Hass zu voller Glut an. Sie fielen über Ihn her, beschimpften und misshandelten Ihn. Nein, sie wollten sich nicht vor Ihm niederbeugen und wollten nicht, dass Er über sie herrsche! (Lk 19,14).
Wie deutlich ist doch auch hier das Vorbild Josephs! Seine von Gott gegebenen Träume zeigten ihn als zukünftigen Herrscher Ägyptens, also der damaligen Welt, vor dem auch das Haus Israels sich verneigen würde. Aber als er sie den Brüdern erzählte, «hassten sie ihn noch mehr».
Der Hass der ungläubigen Juden war auch darin begründet, dass sie das Licht hassten. Jesus sagt: «Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht blossgestellt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind» (Joh 3,19-21). – So mag im entsprechenden Mass auch das Beispiel des gottesfürchtigen Joseph für seine Brüder ein unliebsamer Stachel gewesen sein.
Wie überaus schmerzlich der Hass der Führer seines Volkes, dem der Herr Jesus Tag für Tag begegnete, für Ihn gewesen ist, geht aus Psalm 109,3-5 hervor, worin seine Empfindungen beschrieben sind: «und mit Worten des Hasses haben sie mich umgeben und haben gegen mich gekämpft ohne Ursache. Für meine Liebe feindeten sie mich an; ich aber bin stets im Gebet. Und sie haben mir Böses für Gutes erwiesen und Hass für meine Liebe.»
Wie unergründlich verdorben ist doch das Menschenherz, das auf die Äusserungen und die Werke der in Christus vollkommen offenbarten Liebe Gottes mit Hass und Feindschaft antworten kann!