Die beiden Naturen (1)

Diese Artikelserie ist unter dem Titel «Mit Freude Christ sein» im Beröa-Verlag, Zürich, als Buch und als eBook erschienen.

Wer viel mit Christen zu tun hat, die noch nicht lange auf dem Weg des Glaubens sind, hört oft die Bemerkung: «Zuerst meinte ich, ich sei errettet, aber jetzt beginne ich zu fürchten, dass das alles eigentlich nur Selbsttäuschung war. Weit entfernt davon, dass ich mich nun besser fühle, komme ich mir eher schlechter vor als vor meiner Bekehrung.»

In solchen Fällen stellt man meistens fest, dass diese Christen nicht so sehr beunruhigt sind über ihre Sünden, als vielmehr tief enttäuscht, weil sie nach und nach entdecken, dass durch die Neugeburt ihre böse Natur keineswegs gebessert ist, sondern dass sie seither sogar viel schlechter geworden zu sein scheint. Sie unternehmen erfolglose Anstrengungen, sie zu bessern. Aber ach, es wird nur immer schlimmer! Eine solche seelische Verfassung gibt dem Satan willkommene Gelegenheit, seine feurigen Pfeile abzuschiessen. Er flüstert ihnen zu, sie seien elende Heuchler, die trotz besserem Wissen zu sein bekennen, was sie gar nicht sind; sie sollten lieber alles aufgeben, sich in ihrem wahren Licht zeigen und gestehen, dass sie nie bekehrt worden seien.

Welch tiefe Herzensangst bewirken solche Angriffe, solange die wahre Freiheit noch nicht erkannt ist! Nur wer durch solche Nöte gegangen ist, vermag sich diese unsägliche Bitterkeit vorzustellen. Die hier dargestellten Gedanken wurden im Verlangen niedergeschrieben, solchen Gläubigen zu helfen und sie zu ermuntern.

Göttliche Tatsachen und menschliche Gefühle

Wenn Gott in seinem Wort eine Tatsache klar feststellt, tun wir gut daran, uns darunter zu beugen und sie im Glauben anzunehmen, auch wenn unser Verstand sie im Augenblick nicht fassen kann und unsere Erfahrung damit nicht übereinstimmen mag. Gott ist sein eigener Ausleger, und Er wird es zu seiner Zeit der Seele, die mit Geduld auf Ihn wartet, meistens «klar machen». Und selbst wenn Er in dieser Welt gut fände, dies nicht zu tun, ist es doch unsere Aufgabe, die göttlichen Tatsachen im Glauben anzunehmen; denn ihr Urheber irrt sich nicht.

Bevor wir auf den Hauptgegenstand, der uns beschäftigt, eingehen, möchte ich an einem Beispiel zeigen, was ich meine. Möge Gott es jedem Leser, der im Zweifel ist, ob er das ewige Leben wirklich schon jetzt besitze, zum Segen werden lassen. Wir wollen einmal das 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums aufschlagen. Dort finden wir in den letzten zwei Versen vier feste Tatsachen, die Gott als für uns gültig niedergelegt hat. Lasst sie uns in folgender Ordnung lesen:

  1. Der Vater liebt den Sohn.
  2. Er hat alles in seine Hand gegeben.
  3. Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben.
  4. Wer dem Sohn nicht glaubt, … auf ihm bleibt der Zorn Gottes.

Ich wiederhole es: Dies sind vier Tatsachen, also nicht nur menschliche Meinungen, die sich auf irgendwelche eigenen Erfahrungen in uns stützen. Es sind unveränderliche Tatsachen. In welcher Weise nun irgendeine Tatsache dich berührt, wenn sie geglaubt wird, ist eine andere Sache: Das ist eine Sache deines Empfindens und deiner Erfahrung. So lösen zum Beispiel politische Ereignisse bei den Menschen in den verschiedenen Ländern eine Vielzahl von Reaktionen aus: Aber die Tatsache ist immer dieselbe. Die Erfahrung kommt aus der geglaubten Tatsache hervor, die Tatsache selbst hing nicht von der Erfahrung ab.

Ein anderes Beispiel: Ein junger Mann wird ein grosses Vermögen und hohe Vorrechte empfangen, sobald er volljährig ist. Eines Tages sagt der Vater zu ihm: «Herzliche Glückwünsche! Du bist heute volljährig geworden, mein Sohn!» Der Sohn erwidert: «Entschuldige, Vater, aber ich glaube, du hast dich getäuscht.» «Wie das?» erkundigt sich der erstaunte Vater. «Nun, aus folgenden drei Gründen:

  • Erstens fühle ich mich noch nicht zwanzigjährig.
  • Zweitens schaute ich gerade heute Morgen in den Spiegel und bin daher sicher, dass ich noch nicht wie zwanzig aussehe.
  • Und drittens weiss ich mit Bestimmtheit, dass viele meiner besten Freunde der Meinung sind, ich sei höchstens achtzehn, im besten Fall neunzehn Jahre alt.

Wie kann ich da volljährig sein? Meine Freunde glauben es nicht, ich selbst fühle es nicht und sehe auch gar nicht so aus!»

Was würde ein weiser Vater in einem solchen Fall wohl tun? Er würde einfach den Geburtsschein hervorholen. Wenn auch diese klare Mitteilung den törichten Sohn nicht überzeugte, könnte ihm wirklich nichts helfen.

«Aber», wirst du ausrufen, «wer würde so dumm sein, in solcher Weise zu reden?» Ich antworte: Pass auf, dass du selbst dich nicht so töricht benimmst! Denn niemand wird leugnen, dass es heutzutage viele gibt, die sich zum Glauben an Christus Jesus bekennen, und doch in ähnlicher Weise argumentieren, und das angesichts der klaren Tatsache, die Gottes Wort bezeugt. Wenn nun das vom Amt ausgestellte Zeugnis genügt, dem Sohn – ganz unabhängig von seinen Gefühlen – über sein wirkliches Alter Auskunft zu geben, so sollte das geschriebene Wort Gottes, das «aus dem Mund Gottes hervorgeht», uns ebenso völlig genügen, um uns die volle Gewissheit ewigen Segens zu geben. Beachte, wie Christus das «es steht geschrieben» mit dem «Mund Gottes» in Verbindung bringt (Mt 4,4). So urteilt der wahre Glaube immer.

Nun wollen wir uns der beunruhigten Leser nochmals den vier Tatsachen in Johannes 3 zuwenden:

1. «Der Vater liebt den Sohn»

Glaubst du diese Tatsache? «O ja», sagst du, «das glaube ich wohl.» Aber fühlst du es auch, dass der Vater den Sohn liebt. Nun wirst du antworten: «Es handelt sich ja gar nicht darum, was ich fühle; ich bin sicher, dass Er Ihn liebt, aus dem einfachen Grund, weil Gottes Wort es sagt. Nicht was ich denke oder fühle zählt. Es ist eine Tatsache, darum glaube ich es.»

2. «Und hat alles in seine Hand gegeben»

«Nun», sagst du, «auch diese Tatsache glaube ich fest.»

Aber ist es so, weil du es fühlst, oder weil du alles in seiner Hand siehst?

«Nein», erwiderst du, «aber ich bin völlig überzeugt davon, weil Gott es erklärt hat.»

4. «Wer aber dem Sohn nicht glaubt, … auf ihm bleibt der Zorn Gottes»

Nun frage ich wiederum: Glaubst du auch diese Tatsache, nämlich, dass der Zorn Gottes auf dem Ungläubigen bleibt? Auch da wirst du vielleicht mit «ja» antworten. Angenommen aber, der Ungläubige fühlt es nicht? «Ah», entgegnest du, «der Zorn bleibt trotzdem auf ihm. Ob er es fühlt oder nicht fühlt, kann die Sache nicht wahr oder unwahr machen. Die uns mitgeteilte Tatsache Gottes steht fest, und «das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit» (Jes 40,8).

«Aber», sagst du «ich bin nicht ungläubig. Ich glaube wirklich an den Sohn Gottes.» Nun, so beachte Punkt 3, den ich vorhin absichtlich ausliess:

3. «Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben»

In Johannes 3,33 lesen wir: «Wer sein Zeugnis angenommen hat, hat besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.» Und denke daran, dass Gott nicht nur ein unmissverständliches Zeugnis über seinen geliebten Sohn gegeben, sondern immer wieder sehr klare Tatsachen festgestellt hat, die die betreffen, die wirklich an Ihn glauben.

«Wenn ich nur glauben könnte, dass ich errettet bin, dann wäre ich es auch!», sagte eines Tages eine geängstigte Frau, «aber ich habe noch nicht genug Glauben dazu.» So einleuchtend dies auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig entspricht es dem Evangelium. Gott sagt nicht: «Wenn du nur genug Glauben hast, um zu glauben, dass du ewiges Leben besitzest, dann hast du es.» Dann würden wir ja unseren Glauben zum Erlöser machen und Christus ausschliessen. Aber wenn du an den Sohn glaubst, stellt Gott in Bezug auf dich ganz einfach die Tatsache fest, dass du ewiges Leben hast und überlässt dir nur zu besiegeln, dass «Gott wahrhaftig ist».

Wenn Gottes Zorn auf dem bleibt, der nicht glaubt, ob er es fühlt oder nicht, so hat der, der wirklich glaubt, ewiges Leben, ob er das dazu passende Gefühl zu haben meint oder nicht.

Zwei Unmöglichkeiten

Aber ein beunruhigter Gläubiger sagt vielleicht: «Das ist gar nicht meine Schwierigkeit. Ich zweifle keinen Augenblick, dass der Gläubige heute schon das ewige Leben besitzt. Aber wenn ich meine täglichen Erfahrungen mit anderen klaren Wahrheiten in Gottes Wort vergleiche, so fange ich an zu befürchten, dass ich überhaupt nicht wiedergeboren bin. Im ersten Johannesbrief zum Beispiel stehen drei unmissverständlich festgestellte Tatsachen, hinsichtlich dessen, der «aus Gott geboren» ist, und ich kann keiner von ihnen entsprechen, wie sehr ich mich auch anstrenge:

  1. «Er tut nicht Sünde, … und er kann nicht sündigen» (1. Joh 3,9)
  2. «Er überwindet die Welt» (1. Joh 5,4)
  3. «Der Böse tastet ihn nicht an» (1. Joh 5,18)

Angesichts solcher Worte muss ich bekennen:

  1. dass ich sündigen kann, und leider auch Sünde tue;
  2. dass die Welt mich überwindet, statt dass ich sie überwinde;
  3. dass der Feind mich schon unzählige Male besiegt hat, – dass er mich also wirklich antastet.

«Ist es da erstaunlich», sagst du, «dass ich oft verlegen werde, ja voller Angst bin, wenn ich solche Worte meiner Erfahrung gegenüberstelle?»

Nein, in der Tat, es wundert mich nicht. Aber ich sage dir zum Trost, dass die, die «tot sind in ihren Sünden», diesen Konflikt nicht haben. Nur Bekehrte wünschen wirklich, den Gedanken und dem Willen Gottes zu entsprechen. Die Unbekehrten begehren nicht, seine Wege zu kennen, denn «es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen» (Röm 3,18).

Aber kehren wir zu unserem Problem zurück. Wir haben die eine Unmöglichkeit gesehen: «Wer aus Gott geboren ist, kann nicht sündigen.» Nun wollen wir aber auch die andere kennen lernen: «Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht. Die aber, die im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen» (Röm 8,7.8). Beachten wir folgende Gegensätze:

  • Einerseits «im Fleisch», «aus dem Fleisch geboren» und «vermögen Gott nicht zu gefallen».
  • Anderseits aber «aus Gott geboren» und «können nicht sündigen».

Wir müssen wissen, dass Gott im Wort in zwei Arten vom Fleisch spricht:

  1. Erstens wird unser physischer Körper «Fleisch» genannt. Zum Beispiel: «Gott wurde offenbart im Fleisch» (1. Tim 3,16). Und Paulus schrieb den Kolossern (Kol 2,1): «So viele mein Angesicht im Fleisch nicht gesehen haben.»
  2. Zweitens bedeutet «Fleisch» die böse oder gefallene Natur in jedem Nachkommen Adams, die vergiftet ist durch die innewohnende Sünde. Diese ist die wirkliche Quelle aller sündigen Handlungen: «Das Fleisch begehrt gegen den Geist» usw. (Gal 5,17).